Für ein Jahr zurück in Danzig: Auf der Suche nach dem Polen ihrer Kindheit
Für ein Jahr ist die Autorin Emilia Smechowski zurück nach Danzig gezogen, hat Politik, Menschen und Alltag beobachtet. Und ist an Grenzen gestoßen.
Ihr scheint, als sei es eine Reise in die Vergangenheit. Über holprige Straßen und Sandwege, durch Wälder und Dörfer, stundenlang, zum östlichsten Rand Polens, zu Radoslaw Kloskowski, einem Milchbauern. Kloskowski, 43 Jahre alt, hat bei den letzten Parlamentswahlen die Partei Recht und Gerechtigkeit gewählt, seit 2015 ist die nationalkonservative PiS nun an der Macht. Radoslaw Kloskowski sagt: „Die wählt man hier nun mal.“ Und Emilia Smechowski versucht zu verstehen.
Monate später schaltet sie jeden Abend um 19 Uhr 30 den Fernseher ein. Eine Woche lang, pünktlich zu den Wiadomosci, den Abendnachrichten im ersten polnischen Sender TVP. Für ihre Großmutter waren sie ein Höhepunkt des Tages. Doch die Großmutter ist tot, das Land hat sich verändert. Die PiS kontrolliert nun den Sender TVP, die Nachrichten und mit ihnen die Sicht der Zuschauer auf Polen und die Welt. Es ist ein Experiment.
„Ich hatte den Wunsch, das Land besser zu verstehen, zu dem meine Verbindung abgebrochen war“, sagt Emilia Smechowski. Was ist los in Polen, wo die PiS-Regierung breite Unterstützung aus der Bevölkerung bekommt? Wo ein tiefer Graben zwischen Land- und Stadtbewohnern verläuft, zwischen Arbeitern und der sogenannten Elite.
Ein schönes, aber kein leichtes Jahr
Im Frühling 2018 ist die Journalistin Emilia Smechowski mit ihrer vierjährigen Tochter für ein Jahr nach Danzig gezogen. Nicht weit entfernt von der Kleinstadt Wejherowo, aus der ihre Eltern 1988 mit der damals fünfjährigen Emilia und ihrer Schwester in einen vermeintlichen Sommerurlaub aufbrachen, der in Wirklichkeit eine Flucht nach Westen war, nach West-Berlin. „Rückkehr nach Polen“ heißt das Buch, das die 36-Jährige nun über ihr Jahr als temporär zurück eingewanderte Auswanderin geschrieben hat; das ein schönes, aber kein leichtes Jahr gewesen ist.
„Ich wollte wissen“, sagt Emilia Smechowski, „was die politische Situation für den Alltag der Menschen bedeutet.“ Wer sollte es besser erklären können als sie, die gebürtige Polin, die mit eingedeutschtem Blick auf das Land schauen kann – wenn es so was gibt.
Wie leben die Polen, auch miteinander? Mit dieser Frage zog sie los. Die Antwort wurde zur persönlichen Analyse eines Landes, das vielen Deutschen trotz der geografischen Nähe, trotz der europäischen Gemeinschaft ferngeblieben ist. Sie rührt außerdem an das Dilemma vieler Menschen mit Migrationserfahrung: Wer bin ich und wenn ja, wie viele?
Nach 30 Jahren kommt niemand einfach so zurück. Nirgendwohin. Und vielleicht schon gar nicht von Deutschland nach Polen. So ist Smechowskis Projekt beruflich und privat zugleich.
Sie hieß einmal anders
Es ist ein früher Morgen im Juli, überfallartig kühl nach Tagen der Hitze. Emilia Smechowski hat sich im Schneidersitz auf eine Bank im Berliner Gleisdreieckpark gesetzt, sie trägt eine schicke Bluse und roten Lippenstift.
Emilia Smechowski hieß einmal anders: Emilka Elzbieta Smiechowska. Als sie Deutsche wurde, damals, als Kind, war ihr Name ein neuer. Eingedeutscht aus Pragmatismus – und dem vorauseilenden Wunsch der Eltern, den Deutschen Aussprache und Verständnis nicht allzu schwer zu machen. Diesen durchaus gewaltsamen Einschnitt hat Emilia Smechowski selbst einmal als „verordnetes Deutschsein“, als Zwangsehe beschrieben. Natürlich hatte sie niemand gefragt.
