Wien nach der Terror-Attacke: Aus dem Grauen erwächst ein neuer Zusammenhalt
Ein Terrorist ermordet vier Wiener, die Stadt steht unter Schock – die Trauer schweißt zusammen.
Für einen Moment übertönen die Sirenen den legendären Pummerin, die Glocke des Stephansdomes, die Punkt 12 Uhr Mittags läutet. Mit Vollgas rasen zwei Polizeikombis über den Wiener Schwedenplatz, mitten hinein in den Moment der Einkehr, in dem Wien und Österreich der Opfer des schwersten Terroranschlags der letzten 35 Jahre gedenken wollte. Eine Minute schweigen, eine Minute Glockenklang für die vier Todesopfer, die ein offenbar islamistischer Attentäter am Montagabend ermordete.
Aber noch ist nicht die Zeit für Ruhe, noch immer überlagert die Ungewissheit die Trauer, noch immer suchen Polizisten in Wien und bundesweit nach Hintermännern und Mitwissern, 22 Menschen wurden verletzt, manche ringen im Krankenhaus weiter um ihr Leben. Noch immer haben schwer bewaffnete Einheiten den Tatort am Schwedenplatz abgeriegelt.
Hier, am Rande der Innenstadt, eröffnete der Attentäter das Feuer mit einer abgesägten Kalschnikow, er schoss offenbar wahllos auf Menschen, die die letzten Stunden vor dem Corona-Lockdown auf der Partymeile „Bermuda-Dreieck“ verbrachten. Wie Silvesterböller habe es geklungen, so schildern Augenzeugen ihre Eindrücke. Der erste Notruf ging um 20 Uhr ein, neun Minuten später streckten Polizisten der Wiener Sondereinheit Wega den Mann auf den Treppen der Ruprechtskirche nieder, wo er so lange liegen blieb, bis Spezialisten Entwarnung geben konnten: Der Bombengürtel, den sich der Mann umgeschnallt hatte, erwies sich als Attrappe.
Der Mann trug noch eine große Menge Munition bei sich, außerdem eine Faustwaffe und eine Machete. Noch am späten Abend bestätigt Bundeskanzler Sebastian Kurz: Es handelt sich um einen „widerwärtigen Terroranschlag“, mittlerweile ist klar: Der 20-jährige Täter ist IS-Sympathisant, wollte sich mit anderen radikalen Islamisten dem Dschihad in Syrien anschließen, er war vorbestraft, doch einen Anschlag, heißt es, hatten ihm die Behörden nicht zugetraut.
„Wir kennen Gewalt und Terror nur aus der Berichterstattung im Ausland“, sagte Bundeskanzler Sebastian Kurz: „Aber diese Nacht wird in unsere Geschichte als Nacht eingehen, in der Menschen Opfer eines terroristischen Anschlags geworden sind.“
Dabei ist der Terror nicht neu in der Stadt, aber lange her. 1981 ermordeten Fatah-Terroristen an gleicher Stelle zwei Menschen, vier Jahre später kostete ein Anschlag von Palästinensern auf den Flughafen Schwechat vier Menschenleben. Seitdem schreibt Wien meist positive Schlagzeilen: Seit zehn Jahren lebenswerteste Stadt der Welt im Ranking der Beratungsagentur Mercer, vor einigen Jahren in Deutschland als „neues Berlin“ gehandelt. Dabei ist Wien viel zu gemütlich, um hip zu sein. Und wenn doch mal was passiert in Wien, verfallen die Bewohner der 1,9-Millionen-Stadt in ihren sprichwörtlichen Langmut: Ein echter Wiener geht nicht unter.
Nur: Die Stadt wurde schon lange nicht mehr so hart geprüft.
