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Flatterband und flatternde Nerven.
© Lukas Schulze/dpa

Welle der Gewalt: Reise ins Ungewisse

Attentate, Amok, Gewalt – was macht das mit einem Land, wenn plötzlich der Terror zum Alltag gehört? Ein Besuch bei Menschen, die es wissen könnten: in Berlin, Ochsenfurt und München.

Auf deutschem Boden, wie man jetzt so sagt, dort, wo in den letzten Wochen zum ersten Mal islamistische Anschläge geschahen, auf diesem Boden wachsen der Mais, das Gras und das Korn, als wüssten sie von nichts. Es sind große Ferien. Die Bahn wünscht eine angenehme Reise.

Doch niemand weiß genau, wo die Reise hingeht mit diesem Land in diesem gewaltigen Sommer. Denn auf den Vierertischen im ICE, Tempo 200 Richtung Süden, liegen die Zeitungen, voll mit den Anschlägen der letzten Tage: Mord in einer französischen Kirche, Neues aus Ansbach, Bilder aus Würzburg und München. Ein Berliner Patient hat noch seinen Arzt erschossen. Die Eindrücke vom Anschlag in Nizza waren noch nicht verblasst, da spannte die Polizei ihr Flatterband auch in deutschen Städten. Flattern tun jetzt auch die Nerven.

Seit der Silvesternacht in Köln wird mehr Pfefferspray verkauft. Die Deutschen melden häufiger verdächtige Gegenstände. Aber was in den vergangenen zwei Wochen geschah, waren einzelne Taten, die sich plötzlich wie ein Rundumschlag anfühlten. Das Bedrohlichste daran ist der Effekt ihrer Summe. Da verbanden sich Dinge, die nicht zusammengehören, zu einer diffusen Bedrohung, bis die Kanzlerin ihren Urlaub abbrach, um in Berlin zur Nation zu sprechen.

Fahrstuhl fahren mit Sicherheitspersonal

Plötzlich scheint es ewig her, dass die wichtigste Sorge der Deutschen die kalte Progression war. Ist das jetzt der Beginn von etwas Neuem? Oder das Ende der alten Ordnung? Was macht es mit einem, wenn man ständig eine Bedrohung erwartet? Ist Gewöhnung überhaupt möglich? Und von wem kann man lernen?

Wenn man wissen will, ob sich etwas verändert hat in Deutschland, muss man Leute treffen, die sich mit der Bedrohung auskennen, mit dem Land und der Seele des Menschen. Beginnen kann man in Berlins sichtbarstem Bollwerk gegen eine latente Gefahr, der Synagoge in der Oranienburger Straße, wo Bedrohung längst verinnerlicht ist, weil „es“ immer passieren kann.

Um die Direktorin des Centrum Judaicum zu besuchen, müssen die Gäste an einer Reihe eiserner Pollen vorbei, einen Fahrradweg queren, noch mehr Poller passieren und vor dem Eingang warten. Sie müssen eine Taschenkontrolle hinter sich bringen und in Begleitung eines Sicherheitsmannes Fahrstuhl fahren. Die deutsche Historikerin Anja Siegemund sitzt in ihrem Direktorinnenzimmer im ersten Stock in einem Erker auf gelb gepolsterten Stühlen, die die Abendsonne zum Strahlen bringt.

Als Anja Siegemund im vergangenen Jahr nach über 13 Jahren aus Israel nach Deutschland zurückkehrte, saß der angelernte Reflex noch tief. In der Berliner S-Bahn hatte sie plötzlich den Impuls, ihre Tasche zur Kontrolle vorzuzeigen. Sie lacht darüber, wie tief da etwas eingesunken ist. „Keine Ahnung, ob solche ständigen Kontrollen Käse sind, aber sie beruhigen.“ Und ihr Lachen hat eine neue Note, denn vielleicht wird es demnächst in Deutschland ähnlich sein. Kann man sich für so eine Situation wappnen?

