zum Hauptinhalt
Cum laude. Angela Merkel redet über Protektionismus, Klimawandel, Lügen, Mauern – wer denkt da nicht sofort an Donald Trump?
© ]Foto: Steven Senne/dpa

Angela Merkel wird in den USA gefeiert: Dem Ende wohnt ein Zauber inne

In Harvard gilt Angela Merkel als „Anführerin der freien Welt“. In der Heimat hat sie diese Verehrung nie erfahren. Doch etwas ändert sich gerade.

Die Geehrte lässt ihre Zuhörer ein bisschen warten. Gut ein Drittel ihrer Rede ist bereits rum, als Angela Merkel den Gästen der Abschlussfeier in der Harvard-Universität endlich das gibt, wonach diese sich so sehr sehnen: Worte, die nicht nur mutig sind, sondern auch Mut machen, die dieses sehr spezielle Publikum aufrütteln und anspornen. Rund 7000 Studenten feiern an diesem Donnerstag mit Familien und Freunden, Professoren und Ehemaligen ihren Abschluss an der Eliteuniversität in der Ostküsten-Metropole Boston, insgesamt 20.000 Menschen hören Merkel an diesem Donnerstag zu.

Gerade hat die deutsche Kanzlerin die Ehrendoktorwürde entgegengenommen, jetzt steht sie im weinroten Talar auf der Ehrentribüne des Tercentary Theatre, der zentralen Rasenfläche auf dem Campus zwischen der Bibliothek und der Kirche der Universität. „Was fest gefügt und unveränderlich scheint, das kann sich ändern“, sagt Merkel.

Der Knick in den Beliebtheitskurven ist ausgebügelt

Man kann den Satz durchaus doppeldeutig finden – auch auf sich selbst gemünzt. Aber ihre Zuhörer deuten ihn wohl nur in ihre Richtung. Applaus brandet auf. Es ist, als stemme sich die liberale Elite Amerikas klatschend und jubelnd gegen das lähmende Gefühl von eigener Machtlosigkeit, das viele angesichts der Politik ihres Präsidenten empfinden. Dessen Namen erwähnt Merkel kein einziges Mal. Das ist auch nicht nötig. In den Augen dieses Publikums ist die deutsche Regierungschefin sowieso die leibhaftige Antithese zu Donald Trump. Als „die eigentliche Anführerin der freien Welt“ wird sie bei der Begrüßung vorgestellt. Soweit sich das aus ihrer Mimik schließen lässt, findet sie den Titel etwas übertrieben.

Tatsächlich muss es ein merkwürdiges Erlebnis sein: Die Frau, die zu Hause vor der Zeit den Parteivorsitz und also die halbe Macht abgeben musste, wird sechs Flugstunden weiter als Heldin gefeiert. Wobei ja auch in Deutschland neuerdings auffällig viele Leute gut von ihr reden. Der Knick in den Beliebtheitskurven ist ausgebügelt, die Kanzlerin rangiert wieder ganz weit vorn. Und darin spiegelt sich nicht etwa die Erleichterung, dass nach 14 Merkel-Jahren endlich mal ein Wechsel im Kanzleramt ansteht, sondern im Gegenteil eine neue Anhänglichkeit: Angela, bleib’ bitte bis 2021!

Das hat etwas mit der deutschen Abneigung gegen Veränderungen zu tun – zumal sich so schon genug ändert im Leben jedes Einzelnen. Es hat aber vor allem ganz logische, praktische Gründe. Merkel ist zwar noch im Amt, wird aber immer weniger als die wahrgenommen, die für die Zustände unter ihr verantwortlich ist.

Wenn ein blauschöpfiger Youtuber im Internet ein Millionenpublikum findet, weil er die CDU in Grund und Boden verdammt, dann richten sich alle Blicke auf die Parteivorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer. Merkels Büro im Konrad-Adenauer-Haus ist heute ein Konferenzzimmer. Im Wahlkampf bleibt sie unsichtbar. Dass einige in der Partei das inzwischen als Nachteil sehen – tja. Pech. Vorbei.

Kaum einer ruft mehr danach, sie solle etwas zur "Chefsache" machen

Sicher, zu Koalitionsgipfeln lädt weiter die Kanzlerin ein, ist aber, wenn man den spärlichen Hinweisen aus den Reihen der anderen Teilnehmer glauben darf, mehr Gast- und Hinweisgeberin denn Verhandlungsspitze. Nur im Kabinett läuft noch alles wie eh und je. Aber selbst aus dem Bundestag und wenn es um Regierungsdinge geht, selbst dann also werden die Rufe seltener, die Kanzlerin müsse dies oder jenes jetzt aber mal endlich zur Chefsache machen. Früher war das ein wirksamer Trick, um Merkel jeden Schnitzer der eigenen Truppe anzuhängen. Inzwischen verfehlt die Polemik ihr Ziel.