In all den Jahren seitdem ist sie regelmäßig in Polen gewesen. Doch dort wohnen, sich einem Leben aussetzen, das sie eventuell hätte haben können, wenn … Das verlangt Mut. Emilia Smechowski wirkt, als hätte sie davon eine ganze Menge. Sie hat mal begonnen, Operngesang zu studieren und es fällt nicht schwer sich vorzustellen, dass sie es mit Überzeugung und Leidenschaft getan – und nach ein paar Jahren ebenso entschlossen abgebrochen hat. „Am Anfang war ich wie eine Ethnologin unterwegs“, erzählt Emilia Smechowski über ihr Jahr in Polen, „aber ich wurde immer mehr Teil dessen, was ich untersuchte.“ Sie rutscht hinein in den polnischen Alltag und merkt doch ständig, dass sie nicht völlig integriert ist. Nach einem halben Jahr wird es langsam anstrengend, das Fremdsein. Was auch damit zu tun hat, dass ihre alte und nun neu gewählte Heimat-für-ein-Jahr das Verstehen wirklich schwer macht.
Die Nachrichten folgen einem festen Schema
Die PiS und allen voran ihr Vorsitzender Jaroslaw Kaczynski hat die öffentlich-rechtlichen Medien derart von kritischen Stimmen gesäubert, dass sie nur noch eine Sicht der Dinge darstellen: die seiner Regierung. Emilia Smechowski findet das in ihrem einwöchigen Staatsnachrichtenexperiment bestätigt. Die Nachrichten folgen einem festen Schema: Bedrohung aus dem Ausland, Ruhe und Frieden in Polen. Smechowski versteht, dass viele Menschen um sie herum glauben, was sie glauben – auch weil es ihnen oft genug gesagt wird.
Das Bildungssystem erschien der PiS zu liberal und pluralistisch, also wurde es umgebaut. Das ohnehin strenge Abtreibungsgesetz sollte noch strenger werden. Und Kaczynski trieb eine Justizreform voran, gegen die viele Polen aufs heftigste protestierten – gegen die aber erst die EU-Kommission ein wirksames Mittel fand: sie klagte.
Ende Juni entschied der Europäische Gerichtshof, Teile von Kaczynskis Reform seien mit europäischem Recht nicht vereinbar. Etwa, dass er mehrere Richter des Obersten Gerichts frühzeitig pensionieren und durch regierungstreue ersetzen ließ. Nach einer einstweiligen Verfügung des EuGH dürfen diese nun wieder arbeiten. Den Graben, der die polnische Gesellschaft teilt, verbreitert die PiS stetig. Durch Hetze gegen die verhassten Eliten, durch soziale Programme – etwa mehr Kindergeld – , und Verständnis für den viel beschworenen kleinen Mann.
Die Ironie der EU-Mitgliedschaft
Emilia Smechowski erinnert an die achtziger Jahre, als Intellektuelle und Arbeiter sich gemeinsam dem kommunistischen Regime entgegenstellten. „Heute scheint das unmöglich geworden zu sein.“ Es gibt jene, die modern leben, europäisch, in den größeren polnischen Städten und verhältnismäßig wohlhabend. Und es gibt die anderen, die den Wandel des Landes vom Kommunismus zur Demokratie nicht so geschmeidig nachvollziehen konnten, die arm wurden oder blieben, die auf dem Land leben.
Radoslaw Kloskowski, dem Milchbauern in Ostpolen, hat „die Sache mit dem Kindergeld imponiert“. Für seine Familie bedeutet das 350 Euro zusätzlich im Monat, sie braucht davon jeden Cent. Kloskowski ist kein Freund der Europäischen Union – und hat doch Subventionen dankbar angenommen. Emilia Smechowski bezeichnet das als die Ironie der polnischen EU-Mitgliedschaft. Die Polen wären ohne sie ärmer – und doch fühlten sich viele im Vergleich zum Westen nun erst recht arm. Jaroslaw Kaczynski schüre Ressentiments gegen die EU, Polen sei kein gleichberechtigtes Mitglied, wichtige Entscheidungen würden in Berlin und Brüssel getroffen. Mit seiner PiS versuche er zugleich, das nationale Bewusstsein der Polen zu stärken.
