Zwei Jahre nach Anschlag am Breitscheidplatz: Das Ringen um die richtige Form des Gedenkens
Was ist zu wenig? Was zu viel zum Gedenken an die Opfer vom Breitscheidplatz? Der eine will die Glocken nicht läuten, die andere fordert einen Volkstrauertag.
Die Spuren, die das einschneidendste Ereignis in seiner Zeit als Pfarrer hinterlassen hat, sind fein, aber von Dauer. Seit jenem Abend vor zwei Jahren, als um 20 Uhr 02 ein Attentäter einen geklauten Lkw in die Weihnachtsbuden direkt vor seiner Kirche lenkte, schießen Martin Germer öfter die Tränen in die Augen. Das ist nichts Gravierendes, aber er ist merklich schneller gerührt. „Ich war ja nicht selbst Zeuge an dem Abend, habe keine Toten oder Schwerverletzten gesehen.“ Aber jemand sagte ihm, dass das auch ein Symptom einer Sekundärtraumatisierung sein kann.
Wenn der Berliner Breitscheidplatz einen Hausherrn hat, dann ist das Pfarrer Germer. Er öffnet die Türen seiner Gedächtniskirche, rahmt die Gegenwart in einer Predigt und lässt die Glocken läuten. Wenn er etwas Abstand haben will für ein Gespräch, geht er gegenüber ins Steakhaus, schiebt die gezahnten Steakmesser beiseite und bestellt einen Latte Macchiato. Es hat sich etwas verschoben in den zwei Jahren, seit dem Anschlag auf seinem Platz. Mit Abstand kann er sagen: Nicht nur auf dem Platz, wo heute zu Füßen aller ein goldener Riss an das Ereignis erinnert, nicht nur bei den Opfern und Hinterbliebenen, sondern auch bei ihm selbst.
Es ist zwei Jahre her, und noch immer, oder besser: Schon wieder ringen alle um die angemessene Form der Gedenkfeier, um den richtigen Umgang mit den Angehörigen. Was ist zu wenig? Was wäre zu viel?
Ein Bedürfnis nach Normalisierung
Vor einem Jahr, da war ein großes Zeichen notwendig. Die Angehörigen hatten einen bitteren, offenen Brief an die Bundeskanzlerin verfasst, nachdem den Behörden befremdliche Pannen unterlaufen waren. Der erste Gedenkgottesdienst hatte nicht genug geleistet. Schließlich wurde er schon am zweiten Tag nach dem Anschlag abgehalten, da wussten die Hinterbliebenen noch gar nicht, dass auch sie von nun an Hinterbliebene waren. Es musste dringend noch eine Lücke geschlossen, etwas zum Abschluss gebracht werden. Der „Riss“ füllte eine Fuge. Beeindruckendes Schweigen. Der Markt gedimmt, verstummt. Zwölf Minuten lang nur Glockengeläut, für jeden Toten eine. Und nun?
Draußen bilden der Markt, der Kirchturm und die neuen, funkelnden Hochhäuser mit ihren erleuchteten Fenstern eine perfekte Postkartenallianz, ein glitzerndes Panorama, in dem sich die Buden an die Kirche zu lehnen scheinen. Hier oben im Restaurant Stille. Kein Verkehrslärm, keine Musik.
Der „Riss“ macht sich gut, sagt Germer. Das ganze Jahr über haben an den Stufen mit den Namen der zwölf Getöteten Kerzen gebrannt und Blumen gestanden. Noch immer ist ein Gärtner für die Pflege verantwortlich, der dafür sorgt, dass hier kein Kompost entsteht. Bei jeder Führung in seiner Kirche wird nach dem Mahnmal und seinem Anlass gefragt, ausnahmslos alle Gastprediger hatten im letzten Jahr das Bedürfnis, sich darauf zu beziehen. „Wenn ich das gemacht hätte, hätte man gedacht, der hat da etwas nicht ordentlich verarbeitet.“
In diesem Jahr ist das Bedürfnis nach Normalisierung zu erkennen. Morgens um zehn werden Kränze niedergelegt. Die Gedenkandacht wird in die normale Andacht integriert, die immer um 18 Uhr stattfindet.