Im Zweifel kommt ein kleiner Roboter

Anja Siegemund musste, als sie 1996 an die Uni nach Haifa ging, ihrer Mutter versprechen, keinen Bus zu benutzen. „Das habe ich dann auch Jahre lang durchgehalten.“ Nicht, dass alle Anschläge in Bussen passiert wären, aber sie wollte ein Risiko ausschließen. „Die Buslinie 37 zur Uni ist dann tatsächlich einmal Ort eines Anschlags geworden.“ Siegemund gewöhnte sich an die Routine, dass eine Haltestelle wegen eines einsamen Gepäckstücks geräumt wurde, und daran, dass meistens nichts war. „Im Zweifelsfall kam ein kleiner Roboter“, der machte das Stück unschädlich. Und weil man für einen Anschlag keinen Rucksack braucht, hat sie immer geschaut, ob jemand in ihrer Umgebung merkwürdig dick angezogen war. „Rationalisierungen haben lange geholfen.“ Denn es war rechnerisch unwahrscheinlich, Opfer eines Anschlags zu werden.

Sie studierte, verliebte sich und lebte gerne in Israel, trotz allem. Denn zugleich fiel ihr noch etwas auf: „Der Umgang der Leute miteinander ist unmittelbarer.“ Über alle Differenzen hinweg gebe es eine Art Grundverständnis für den anderen. Es würde sie nicht wundern, wenn dies auch eine direkte Folge der Bedrohung ist.

Ist es etwa möglich, dass erschreckende Erfahrungen eine Gesellschaft zusammenschweißen?

Der ICE voller Sommerferienfamilien saust Richtung Süden, wo die Windräder weniger und die Solardächer zahlreicher werden. Erfurt, Fulda, Würzburg. Felder zu Weinbergen. In der Regionalbahn nach Ochsenfurt spendiert ein Mann einem Schwarzfahrer eine Fahrkarte, „einfach so“. Und in der Fachwerkaltstadt Ochsenfurts ist nichts ferner als die Berliner Aufgeregtheit. Wasserspeier. Heiligenfiguren in den Hausecken. Frauen schlenkern mit den Einkaufstüten. Es ist ein ständiges Grüßen und Nicken, mit dem die Menschen durch die Straßen gehen, die hier Gassen sind.

In Ochsenfurt "schnell mal dem lieben Gott Hallo sagen"

Als Riaz Khan Ahmadzai am Montag, den 18. Juli, in einem Regionalzug nach Würzburg eine asiatische Familie mit einer Axt angriff, hatte er fünf Menschen schwer verletzt, bevor ihn die Polizei auf der Flucht erschoss. Er hatte über ein Jahr in einem Kolpingheim in Ochsenfurt gelebt, bevor er in eine Pflegefamilie nach Graukönigshofen zog.

Der akute „Belagerungszustand“ Ochsenfurts ist vorbei, die Polizisten und die internationalen Kamerateams sind wieder abgezogen. Der Stadtpfarrer Oswald Sternagel hat vor der Behandlung eines ganz normalen Trauerfalls ein paar Minuten Zeit für ein Telefonat. Verunglimpfungen erreichen ihn seit der Attacke schriftlich per Post im Pfarramt. Das ist neu und eines Inhalts, den Sternagel am Telefon nicht wiederholen möchte. Darin zeigt sich die Wut der Rechten, die nun alle vermuteten Flüchtlingshelfer geißeln. Aggression führt zu Aggression.

Pfarrer Sternagel hat am vergangenen Sonntag alle Leute, die jetzt Angst haben, in seine Fürbitten mit eingeschlossen. Da ging es noch um das Axtattentat. Am Dienstag dann hatten Attentäter einem 85-jährigen Pfarrer in Frankreich die Kehle durchgeschnitten, und nun ist auch er selbst betroffen. „Bisher hatte man den Eindruck, die Angriffe seien wahllos, jetzt ist zum ersten Mal direkt eine Kirche angegriffen worden, es geht direkt gegen Christen.“

Nun muss niemand in Ochsenfurt die Kirchentüren abschließen, weil in Frankreich ein Geistlicher ermordet wird. Und doch ist ihm der Wert seiner offenen Stadt jetzt sehr bewusst geworden, wo die Frauen nach ihrem Einkauf „schnell mal dem lieben Gott Hallo sagen“. Es ist nun eingetreten, was Oswald Sternagel „den Ernstfall des Glaubens“ nennt. „Wir können ja nicht hinter den Kern unseres Glaubens zurück – wir können nicht sagen ,liebt einander’, und dann einige davon ausnehmen.“ An den eigenen Maßstäben festzuhalten, das ist jetzt die Aufgabe. Dann muss er auflegen. Der Trauerfall.

