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In vielen Teilen des Landes protestieren Tunesier seit Jahresbeginn gegen die Regierung.
© Faouzi Dridis/AFP

Sieben Jahre nach der Revolution: Das Ende der Hoffnung in Tunesien

Radhia Mechergui fand keinen anderen Ausweg. Sie verbrannte sich öffentlich. Die Menschen in Tunesien warten vergeblich auf ein besseres Leben - und auf den Straßen entlädt sich die Wut.

Die bunten Schürzen des Berber-Gewands der Großmutter wirken wie ein Trotzdem. Wie die Erinnerung an die Farben der Welt vor dem Tod ihrer Tochter. Draußen, vor dem Wohnzimmer, atmet der Wind durch die Baumkronen, drinnen haben sich knapp dreißig Familienangehörige auf Plastikhockern im Kreis versammelt. Verstohlen huschen die Blicke der Kinder über die verhangenen Gesichter der Älteren.

„Wozu?“, fragt die Großmutter, mehr sich selbst als in die Runde. Es wird das einzige sein, was sie bis zum Ende der Familienversammlung sagen wird.

Wozu lief ihre Tochter Radhia Mechergui am 17. November 2017 die Treppen der Gemeindeverwaltung der nordtunesischen Kleinstadt Sejnane hinunter, holte eine Flasche mit Benzin aus ihrer Tasche, übergoss sich damit, nahm ein Feuerzeug in die Hand und zündete sich an? Macht der Tod ihrer Tochter einen Sinn? Und macht es einen Unterschied, ob sie sich nun aus Scham das Leben nahm oder aus Verzweiflung? Oder weil sie damit gegen das Leben in Tunesien protestieren wollte? Zehn Minuten zuvor war der Mutter von fünf Kindern die monatliche Sozialhilfe von 150 Dinar, 50 Euro, nicht bewilligt worden.

"Heute hat uns der Staat komplett vergessen"

Ihr Bruder sagt, unter dem bis 2011 herrschenden Diktator Ben Ali „gab es wenigstens noch Hoffnung, dass sich etwas ändert. Heute hat uns der Staat komplett vergessen.“

Staatspräsident Zine el-Abidine Ben Ali war vor sieben Jahren, am 14. Januar 2011, aus Tunesien geflohen. Landesweite Massenaufstände hatten ihn dazu gezwungen, ausgelöst durch die Selbstverbrennung eines Gemüsehändlers. Dessen Tod gilt als Ausgangspunkt des so genannten „Arabischen Frühlings“, seitdem haben sich etliche weitere Menschen in Tunesien auf diese Weise das Leben genommen. Eine auf den Norden des Landes beschränkte Untersuchung von Medizinern der Université de Tunis El Manar kommt jedenfalls zu diesem Ergebnis.

Steht Tunesien vor einer zweiten Revolution?

In den fünf Jahren vor Beginn des „Arabischen Frühlings“ sollen sich 48 Menschen im Norden Tunesiens verbrannt haben, in den fünf Jahren danach sind es laut der Studie drei Mal so viele gewesen. Die Mediziner stellten eine Zunahme der Selbstverbrennungen vor öffentlichen Gebäuden fest. Auch die Zahl der Fälle, die durch finanzielle Probleme und Konflikte mit Repräsentanten des Staates motiviert gewesen sein sollen, stieg an. Im Jahr 2016 behandelte das Krankenhaus von Ben Arous, eine halbe Fahrstunde von Tunis entfernt und auf Brandverletzungen spezialisiert, mehr als 100 Menschen, nachdem sie sich auf öffentlichen Plätzen angezündet haben sollen.

Sind die Selbstverbrennungen Vorzeichen eines erneuten gesellschaftlichen Umsturzes? Steht Tunesien vor einer zweiten Revolution? Seit Jahresbeginn demonstrieren viele Menschen gegen die steigenden Lebenshaltungskosten und neu in Kraft getretene Steuererhöhungen. Bei Zusammenstößen mit Sicherheitskräften in der Stadt Tebourba westlich der Hauptstadt Tunis starb in der Nacht zum 9. Januar ein Demonstrant, danach kam es in verschiedenen Orten des Landes zu Demonstrationen, Ausschreitungen und Plünderungen. Allein in der vergangenen Woche wurden laut dem tunesischen Innenministerium mehr als 800 Menschen festgenommen. Am Sonntag, dem Jahrestag der Revolution, ging die Polizei in Tunis mit Tränengas gegen Dutzende Demonstranten vor, die Steine auf Polizeiautos geworfen und Reifen in Brand gesetzt hatten, 50 Sicherheitskräfte wurden verletzt.