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„Hier in Wien hätte ich das nie erwartet“, sagt Imbissbetreiber Kerim Cagla und rührt in seinem türkischen Kaffee. „Ich bin schockiert.“ Eine paar Drogendealer, die vor der Polizei weglaufen, klar, auch mal eine Schlägerei, es ist halt der Schwedenplatz. Aber das? „Was macht das für einen Sinn?“
Cagla, ein massiger Mann, grauer Eintagesbart, hat eine tiefe, bassige Stimme, die trotzdem brüchig klingt, wenn er von gestern Abend erzählt. Gegen halb sechs sei er nach Hause gefahren, sein Bruder habe den Imbiss übernommen, kurz nach Acht rief er plötzlich an. Eine Schießerei, er habe die Rollläden runtergelassen und sich hinter die Theke gehockt. Genau gegenüber, am Ausgang der U-Bahn-Station Schwedenplatz, brachten sich einige Menschen vor den Schüssen in Sicherheit, man sieht es auf Videos, die sofort nach der Tat in den sozialen Medien kursierten – genau wie einige Erzählungen über die Wienerische Art, sich dem Terror entgegenzustellen. Ein Mann soll eine Vase auf den Attentäter geworfen haben, ein anderer gerufen haben: „Schleich di, du Oaschloch.“
Der Attentäter traf einen Zentralnerv der Stadt: Am Schwedenplatz treffen sich U1 und U4, abends strömen hier die Feiernden zusammen, stärken sich am Würstelstand und ziehen weiter, die Älteren und die Aufgebretzelten eher ins „Bermuda-Dreieck“, das seinen Namen den Exzessen verdankt, bei denen so mancher schonmal verloren geht, die Jüngeren und Alternativen eher an den Donaukanal, wo fliegende Händler die Leute mit Dosenbier versorgen. Der Montagabend war der letzte vor dem Lockdown, bis 0 Uhr durften die Kneipen noch öffnen, dann wollte Österreich für einen Monat dicht machen. Das letzte Hurra und ungewöhnlich warme 20 Grad lockten viele Wiener an, die Außenbereiche, die „Schanigärten“, waren voll.
Am Tag nach der Tat hat das „Bermuda-Dreieck“ sein Gesicht gewandelt. Die Rolltreppen an der U-Bahn-Station Schwedenplatz befördern in regelmäßigen Abständen Trupps der Polizei nach oben, die blaue Uniformen gehören zu Bundespolizei, blaue Helme trägt die Wiener Eingreiftruppe Wega, die Antiterroreinheiten der Cobra sind grün gekleidet. Es sind dutzende, immer wieder marschieren sie plötzlich los. Wer sich in Richtung der insgesamt sechs Tatorte wagt, kassiert grimmige Blicke, mehr als ein Blick auf die grünen Sprühmarker der Spurensicherung ist nicht drin.
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Eigentlich hätte Kerim Cagla seinen Laden heute gar nicht aufsperren dürfen. Aber sein Bruder ist gestern Abend lieber nach Hause gefahren, statt aufzuräumen, das übernimmt Cagla heute für ihn. Seit 31 Jahren lebt der Türke in Wien, seit zwölf Jahren führt er den Imbiss, er versorgt die Laufkundschaft mit Kebab, Falafel, aber auch mit Schnitzel - die typische Wiener Melange. Die Stadt lebt Multikulti aus Tradition, die Metropole des Habsburger Vielvölkerreich zog Jahrhunderte lang Einwanderer aus der Peripherie an, heute haben 780.000 Einwohner einen Migrationshintergrund.
Wiener Helden mit Migrationsgeschichte
Die berühmte Wiener Küche wanderte aus Böhmen und Mähren ein, die Kaffeehauskultur schauten sich die Wiener gleich bei ihren Belagerern ab, den Osmanen, die es zweimal vor die Tore der Stadt schafften – und Kaffee und die beliebten Kipferl hinterließen. Selbst die Rechtspopulisten, die Wien zu ihrer Hochburg machten, können ihre Geschichte nicht verheimlichen: Die Familie von Heinz-Christian Strache, der 2015 fast Bürgermeister geworden wäre, stammt aus dem böhmischen Sudetenland.
Und auch einige der Wiener Helden der Nacht tragen Namen, die ihre Migrationsgeschichte verraten: Mikail Özen etwa, der umringt von dutzenden Mikrofonen am Rande der Absperrung seine Version des Abends erzählt: Wie er und sein Freund Recep Gültekin zufällig in das Schussfeld gerieten und einen Polizisten am Boden liegen sahen. Die jungen Männer schulterten den Polizisten und brachten ihn zu einem Krankenwagen. Am Abend noch hatte Özen sich selbst gefilmt und ein Bekenntnis hinterhergeschickt: „Wir türkisch abstammende Muslime verabscheuen Terror. Wir stehen zu Österreich, wir stehen zu Wien.“
Einheit statt Spaltung, diese Botschaft formuliert auch die Politik, keine Selbstverständlichkeit im Österreich des Sebastian Kurz. Der 34-Jährige hat die Kanzlerschaft mit einem streng migrationsfeindlichen Kurs gewonnen, besonders die Muslime stehen unter Beobachtung. Jetzt hat einer von ihnen vier Menschen getötet, aber der Kanzler appelliert an die Bevölkerung, „nicht in die Falle der Extremisten“ zu gehen: „Sie wollen uns spalten. Unser Feind sind die Extremisten und Terroristen, sie haben in unserer Gesellschaft nichts verloren.“
Der Feind, er kommt aus der Mitte der Stadt. Der 20-jährige Täter ist in Wien geboren, er trägt die österreichische und nordmazedonische Staatsbürgerschaft. Gemeinsam mit anderen radikalen Islamisten wollte er sich dem IS in Syrien anschließen, die Behörden setzten ihn fest und verurteilten ihn zu 22 Jahren Haft, doch seine Teilnahme an einem De-Radikalisierungsprogramm ermöglichte ihm die vorzeitige Entlassung. Wen genau er mit seinem Anschlag treffen wollte, dazu wissen die Ermittler noch nichts Genaues, aber sie erforschen sein Umfeld: 18 Hausdurchsuchungen hat es in Wien und Niederösterreich gegeben, 14 Menschen wurden vorläufig festgenommen.