Ein Jahr Untersuchungsausschuss
Astrid Passin, die Sprecherin der Hinterbliebenen, hatte sich etwas Größeres gewünscht. Das Schweigen des Marktes, Stille, noch einmal zwölf Minuten lang Glockengeläut, für jeden Toten eine.
Doch das Läuten der Glocken ist Martin Germers stärkstes Mittel. „Die großen Inszenierungen nutzen sich ab“, fürchtet er. Was mache man dann im nächsten Jahr und im Jahr darauf? Und was bei einem möglichen weiteren Anschlag?
In einem Trauerprozess haben die Dinge ihre Zeit. Die akute Phase ist vorbei. Man solle sich nicht an Dinge klammern. Ich wünschte mir, schrieb Germer Astrid Passin, Sie könnten sehen, dass auch das, was hier das ganze Jahr über am Mahnmal passiert, echte Anteilnahme ist.
Jahrestage gehorchen eigenen Regeln. Ende November, kurz vor dem zweiten Jahrestag des Anschlags, würdigt man auch das erste Jahr des Untersuchungsausschusses im Abgeordnetenhaus. Die Grünen laden ein. Der rote Teppich ist nicht extra für die Opfer und Hinterbliebenen ausgelegt worden, er liegt ja ständig auf den Treppen. Und doch: Der Untersuchungsausschuss ist auch eine Form der Wertschätzung für die Opfer. Er zeigt den Willen, Fehler zu finden. Sie nicht zu wiederholen. Antworten zu finden, auf die die Hinterbliebenen noch warten.
Die Angehörige wird zur Opferbeauftragten
Es ist der erste Untersuchungsausschuss seit langem, er hatte in seinem ersten Jahr 23 Sitzungen. Auf dem Podium: Benedikt Lux von den Grünen, „wir sind ungefähr in der Halbzeit. Es ist noch viel Arbeit zu leisten“.
Im Publikum ist allen geläufig, dass Anis Amri am 18.2.2016 mit einem Flixbus von NRW nach Berlin kam. Sie begreifen nicht, warum Bilel B., ein Bekannter Amris, den der noch am Abend vor dem Anschlag traf, so merkwürdig rasant ausgewiesen wurde. Nur sechs Wochen nach dem Anschlag. Er hätte eine echte Informationsquelle sein können. Schmerzhaft, die Betroffenen zu sehen. Gequält von Ungewissheit. Was wäre wenn? Aber selbst, wenn alle Antworten vorlägen – was würde das lösen?
Auf dem Podium sitzt die Sicht der Opfer in Gestalt von Astrid Passin, die bei dem Anschlag ihren Vater verlor. Bekannt geworden, weil sie in der Gruppe der Hinterbliebenen eine Sprecherrolle angenommen hat. Sie besucht regelmäßig die Sitzungen des Untersuchungsausschuss, vergleicht international Trauerkulturen, reiste zum ersten Jahrestag des Attentats von Nizza.
Astrid Passin sagt, „dass Weihnachten für uns eigentlich nicht mehr existieren kann“. Sie sagt: „In Nizza war die Promenade ein ganzes Jahr lang Trauerzone.“ Sie sagt: „In Israel kriegen Terroropfer die Wertschätzung von Soldaten.“ Sie wünsche sich einen Gedenktag für Terroropfer, eine Art „Volkstrauertag“. Sie überlegt sich, mit wem sie für dieses Anliegen sprechen muss. „ Es ist wirklich verrückt, um welche Dinge man sich hier kümmern muss“, sagt sie. „Ich bin ja selbst fast eine Opferbeauftragte.“
DIE Opfer gibt es ja gar nicht
Soldaten? Wenn Astrid Passin recht hat, wären wir alle mögliche Soldaten in einem Krieg gegen den Islamismus. Ist die Vorstellung, dass wir alle in einem Krieg sind, hilfreich?
Und warum gibt sie dem so viel Raum? Weil sie noch immer so viel „unerträglich“ findet. Dem will sie abhelfen.
Auch, wenn es durch den gemeinsamen offenen Brief der Angehörigen an die Bundeskanzlerin im letzten Jahr so aussah: Es gibt ja nicht d i e Opfer. Die eine Sicht „der“ Opfer. Es gibt ganz verschiedene Arten, mit einem Trauma umzugehen. Möglich, dass Astrid Passin zu viel verlangt. Viele aus der Gruppe sind sehr froh, dass sie das alles macht. Dass eine von ihnen es auf sich nimmt. Dass sie für sie spricht und ihre Interessen vertritt. Weil sie es selbst nicht können. Oder auch nicht wollen.