Umgekehrt ist noch kein Vorgang aktenkundig, an dem sich ein Lame-Duck-Verdacht festmachen ließe. Am Freitag geben sich, Merkel ist von der Ostküste der USA nach Berlin zurückgekehrt, US-Außenminister Mike Pompeo und Chinas Vizepräsident Wang Qishan die Klinke im Kanzleramt in die Hand. Am ehesten wäre Brüssel der Ort, an dem sich schwindender Einfluss der Frau registrieren ließe, die Europas Gipfelnächte mehr als ein Jahrzehnt lang geprägt hat. Aber Deutschland bleibt ein Machtfaktor, egal wer es vertritt.

Zurück in Berlin. Am Freitag empfing Merkel US-Außenminister Mike Pompeo.
Zurück in Berlin. Am Freitag empfing Merkel US-Außenminister Mike Pompeo.
© Reuters

Trotz alledem – vom Stand der Heiligsprechung ist sie daheim noch weit entfernt. Doch hier, jenseits des Atlantiks, findet sie zielsicher die Triggerpunkte, die ihre Zuhörer jubeln lassen. Etwa wenn sie davon spricht, dass Protektionismus „die Grundlagen unseres Wohlstands“ gefährde, dass der Klimawandel „von Menschen gemacht“ sei und man daher „alles Menschenmögliche“ unternehmen müsse, dass man Lügen nicht als Wahrheit und Wahrheit nicht als Lügen bezeichnen dürfe und dass Mauern einstürzen könnten.

Protektionismus, Klimawandel, Lügen, Mauern, wer denkt da nicht sofort an Donald Trump? Und auch ihr Wunsch, dass alle nicht immer den „ersten Impulsen folgen, sondern zwischendurch einen Moment innehalten, schweigen, nachdenken, Pause machen“, klingt in den Ohren der Zuhörer so, als ob sie diesen direkt adressiere.

Merkel, die überzeugte Transatlantikerin

Nun ist es aber auch so, dass sich Merkel das alles noch viel einfacher hätte machen können. Merkel, der Trumps Vorgänger Barack Obama 2011 die Freiheitsmedaille im Rosengarten des Weißen Hauses verliehen hat, eine Auszeichnung, auf die sie stolzer ist als auf die meisten anderen, die sie in ihrer jahrzehntelangen Karriere verliehen bekommen hat, wie es heißt. Merkel, die überzeugte Transatlantikerin, die in der Jugend von Amerika träumte und heute fest an Kompromisse, multilaterale Bündnisse und Verlässlichkeit glaubt, hätte Trump frontal angehen, ihn wegen seiner Politik und seiner Rhetorik scharf kritisieren können. Der Applaus wäre dann wohl noch donnernder zu hören gewesen, von Anfang an.

Aber so ist Merkel nicht. Sie kritisiert subtiler. Sie weiß ja auch, was auf dem Spiel steht, hat ihre Erfahrungen mit diesem Präsidenten gemacht. Wie 2018 beim G-7-Gipfel in Kanada, als Trump gekränkt von einer kritischen Bemerkung des kanadischen Premierministers Justin Trudeau den gerade gefundenen Konsens wieder aufkündigte. Trump unnötig zu reizen, schafft mehr Probleme, als es löst. In einem Interview mit dem US-Sender CNN vor wenigen Tagen hat sie betont, dass sie es als ihre Pflicht empfinde, als Regierungschefin Deutschlands immer das Gemeinsame mit den internationalen Partnern zu suchen.

Sie sagt, sie musste jeden Tag „im letzten Moment vor der Freiheit abbiegen“

Auch daher hat sich die Kanzlerin wohl entschieden, eine für ihre Verhältnisse ungewöhnlich persönliche Rede zu halten. Bei Amerikanern kommt das ohnehin gut an, sie lieben biografische Anekdoten. So erzählt Merkel von ihrem Aufwachsen auf der anderen Seite der Mauer, die ihr „buchstäblich im Wege“ stand, von ihrer Frustration, als sie jeden Tag „im letzten Moment vor der Freiheit abbiegen“ musste. Davon, wie sich dann auf einmal alles änderte, 1989, und sie „ins Offene gehen“ konnte. Und wie sie, die Wissenschaftlerin mit dem Doktortitel in Quantenphysik, sich dann entschied, in die Politik zu wechseln.

Rund 20.000 Menschen wollten Merkel in Harvard reden hören.
Rund 20.000 Menschen wollten Merkel in Harvard reden hören.
© Foto: Steven Senne/dpa

Von ganz ähnlichen Umbrüchen im Leben haben zuvor auch schon zwei Studentinnen auf der Tribüne erzählt, allerdings mit deutlich mehr Pathos, als die für ihre Nüchternheit bekannte Kanzlerin aufbringt. Genesis Noelia De Los Santos Fragoso aus der Dominikanischen Republik und Lucila Hanane Takjerad aus Algerien stehen für die Vielfalt, die nicht nur das liberale Ostküsten-Harvard, sondern das gesamte Land ausmacht. Sie berichten von den Chancen, die sich ihnen eröffnet haben, entgegen allen Erwartungen und Wahrscheinlichkeiten, und durch die sie nun hier in den USA, in Harvard gelandet sind, an einem Ort, an dem alles möglich scheint. Sie leben den amerikanischen Traum, den auch Angela Merkel vor Augen hatte.