Stattdessen tritt Simone Barrientos nach vielen Tagen zum ersten Mal wieder aus ihrem Haus. „Es setzt sich jetzt alles langsam“, sagt die Verlegerin, Linken-Politikerin und Flüchtlingshelferin. Sie hat viel geredet in den letzten Tagen. Sogar Zeitung und Fernsehen aus Hongkong, wo die attackierte Familie herkommt, waren da. Den Attentäter kannte sie vom Sehen, auf der Straße haben sie sich gegrüßt. Und wenn sie nun ihren schwarzen Hund Gassi führt, dann gucken die Leute. Das ist aber nicht neu, denn Simone Barrientos ist eine auffallende Frau mit offenen, langen braunen Haaren und rauchiger Stimme in bunten, selbst genähten Kleidern. Ochsenfurt, sagt sie, ist ein besonderer Ort.

Die Toilettenfrau spendet 20 Euro für Flüchtlinge

Barrientos hat es mit ihrem Partner, dem Schriftsteller Leander Sukov, vor zwei Jahren von Berlin Kreuzberg nach Ochsenfurt verschlagen, wo sie in einem historischen gelben Haus ihren Verlag „Kulturmaschinen“ leitet. Als vor gut einem Jahr klar war, dass Flüchtlinge kommen würden, unbegleitet und minderjährig, da hat der Bürgermeister eine Versammlung einberufen, aus der heraus sich schnell der Helferkreis gegründet hat. 200 Freiwillige kommen auf etwa 200 Flüchtlinge. „Wo eine Lücke ist, gründet sich ein Verein und springt ein.“ Und dann geht’s los. So sei das hier. Sie haben dann viele Flüchtlinge vorbildlich integriert, einige wohnen in Pflegefamilien. Ihr ist wichtig, dass diese Leistung mit der Tat eines verrückt Gewordenen jetzt nicht entwertet wird.

Der Hund flitzt los Richtung Main, der Sommerwind fächelt um die Beine. Nur, dass Simone Barrientos, die sich so lange um andere sorgte, nun selbst das Gefühl hat, sich „aus der Schusslinie“ bringen zu müssen. Seit der Attacke im Zug erhält auch sie Anfeindungen. Ein halber Tag ging drauf, ein Fakeprofil auf Facebook entfernen zu lassen.

Doch wenn sie durch die Stadt läuft, erntet sie viel Zustimmung. „Wir denken doch alle das Gleiche“, ruft der Gemüseverkäufer. „Da steckt man nicht drin in so einer Person.“ Aus einem Fenster lehnt eine ältere Frau, ruft „warte mal kurz“, dann wirft sie von oben einen Zwanzig-Euro-Schein hinab. Eine Spende für ihre Flüchtlinge. „Das war die Klofrau von Ochsenfurt“, sagt Barrientos. Sie kümmert sich bei großen Veranstaltungen immer um die Toiletten, 20 Euro sind viel Geld für sie.

Das mulmige Gefühl sei nicht von Dauer, sagt Barrientos. Sind wir nicht alle, nachdem ein Germanwings-Pilot seine voll besetzte Maschine vor eine Felswand gesteuert hatte, mit genau diesem Gefühl in die Flugzeuge gestiegen? Nie wieder würde man Piloten vertrauen können, hieß es. Aber das Gefühl ist heute fast völlig verschwunden. „Und das hier geht auch wieder weg.“

Und so kann man ohne Sorgen wieder in den Zug steigen. Jedenfalls ohne Sorgen um Ochsenfurt. Aber vielleicht ist das in München anders, wo der Amokläufer am Olympia-Einkaufszentrum neun Menschen und dann sich selbst erschoss?

Die Schaffnerin im Regionalzug nach Würzburg ist extra freundlich, als wolle sie einen für Anwesenheit loben. Richtung München verzwiebeln die Kirchtürme. Doch die Veränderungen in den Köpfen kann man nicht sehen, indem man aus einem Zugfenster blickt. Sie finden im Innern statt.

Dort flackern noch die Bilder vom Freitag vergangener Woche, als David S. Amok lief. Die Münchner erlebten ihre Stadt im Ausnahmezustand, die Ärzte rückten in die Krankenhäuser ein, Polizisten, noch in Flip-Flops, schnallten ihre Sicherheitswesten um.

Das ist nun eine Woche her. Im gepflegten Schwabing in der Kaiserstraße steht das Haus der „Arbeitsgemeinschaft für Verhaltensmodifikation“ (AVM), ein Therapieausbildungsinstitut, in dem der Traumatherapeut Markos Maragkos arbeitet. Auf seine Art ist auch er zuständig für innere Sicherheit im Land. Maragkos wurde noch als Nizza-Experte gehandelt, da saß er schon in einem Fernsehstudio in der „Münchner Runde“ und sprach zum Axtangriff von Würzburg. Neben ihm der bayerische Innenminister Joachim Herrmann, gegenüber Simone Barrientos.