Am Montag um acht Uhr früh in der Traumaambulanz der Charité im St.-Hedwig-Krankenhaus, im Büro unter einer Dachschräge sagt Kathlen Priebe: „Rigide Bewältigungsstrategien sind nicht hilfreich. Weder in die eine noch in die andere Richtung.“ Priebe leitet die Traumatherapie.
Wer sich zu viel mit dem Thema beschäftigt, vernachlässigt andere Themen im Leben, lebt sein Leben nicht weiter. Aber kommt jemand mit dem Anliegen zu ihr „dieses Kapitel will ich jetzt endlich komplett abschließen“, wird sie hellhörig. „Da sehe ich schon die Vermeidung um die Ecke laufen.“
Kathlen Priebe behandelt Menschen nach Banküberfällen, Arbeitsunfällen, Raubüberfällen, Vergewaltigungen, aber auch Lokführer und U-Bahnfahrer, vor deren Zug sich jemand geworfen hat. Hier haben sie nach dem Anschlag vom Breitscheidplatz drei Dutzend Menschen geholfen. Tun es noch. Zuerst kamen die Leichtverletzten und Zeugen. Die Schwerverletzten und Ersthelfer etwas später. Es waren Leute, die sich taub fühlten und Leute, die im Dunkeln nicht mehr rausgingen.
Sie gehen nicht mehr im Dunkeln raus
Viele Betroffene bemerken an sich selbst das, was Therapeuten ein „Sicherheitsverhalten“ nennen: Sie beobachten ständig ihre Umgebung, setzen sich in der S-Bahn nicht hin, sondern stehen in der Tür. Doch so verringert sich das Bedrohungsgefühl nicht. „So ein Verhalten stärkt die Annahme, die Umgebung sei gefährlich.“
Das Leben in vollen Zügen genießen – das können viele nach so einer Erfahrung nicht mehr. Tatsächlich fiele es ihnen in leeren Zügen leichter.
Es könne durchaus sein, dass noch immer Betroffene erst jetzt merken, dass sie Hilfe brauchen. Die sollen sich unbedingt melden. „Auch zwei Jahre nach dem Ereignis können wir ihnen gut helfen und sie darin unterstützen, zurück in ihr Leben zu finden.“ Zuletzt ist in diesem Jahr im April ein Mann zu ihr gekommen, der sich dabei beobachtete, Menschenmengen zu meiden, Konzerte und Fußballstadien. Auf der Straße sah er sich um, so bedroht fühlt er sich. Er hat sich dabei ertappt, schnell zu urteilen und das zunehmend rassistisch. In südliche Länder reist er nicht mehr.
Auf ein außergewöhnliches Ereignis reagierten die Menschen sehr unterschiedlich. Einige mit Angst, andere eher mit Traurigkeit oder auch Wut, sagt Priebe. Aber auch Gefühle von Taubheit und ein Unwirklichkeitsgefühl sind nicht selten. Bei den meisten nehmen diese anfänglichen Reaktionen über einen Zeitraum von zwei Wochen bis zwei Monaten kontinuierlich ab. Etwa zehn Prozent „bleiben in einem Gefühl der Bedrohung stecken“ und entwickeln eine Posttraumatische Belastungsstörung.