Bedürftige Familien bekommen mehr Geld vom Staat

Am Samstag hatte Staatschef Beji Caid Essebsi ein Jugendzentrum in Ettadhamen eingeweiht, einem Arbeiter-Vorort von Tunis. „Dieses Jahr werden wir anfangen, uns um die Jungen zu kümmern", sagte Essebsi. Diese hätten schließlich die Revolution in Tunesien angeführt. Am Samstag kündigte Sozialminister Mohamed Trabelsi einen Aktionsplan im Umfang von mehr als 70 Millionen Dinar, umgerechnet 23,5 Millionen Euro, an, von dem mehr als 120.000 Bedürftige profitieren sollen. Die Regierung will die Sozialleistungen für bedürftige Familien um mindestens 20 Prozent anheben. Abhängig von der Zahl der Kinder sollen Familien statt 150 Dinar künftig 180 oder 210 Dinar bekommen.

Verzweifelt. Radhia Mechergui nahm sich das Leben. Ihr Vater (im Bild links) und die Familie trauern um die fünffache Mutter.
Verzweifelt. Radhia Mechergui nahm sich das Leben. Ihr Vater (im Bild links) und die Familie trauern um die fünffache Mutter.
© Vincent Haiges

Für Radhia Mechergui kommt diese Ankündigung zu spät. Einen Tag nach ihrer Selbstverbrennung laufen hunderte Bewohner durch die Straßen von Sejnane. Die Stadt ist im Generalstreik. Die einzige Apotheke und auch die Bäcker haben geschlossen. Die Plastikstühle vor dem Café sind ineinander gestellt. Radhia Mecherguis Gesicht flattert auf Stoffbannern über die unverputzten Obergeschosse der Häuser der Stadt.

„Arbeit, Freiheit, Würde, wir sind alle Radhia Mechergui“, ruft eine aufgebrachte Menge. Es sind die gleichen Forderungen wie beim Ausbruch der Revolution vor sieben Jahren. Doch für viele Menschen hat sich die wirtschaftliche Situation seit 2011 noch verschlechtert. Vor allem abseits der Küstenregionen, im Landesinneren. Mehr als 16 Prozent der Tunesier leben unter der Armutsgrenze, in Sejnane liegt die Zahl fast doppelt so hoch.

Radhia Mechergui fand schon lange keine Anstellung mehr in der Landwirtschaft. „Wenn du keine Knarre oder Schmiergeld hast, bekommst du hier keinen Job“, sagt ihr Bruder Meher. Beides hatte Radhia Mechergui nicht. Also beantragte sie Sozialhilfe. Ihr Ehemann ist arbeitsunfähig, er hat Diabetes, zweimal in der Woche geht er ins Krankenhaus zur Dialyse.

Am Bahnhof fährt seit 23 Jahren kein Zug mehr

Doch im Gemeindehaus habe die Sachbearbeiterin immer nur den Kopf geschüttelt, sagt der Bruder. Meher Mechergui wirft seine Zigarette auf den Boden und entfaltet einen Brief an die Gemeinde. Es ist ein Bewerbungsschreiben seiner Schwester: Sie wollte als Putzfrau bei der Gemeinde arbeiten. Eine Antwort blieb aus.

Am 17. November geht sie ein letztes Mal in die Stadt. Eya Mechergui, mit 19 Jahren die älteste Tochter, knetet ihre Finger im Schoß, wenn sie über den Tag spricht, an dem sie ihrer Mutter verlor. „Sie schämte sich, noch einmal mit leeren Händen zu ihrer Familie zurückzukehren.“

Nicht weit vom Marktplatz Sejnanes liegt der alte Bahnhof. Hier fährt seit 23 Jahren kein Zug mehr. Das Bahnhofshäuschen steht noch, so wie es die französischen Besatzer einst zurückgelassen haben. Rotes Ziegeldach, die Wände weiß verputzt. Auf dem Dach nisten Weißstörche. „Das sind unsere Kolonialherren heute“, sagt Ridha Maalaoui.

Ridha Maalaoui, 45, ist Vorsitzender der Arbeiterbewegung von Sejnane, hier geboren und Lehrer am Gymnasium. An das Rattern der Züge kann er sich noch erinnern und auch an die Geschichten der Arbeiter, die bis zum Ende der 60er Jahre Waggons voller Eisenerz aus dem Bergwerk des Ortes schafften. Diese Zeit ist längst vorbei, viele Menschen haben sich anderswo nach Arbeit umgesehen. Maalaoui aber ist geblieben. „Ich konnte Sejnane nicht verlassen wie der Rest meiner Freunde“, sagt er. „Ich hab gesehen, wie diese Region blühen kann.“

Arbeiter aus der Region? Die braucht niemand mehr

Es hätte alles anders kommen können in Sejnane. Doch schon vor der Kolonialzeit, mit dem Beginn des Schiffhandels, geriet Tunesiens Landesinnere immer mehr in Vergessenheit. Trotz des Reichtums an Eukalyptus, Kork und Olivenöl. Heute kommen nur noch leere Lastwagen in die Stadt, die mit Milch, Holz und Lehmziegeln beladen wieder abfahren. Die Fahrer sind aus dem Süden oder aus Tunis, sagt Maalaoui. Arbeiter aus der Region brauche niemand.

