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Polizisten in Wien neben Kränzen, die Politiker nach dem Anschlag in Wien niederlegten
© Hans Punz/APA/dpa
Update

Neun Minuten Morden in Wien, der Insel der Seligen: „Da haben wir noch gelacht – bis wir die Gewehrsalven gehört haben“

Ahnungslos will eine Journalistin in Wien eigentlich nur Zigaretten holen, keine Hundert Meter vom Attentatsort entfernt. Doch dann fallen die ersten Schüsse.

Schüsse knallen durch die Wiener Innenstadt, anscheinend willkürlich ermorden einer oder mehrere Islamisten mindestens vier Passanten, mehr als ein Dutzend Menschen wird in Krankenhäuser eingeliefert.

Wie sich das alles vor Ort abgespielt hat, die Reaktionen der Menschen im unmittelbaren Umfeld und vor allem das Gefühl der Angst mitten im Zentrum der österreichischen Hauptstadt – all das beschreibt die Redaktion der Wochenzeitung "Falter" eindrücklichen Erlebnisbericht. Die Journalisten haben ihr Büro nur wenige Meter vom Anschlagsort.

„Der Tod kam uns nahe. Dort, wo wir nach Redaktionsschluss oft gemeinsam zu Abend essen, im Restaurant "Salzamt" nahe dem jüdischen Tempel, liegt nun ein Opfer in seinem Blut“, schreibt der bekannte Investigativjournalist Florian Klenk.

Seine Kollegin Eva Konzett war nur wenige Meter entfernt, gemeinsam mit einem Kollegen wollte sie um 20.00 Uhr - kurz vor Redaktionsschluss - nochmal Zigaretten holen. „Zunächst haben wir überhaupt nichts mitbekommen", erzählt sie im Gespräch mit dem Tagessspiegel. „Als wir unten ankamen haben uns Passanten darauf aufmerksam gemacht, dass es eine Schießerei gebe. Drei Buschen sagten, es werde geschossen. Da haben wir noch gelacht – bis wir die Gewehrsalven gehört haben“.

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Denn die ersten Schüsse fallen gegen 20 Uhr, nur wenige Stunden vor Beginn des Teil-Lockdowns in Österreich. Ab Mitternacht sind alle Gaststätten im Kampf gegen die Corona-Pandemie geschlossen. Der Angriff zielt auf das zu dieser Uhrzeit gut besuchte Ausgehviertel „Bermuda-Dreieck“, in dem auch die Synagoge liegt.

Der Wissenstand zur Tatzeit: Ein Mann soll mit einer Langwaffe, aber auch mit einer Pistole und einer Machete ausgerüstet sein. Gezielt feuern er und vielleicht weitere Angreifer auf Menschen in und vor den Lokalen. Neun Minuten dauert der Terroranschlag. Dann liegt der Erschossene vor der Ruprechtskirche, eine Sprengstoffgürtel-Attrappe um den Bauch.

Nach den ersten Schüssen laufen am Abend unzählige Menschen panisch über den zentralen Stephansplatz in Wien - einer Stadt, die mit Blick auf den international tätigen islamistischen Terrorismus bisher als "Stadt der Seligen" galt. „Irgendein Idiot hat wohl Böller geschossen, dachte ich“, schreibt Klenk. Doch unten auf den Straße rennt seine Kollegin Konzett voller Angst, will wieder rauf in die Redaktion, klopft „wie wild an die Hochsicherheitstür“.

[Mehr zum Thema: Terror in Wien – was wir wissen und was nicht]

Als sie wieder drin ist, fallen in der Innenstadt weitere Schüsse, die "Falter"-Journalisten verstecken sich. „Wir drehten das Licht im Büro ab“, berichtet der Chefredakteur. „Manche von uns erstarrten, manche suchten nach Videos im Netz, manche riefen ihre Familien an.“

Auch umgekehrt wird der Kontakt zur Redaktion gesucht, und zwar von Seiten der Politik - Österreichs Innenminister Karl Nehammer ruft persönlich an. Er bittet die Redaktion, keine Videos von Einsatzkräften oder den Tätern zu posten. Der Politiker, so beschreibt es der Journalist, ist ehrlich besorgt, dass die Bevölkerung zu Hause bleibt und auch dort möglichst von den Fenstern weggeht.

Zeitgleich spielen sich laut Klenks Augenzeugenbericht „gespenstische Szenen“ unmittelbar vor dem Büro ab. „Da marschierte vor unserem Fenster ein alter Mann mit erhobenen Händen am Morzinplatz, die Polizei schrie ihn an“, schreibt er. „Am Graben knieten Jugendliche am Boden, die T-Shirts ausziehen mussten, die Reichen im Restaurant Meinl am Graben fotografierten die Szene.“

Doch es gibt auch eindrucksvolle und berührende Szenen des Zusammenhalts. In der Wiener Oper, so berichtet Konzett, habe das Streichquartett immer weitergespielt, um die Leute im Haus zu halten. Und Martin Grubinger, ein bekannter Marimba-Spieler, soll auf seinem Holzschlaginstrument eine Zugabe nach der anderen gegeben haben - um die Menschen von der Straße wegzuhalten und so zu schützen.

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