„München war so eine Art Paradies. Jetzt gibt es ein Element der Befleckung“, sagt Maragkos in seinem aufgeräumten Besprechungszimmer. Das Schreckliche an diesen gehäuft auftretenden Attentaten ist: „Nun sind viele gezwungen, sich die Frage zu stellen: Kann es mich auch treffen?“ Paradoxerweise, sagt Maragkos, mache es das Unspezifische der Attacken viel einfacher, den Anschlag auch auf sich selbst zu beziehen. „Das könnte ich sein“, denkt man.

Wirklichkeit ist, was wirkt

Aber die Polizei habe mit der schnellen Abriegelung der Stadt gezeigt: Die Guten übernehmen die Kontrolle. „Sie stoppten damit den Bedrohungsprozess des Amokläufers und haben die Bürger mit eingebunden, sie dirigiert: Helft nicht mit Bildern den Tätern. Tut dies. Tut das. So hat sie die Bevölkerung zu ihren Verbündeten gemacht.“ Davon kann man lernen. „Es kostet viel psychische Energie, etwas Schreckliches zu erleben und trotzdem eine offene Gesinnung zu behalten“, sagt Maragkos. Es ist die Arbeit, die unsere Gesellschaft jetzt vor sich hat.

Vor allem die Reaktionen der Münchner haben den Psychologen beeindruckt. Denn sie haben ihre Sicherheit nicht nur delegiert, sondern selbst gehandelt. Unter dem Hashtag #offenetuer boten sie ihre Wohnungen Fremden an, die in der abgeriegelten Stadt nicht nach Hause kamen. „Die Polizei sagte: Wir machen die Straßen dicht. Die Menschen sagen: Kein Problem, mein Zuhause ist euer Zuhause. Das System passt sich an.“ Maragkos berühren diese menschlichen Grundprinzipien. „Wir sind als Menschen in der Lage, uns aneinander zu binden.“ Diese Prozesse müsse man jetzt fördern.

Vielleicht war der Freitag vergangener Woche Münchens Tel-Aviv-Moment. Und vielleicht meinte Anja Siegemund in Berlin das mit der besonderen Unmittelbarkeit, die sie von Israel schwärmen ließ. Die ständig abrufbare Grundverbindung, die von Mensch zu Mensch besteht. „Wir müssten jetzt signalisieren“, sagt Maragkos, „dass etwas Warmes, Helfendes in uns schlummert.“

Dann fällt die Tür ins Schloss. Draußen liegt Schwabing. Ein lauer Abend steht bevor mit der gewaltigen Sogwirkung, die ein Münchner Sommerabend entfalten kann. Die Menschen sitzen in Gruppen vor den Museen im Gras. An jeder zweiten Straßenecke schaut eine Person erwartungsfroh, gleich wird ihre Verabredung erscheinen. Fahrräder rollen wie von selbst Richtung Isar. Sie müssen sich nicht anstrengen für diese Demonstration westlicher Lebensart. Wirklichkeit ist, was wirkt.

Es heißt immer wieder, diese Attacken seien nun der lang erwartete „Einbruch der Realität“. Aber ist dies hier keine Realität? Und nicht sogar dauerhafter, wirklicher, alltäglicher, als die wirren Taten psychisch angeschlagener Täter? 63 Prozent der Deutschen, fand der „Spiegel" heraus, hätten jetzt nicht mehr Angst, selbst getroffen zu werden, als vorher. Die Landesregierung mag aufrüsten, Horst Seehofer hatte noch nie Lust auf „Wir schaffen das“, viele unterdrücken ein mulmiges Gefühl, aber München ist nicht hysterisch.

In der vergangenen Woche, nur wenige Tage nach dem Amoklauf, besaßen zwei Münchner die Geistesgegenwart, einen Mann, der auf der Straße plötzlich einem Passanten eine Pistole an die Schläfe hielt, zu einem Bier zu überreden – am Tresen stieß dann auch die Polizei dazu.

Nicht auszuschließen, dass diese coolen Bayern einem, der „Allahu Akbar“ ruft, irgendwann mit einem bloßen „Grüß Gott“ aus der Fassung bringen.

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