Vom Beginn der Revolution vor sieben Jahren sei er berauscht gewesen. Von der Idee der Freiheit. Während Libyen zerfiel, Syrien im Bürgerkrieg versank und Ägypten zu einer Militärdiktatur wurde, lief Maalaoui ins Wahlbüro. Es waren seine ersten freien Wahlen im Land.

Doch nur drei Jahre später, als der 88 Jahre alte neu gewählte Staatschef Mohamed Beji Caid Essebsi die Treppenstufen zum Präsidentenpalast erklimmt, wird er immer enttäuschter. Das liegt auch an der schweren wirtschaftlichen Krise, in der das Land seit der Revolution steckt. Lag die jährliche Wachstumsrate zehn Jahre vor der Revolution noch bei stabilen fünf Prozent, erreichte sie 2016 einen Tiefstand von 1,3 Prozent.

Viele der jungen Tunesier haben einen Master-Universitätsabschluss, die Arbeitslosenquote der Graduierten liegt bei 31 Prozent. Schon unter Ben Ali subventionierte der Staat Universitäten großzügig, womit sich immer mehr junge Menschen einem Studium widmeten. Auf handwerkliche Berufe legten nur noch wenige wert. Doch Handwerker werden gebraucht, Akademiker eher nicht. Laut dem Deutschen Akademischen Austauschdienst entsprechen nur noch fünf Prozent der landesweiten Arbeitsangebote dem Profil der Hochschulabsolventen.

Bis zu 6000 Tunesier sollen sich dem IS angeschlossen haben

Auch die monatlichen Berichte des Tunesischen Forums für wirtschaftliche und soziale Rechte bestätigen, dass die Menschen im siebten Jahr nach der Revolution das Vertrauen in die politische Elite grundsätzlich verlieren. Immer mehr junge Menschen suchen nach Alternativen – außerhalb der Landesgrenzen. Im vergangenen Jahr fuhren so viele Menschen über das Mittelmeer nach Europa wie seit der Revolution nicht mehr. Auch die Terrormiliz IS fand in der Perspektivlosigkeit der Jugend einen Nährboden: Bis zu 6000 Tunesier sollen sich den Terroristen angeschlossen haben.

Nach der Revolution, sagt Maalaoui, zeigte sich der Staat für die meisten Bewohner von Sejnane nur in Polizeiuniform, bei Protesten mit Schlagstöcken und Tränengas. „Eine andere Sprache kennen sie noch nicht.“

Nach jahrelanger Subventionswirtschaft leerten sich die Staatskassen, und die Inflation stieg dramatisch. Im letzten Jahr reagierte die Regierung mit Lohnkürzungen, ohne gegen die Inflation vorzugehen, Grundnahrungsmittel wie Eier und Milch wurden für viele zu teuer, es gab landesweite Proteste. Internationale Unternehmen zogen sich nach der Revolution aus Tunesien zurück, neue Investoren kommen nur zögernd ins Land. Die Gründe dafür: Schattenwirtschaft, Korruption und politische Instabilität.

"Nach der Revolution blieb die Straße leer"

Ähnliches gilt für Touristen, das spürt man auch im 20 Kilometer von der Mittelmeerküste entfernten Sejnane. Bis zur Revolution waren Verkaufsstände, an denen ein paar Kilometer außerhalb der Stadt Töpferinnen ihre berühmten Terrakottapuppen anboten, eine Urlauberattraktion. Seit Jahrzehnten wird das Handwerk von Mutter zu Tochter weitergegeben. „Nach der Revolution blieb die Straße leer“, sagt Nadjia Mechergui. Sie ist 73 Jahre alt, ihre Fingernägel sind voller Ton, ihr Gesicht ist von der Sonne verbrannt. „Wir haben alle das gleiche Schicksal wie Radhia“, sagt sie. Sie kann Radhia Mechergui verstehen, mit der sie zwar den Familiennamen teilt, von ihrem Tod jedoch erst von ihrer Nachbarin erfuhr. „Aber in den Himmel kommt sie jetzt nicht mehr.“ Im Islam ist jede Form der Selbsttötung eine Sünde.

Meher Mechergui, der Bruder der Frau, die nun angeblich nicht mehr in den Himmel kommt, hat die Familienrunde verlassen, er steht nun draußen, vorm Haus. Er hat sich wieder eine Zigarette angezündet, greift mit der rechten Hand in den Baum neben ihm und rupft ein trockenes Blatt ab. Setzt sich auf die Treppenstufen. Nach langem Schweigen sagt er: Würden die Bitten seiner Schwester um Sozialhilfe für die Familie nicht erfüllt, dann „zündet sich mein Schwager mit allen fünf Kindern vor der Gemeindeverwaltung an.“ Langsam zerbröselt er das Blatt zwischen den Fingern, die Krümel fallen auf den Boden.

Franziska Grillmeier

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