Junge Frauen, die sich von ihr inspiriert fühlen

Dass diese „entgegen allen Erwartungen“ als erste Frau die Bundeskanzlerin der Deutschen wurde, ist auch etwas, das Pakhi Birla begeistert. Die 25-jährige Inderin hat gerade ihren Abschluss in Immunologie gemacht, ihre stolzen Eltern sind eigens für die große Feier aus Indore in Zentralindien eingeflogen, immerhin sei Harvard ja die beste Universität der Welt. „Angela Merkels Erfolge inspirieren mich, und auch, dass sie diesen wissenschaftlichen Hintergrund hat. Wie ich“, sagt Pakhi Birla. Dass Angela Dorothea Merkel, geborene Kastner, einmal diese Wirkung auf junge Frauen in der ganzen Welt haben würde, wird sie selbst wohl nicht für möglich gehalten haben.

Aber auch ältere Semester auf dem Campus geraten bei der Erwähnung der Kanzlerin fast ins Schwärmen. Evelyn Richmond zum Beispiel, die ihren Abschluss in Psychologie im Jahr 1941 gemacht hat und an diesem Donnerstag die Riege der Abschlussjahrgänge anführt. Am kommenden Montag wird sie 98, sie sitzt im Rollstuhl und hört ein bisschen schlecht, aber im Kopf ist sie klar. „Sie ist eine sehr, sehr wichtige Politikerin und hat vieles richtig gemacht“, sagt die alte Dame über die 33 Jahre jüngere Kanzlerin. „Ich will wissen, wie sie als Mensch ist und was sie uns zu sagen hat.“ Den eigenen Präsidenten erträgt Richmond kaum, ihr geht es wie vielen Demokraten, die Donald Trump sofort gegen Angela Merkel eintauschen würden.

Absolventen des 368. Harvard-Jahrgangs feiern ihren Abschluss. Vor Merkel sprachen bereits die deutschen Kanzler Konrad Adenauer, Helmut Schmidt und Helmut Kohl an der Elite-Uni.
Absolventen des 368. Harvard-Jahrgangs feiern ihren Abschluss. Vor Merkel sprachen bereits die deutschen Kanzler Konrad Adenauer, Helmut Schmidt und Helmut Kohl an der Elite-Uni.
© Steven Senne/dpa

Als die altehrwürdige Universität Ende vergangenen Jahres die Rednerin der 368. Commencement ankündigte – auch Konrad Adenauer, Helmut Schmidt und Helmut Kohl hatten dort gesprochen –, geschah dies mit einem Hollywood-ähnlichen Video: Unterlegt mit dramatischer Musik wurde Angela Merkel als eine Legende gefeiert, als ein Symbol der Freiheit. Zu Hause in der Heimat hatte ihr Ansehen da bereits gelitten, als Folge ihres Handelns in der Flüchtlingskrise von 2015. Auch ihren schrittweisen Ausstieg aus der Politik hatte Merkel zu dem Zeitpunkt bereits beschlossen. Genau dieses Handeln war es jetzt aber, das die Uni als Begründung anführte, warum Merkel sich einen Ehrendoktortitel verdient hat: Der Satz „Wir schaffen das“ habe ihre vierte Amtszeit geprägt. Die Entscheidung, in großer Zahl Flüchtlinge ins Land zu lassen, habe ihren Willen gezeigt, für das einzustehen, was sie für richtig halte, auch wenn dies unpopulär sei, heißt es.

Sie spricht vom „Loslassen des Alten"

Wenn es nach den Tausenden Gästen in Harvard ginge, müsste sie noch lange weitermachen, noch eine Amtszeit, noch einmal den Traum der freien, liberalen Weltgesellschaft verkörpern. Aber Merkel hat schon immer in Prozessen gedacht: Das Leben und die Geschichte sind nichts Statisches, alles fließt – umso klarer muss jeder für sich Endpunkte setzen. Vom „Loslassen des Alten“ erzählt sie in Boston und von dem, was danach kommt.

„Ich glaube, dass wir immer wieder bereit sein müssen, Dinge zu beenden, um den Zauber des Anfangens zu spüren und Chancen wirklich zu nutzen“, sagt sie. Das sei ihre Erfahrung im Studium, in der Wissenschaft und in der Politik gewesen. „Und wer weiß, was für mich nach dem Leben als Politikerin folgt. Es ist völlig offen. Nur eines ist klar: Es wird wieder etwas Anderes und Neues sein.“

Angela Merkel könnte also demnächst sogar sich selber überraschen. Ganz zu Beginn ihrer Rede hat sie Hermann Hesse zitiert. Den kennt man in der gebildeten, bis heute stark europäisch geprägten Ostküsten-Gesellschaft: „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.“ Jedem Ende, wenn man es nur klug anstellt, womöglich auch.

Zur Startseite