Beruflich erfolgreich, privat Mutterkult
Deren Minderwertigkeitskomplex adressiert die Partei vorzüglich. Wie ausgesprochen erfolgreich sie damit ist, zeigt sich auch am 11. November 2018, der Tag, an dem sich die polnische Unabhängigkeit zum hundertsten Mal jährt. Smechowski ist nach Warschau gereist, um mitzuerleben, wie Rechte durch die Hauptstadt marschieren. Die liberale Stadtregierung hatte den Marsch zwar Tage zuvor abgesagt, doch die PiS half mit, dass er doch stattfinden konnte. Im Meer der rot-weißen polnischen Flaggen, inmitten besoffener Rechtsextremer, wird ihr schnell klar: Das ist keine reine Heimatliebe, das ist nicht gut.
Doch es bedarf nicht mal weiter Reisen oder Tausender Nazis, die Emilia Smechowski an ihrer Fähigkeit zur Re-Integration zweifeln lassen. Es genügen Kleinigkeiten, Grundsätzlichkeiten, Widersprüche wie jener, dass polnische Frauen, die sie trifft, beruflich erfolgreich und emanzipiert sind – und sich privat dennoch vor allem um optische Selbstoptimierung und die Kinder kümmern. Mit dem Mutterkult, der Frau- und Muttersein gleichsetzt, kann Smechowski überhaupt nichts anfangen.
Nicht zuletzt, erklärt sie, könne man auch an ihrem Polnisch hören, was sie für eine sei: „Eine, die in Polen geboren wurde und gegangen ist.“ Nicht alle Dagebliebenen finden das okay. Vielleicht ist der deutsch-polnische Fall noch außerdem ein besonderer. Weil die schreckliche Kriegsvergangenheit die beiden Länder gleichzeitig verbindet und – gefühlt noch immer – trennt.
Nicht mal die Autorin Smechowski ist sicher, ob sie die deutschen oder polnischen Namen der Städte und Ortschaften verwenden soll. Danzig statt Gdansk, klingt das nicht schon wieder übergriffig? Emilia Smechowski muss lachen.
Millionen, von denen man nichts mitbekommt
Zum komplizierten deutsch-polnischen Verhältnis macht sie sich seit Jahren Gedanken. Schon ihr erstes Buch, „Wir Strebermigranten“, erzählte nicht nur ihre persönliche Einwanderungsgeschichte, sondern auch viel über die Beziehung der Nachbarländer und ihrer Bewohner.
Wie kann es sein, dass zwei Millionen Polen in Deutschland leben – nach den Türken die zweitgrößte Gruppe Eingewanderter – und man von ihnen fast nichts mitbekommt? Weil sie unsichtbar werden, werden wollten, wie Smechowskis Eltern. Mutter und Vater, zwei Anästhesisten, waren bemüht, als polnische Familie unter Deutschen nicht aufzufallen. Der Tochter untersagten sie, öffentlich Polnisch zu sprechen, pssst!
Sie waren froh, vor ihrer Ausreise entdeckt zu haben, dass ein Großvater, ob freiwillig oder nicht ist unklar, die „Deutsche Volksliste“ gezeichnet und bei der Wehrmacht gewesen war. Die Nachfahren dieses fortan Deutschen konnten so als Aussiedler einen verhältnismäßig unkomplizierten Einbürgerungsprozess durchlaufen. Scham, das universelle Gefühl Geflüchteter, die im neuen Land nichts und niemand sind, die ganz unten beginnen müssen, verspürten sie dennoch. Es übertrug sich auf die Tochter und schlug bei der später um in Wut.
Wie holt man sich eine derart geklaute Heimat zurück?
"Verantwortung übernimmt niemand"
Emilia Smechowski beginnt bei den Wendejahren, bei Lech Walesa, dem ehemaligen Vorsitzenden der Gewerkschaft Solidarnosc und späteren Staatspräsidenten Polens. Das heißt: sie versucht es. Lech Walesa, der keine Lust hat auf Interviews, nicht auf Journalisten und noch weniger auf Journalistinnen, duldet sie knappe zwanzig Minuten in seiner Nähe. „Herr Walesa, wie war das damals …“ - „Was weiß ich, wie das damals war.“
Im Gleisdreieckpark lacht Emilia Smechowski in Erinnerung an dieses kuriose Treffen. „Ich war sehr überrascht. So etwas ist mir mit einem Politiker noch nicht passiert.“ Walesa hat später noch ein richtiges Interview mit ihr geführt. Aber was aus diesem Kapitel hängen bleibt, sind vor allem seine Worte zum Polen der Gegenwart: „Das Gewicht der Freiheit wiegt schwer. Wir haben keine gemeinsamen Werte mehr. Auch Verantwortung übernimmt niemand.“
Und entstand nicht tatsächlich in der jüngeren Vergangenheit oft der Eindruck, das Nachbarland gehe geradezu fahrlässig mit der Freiheit um?