Die Händler konnten nicht schließen
2016 wurde der Anschlag als Höhepunkt einer Serie gesehen: Bataclan, Brüssel, Nizza, München. Das Brandenburger Tor leuchtete in den Farben der betroffenen Länder. „Das Gefühl der Bedrohung fiel auf fruchtbaren Boden.“ Dort konnte es sich ausbreiten und festsetzen. „Es ist richtig und gut, dass man die Art und Weise des Gedenkens sorgfältig überlegt.“ Häufig ist das ein schmaler Grat. Denn „macht man zu wenig, fehlt die Würdigung. Macht man zu viel, kann es ein neuer Auslösereiz für Belastungen sein.“
Die Händler am Breitscheidplatz jedenfalls hatten damals kaum eine Wahl. Gleiches Setting, gleiche Musik, neue Bude zwangsläufig. Konfrontationstherapie nach drei Tagen. „Wir konnten ja nicht schließen“, sagt Peter Müller, Familienunternehmen, fünfte Generation. Dicht machen stand nicht zur Wahl. „Die Parole war damals ja: am Ball bleiben. Wir machen weiter und lassen uns nicht unterkriegen.“
Müller hat drei Holzhütten, er selbst ist meist im „Sternenzauber“, sein Sohn im „Strammen Max“, von 10 bis 22 Uhr. Der Weihnachtsmarkt war 2016 die letzte Veranstaltung, dann retteten sie sich in die Winterpause. Zwei, drei Monate habe sein Sohn, der mehr gesehen hatte, als er selbst, „richtig feste dran geknabbert“. Auch der erste Markt danach, war noch komisch „mulmig“. Jeder habe dann sehen müssen, wie er auf Dauer damit klarkam. Müller weiß von keinem, der nicht wiedergekommen wäre.
Die Poller sind das eigentliche Denkmal
„Normalbetrieb“ meldet er nun. Das, was von außen wie eine Festung wirkt, dieser Weihnachtsmarkt hinter Stahlgitter, hat innen einen völlig unerwarteten Nebeneffekt: Die Barriere aus Sandsäcken in den Gitterkörben dämpft auch den Verkehrslärm. Die Atmosphäre ist entspannter: „Man hört die Musik besser.“ Man kann auch sagen, es waren 2,6 Millionen Euro, die für ein neues Akustik-Konzept ausgegeben wurden.
Die zusätzlichen Poller erhöhen vielleicht das Gefühl von Sicherheit, reduzieren aber auch das Gefühl der Normalität. Die Poller mit dem Aufdruck „Truckstop“ sind das eigentliche Denkmal geworden: So sichtbar, jeder denkt mal ganz unwillkürlich an den Anschlag.
In Ueckermünde wird eine Woche vor dem Jahrestag mit einem festen „Herrlich“ das Telefon abgenommen. Es ist zwei Jahre her, dass Frederike Herrlichs Sohn starb. Es ist ein Jahr her, dass sie am „Riss“ stand und etwas von ihr mitgeschmolzen ist in der heißen Bronze des Kunstwerks. All das ist jetzt nicht weg, aber anders.
Es war ein Jahr, in dem sich neue Perspektiven aufgetan haben. Ein Gesellschaftsspiel, das sie vor Jahren entwickelt hat, stößt plötzlich auf Interesse. Es gab noch einmal etwas Geld im Sommer, Opferentschädigung, das hat es auch leichter gemacht. Bei einer Veranstaltung für Gewaltopfer in Dresden bemerkte sie, dass andere die Hinterbliebenengruppe um den Breitscheidplatz beneiden: Um ihre Resonanz, die Höhe der Entschädigungen, das gesellschaftliche Gehör. Verglichen mit anderen kümmerte man sich jetzt sehr um sie. Und dann wurde ihre erste Enkeltochter geboren. Kurz vor dem Jahrestag sind die Eltern mit ihr in Deutschland – und sie kann sie sehen.
Weihnachten ist ihr zu wichtig. Sie will es sich nicht nehmen lassen
Noch immer gibt es die Whats-App-Gruppe der Hinterbliebenen, die aus etwa 40 Personen besteht. Sie sind gut vernetzt. Das tut ihr gut. Frederike Herrlich ist Astrid Passin dankbar, dass sie sich so engagiert, ihre Interessen vertritt. Aber sie selbst könnte das nicht. Will auch nicht, dass es wo wichtig wird in ihrem Leben. Ihr ist Weihnachten viel zu wertvoll, als dass sie es sich dauerhaft von diesem Amri zerstören lassen wollte. Abstand zu gewinnen ist keine Missachtung der Toten, sondern eine Rückkehr ins Leben.
Zur Gedenkfeier am heutigen Mittwoch kommt sie nicht. Nicht, weil sie es nicht aushielte. Nicht, weil irgendetwas mit der Zeremonie nicht stimmte. Aus dem besten aller Gründe: Weil ihr Leben weitergeht. Das will sie nicht verpassen.
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