Eine Vermutung liegt nahe: In der Seitenstettengasse liegt aber auch eine der Herzkammern des jüdischen Lebens in Wien, der Stadttempel, wo noch wenige Stunden vor dem Anschlag das Abendgebet abgehalten wurde. Das koschere Restaurant „Alef Alef“ war, anders als am Vortag, am Montagabend geschlossen. Vom Stadttempel sind es nur wenige Schritte über die Marienbrücke bis in den 2. Bezirk, quasi das jüdische Viertel Wiens, wo am Tag danach die Straßen wie leergefegt sind.
Ein Polizist brüllt: "Keine Fotos!"
Der koschere Supermarkt hat geschlossen, in der Bäckerei WAS ist die Tür versperrt. Nur drei Kinder mit Kippa stecken ihre Köpfe aus dem Fenster, von Gegenüber brüllt ein Soldat mit Maschinenpistole, der vor der Synagoge postiert ist, nur seinen Augenschlitze sind zu sehen: „Keine Fotos!“
Es ist eine selbstverordnete Ruhe, die Israelitische Kultusgemeinde hat alle Gemeindemitglieder aufgerufen, zu Hause zu bleiben und eine endgültige Entwarnung abzuwarten. „Die Sicherheit jüdischer Einrichtungen kann nicht in gewohnter Weise gewährleistet werden“, heißt es in einer Aussendung. Synagogen, jüdische Schulen, Büros der IKG, koschere Geschäfte und Restaurants bleiben geschlossen.
Für alle Wienerinnen und Wiener gab Bürgermeister Michael Ludwig noch in der Nacht, mit roten Punkten auf aschfahlem Gesicht, die Parole aus: Wenn möglich, zuhause bleiben. Die Schulpflicht wurde ausgesetzt, eine schnelle Einigung mit Bundeskanzler Sebastian Kurz, auch das keine Selbstverständlichkeit. Wien und der Bund, das war zuletzt eine offen ausgelebte Abneigung, die weit hinaus ging über die in fast allen Ländern der Welt üblichen Streitereien zwischen der Hauptstadt und dem Rest.
Sebastian Kurz, selbst in Wien geboren und aufgewachsen, betonte in Wahlkämpfen lieber seine familiären Wurzeln im ländlichen Waldviertel. Sein enger Vertrauter und Finanzminister Gernot Blümel kandidierte bei den Wiener Wahlen im Oktober mit einem Programm, das kaum von der FPÖ zu unterscheiden war: Sozialwohnungen für Ausländer nur gegen Deutschkurse, verpflichtende Nikolaus-Feiern in den Kindergärten.
Die Spaltung ist nicht mehrheitsfähig in Wien
Wenige Tage vor der Wahl wies Blümel eine Razzia der Finanzpolizei an – nur an Dönerständen, nicht an den Würschtelständen. Aber die Spaltung, sie scheint nicht mehrheitsfähig in der Stadt: Bein der Wahl erlebten die FPÖ und die FPÖ-Abspalter Team HC von Heinz-Christian Strache ein Komplettdebakel, Blümels rechtspopulistische ÖVP profitiert mit mageren 18 Prozent nur wenig – das Rote Wien bleibt fest in der Hand der Sozialdemokraten.
Das bekommt sie in der Corona-Krise zu spüren: Kritik an zu laxen Regelungen richtete die Bundesregierung stets an die Hauptstadt, während der Bundeskanzler noch in deutschen Talkshows Ischgl gegen das „Blame Game“ verteidigte. Die Infos zum neuerlichen Lockdown teilte Kurz zuerst mit „seinen“ Landespolitikern und sogar erst mit einer Hintergrundrunde aus Journalisten, bevor die sozialdemokratischen Bundesländer wussten, was Sache ist. Im einer Videokonferenz soll Ludwig von einer „Verhöhnung“ gesprochen haben.
Doch nun, am Tag danach, vor 13 Uhr, legen sie beide Kränze nieder am Tatort. Es sieht so aus, als bringe der Terroranschlag Wien näher an Österreich, und umgekehrt.
Christian Bartlau