Ja, Menschen protestieren zu Tausenden, wenn die PiS wieder eine radikale Gesetzesverschärfung vorschlägt. Doch die Opposition habe noch immer kein Mittel gefunden, stehe nicht vereint, sagt Emilia Smechowski.
Sie hat den Posener Bürgermeister Jacek Jaskowiak getroffen, eine Hoffnung der Liberalen und Linken, nur um auch bei diesem Besuch wieder in Widersprüchlichkeiten einzutauchen. Jaskowiak, der das rückwärtsgewandte Frauenbild der PiS verachtet – und doch nur männliche Stellvertreter bestimmt hat; der seine eigene Männlichkeit unter Beweis stellte, indem er gegen Boxlegende Dariusz Michalczewski kämpfte. „Wie liberal darf man sein, wenn man politisch erfolgreich sein will in einem Land, das Liberale zum Teil wirklich verachtet?“, fragt Smechowski.
Kein Dazwischen mehr
Der Riss durch die Gesellschaft habe sie sehr umgetrieben, sagt sie. Auch in der Elternschaft der Danziger Kita ihrer Tochter erkannte sie schnell, wer auf welcher Seite steht. Es gebe kleine Marker, Hinweise, die natürlich nicht immer stimmen müssten. Erwähne jemand etwa häufig einen Priester oder spreche von „den Flüchtlingen“, so liege die Vermutung nahe, er könne PiS-Wähler sein.
Im heutigen Polen sei diese Verortung wichtiger denn je. „Aber man redet nicht darüber“, sagt Emilia Smechowski. „Und definitiv hat die eine Seite kein Interesse daran, die andere zu missionieren. Man denkt eher: die anderen sind eben verloren.“ Ein Dazwischen gibt es nicht mehr, kein Miteinander unter denen, die politisch unterschiedlicher Meinung sind. Smechowski sagt, dass sie das irgendwann langweilig fand, und traurig.
Sie ist aufgebrochen mit Interesse, mit Neugierde, zu verstehen. Sie ist an Grenzen gestoßen. Emilia Smechowski sagt, sie sehe Versagen in der Politik. Die habe die gesellschaftliche Entwicklung verschlafen. „Warum haben es die Linken der PiS überlassen, sich um die Benachteiligten zu kümmern?“ Zum Beispiel. Ihre Tante sagt: „Ich denke, wir Polen haben die Demokratie für selbstverständlich gehalten. Das war ein Fehler.“ Freiheit muss man festhalten.
Das Buch endet mit der Ermordung des Danziger Bürgermeisters Pawel Adamowicz durch einen vorbestraften jungen Mann im Januar 2019. Schon lange war Adamowicz einer Hasskampagne ausgesetzt gewesen, die auch in den von der Regierung kontrollierten Medien vorangetrieben worden war.
Alles, was in den Tagen nach dem Attentat geschieht, die kollektive Trauer, der Schock, führt Politisches und Persönliches letztmalig zusammen: „Nicht zum ersten Mal in diesem Jahr frage ich mich, wie es weitergehen wird mit diesem Land. Aber zum ersten Mal habe ich das Gefühl: Diese Frage geht auch mich etwas an.“ Zugehörigkeit ist auch politische Verantwortung. Na klar, sagt Emilia Smechowski. Die Rolle der teilnehmenden Beobachterin hatte sie spätestens da abgelegt.
Nicht so viel Hoffnung
Im Gleisdreieckpark sind Wolken aufgezogen. Emilia Smechowski kneift ihre Augen ein wenig zusammen und denkt nach. „Ich habe im Moment nicht so viel Hoffnung für Polen“, sagt sie schließlich.
Populistische Tendenzen gebe es überall in Europa. Hierzulande beobachten viele mit Sorge die Erfolge der AfD. Wer glaube, Deutschland sei gespalten, der solle mal nach Polen schauen, sagt Emilia Smechowski. „In Deutschland sehe ich noch nicht diesen unversöhnlichen Hass, der in der Konsequenz einfach zu Stille führt. Hier wird noch erbittert gestritten.“ Und bislang sieht nichts danach aus, dass eine rechtskonservative Partei die absolute Mehrheit erhalten könnte. Anders als in Polen.