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Letzte Ehre. In der Danziger Altstadt wird Pawel Adamowicz mit vielen Kerzen und Rosen gedacht.
© Agencja Gazeta/Reuters

Mord an Pawel Adamowicz: Danzig danach

Die Danziger schätzten Pawel Adamowicz. Nun, da ihr Bürgermeister getötet wurde, fühlt es sich an, „als sei alles entzweigebrochen“.

Doch jetzt ist Pawel Adamowicz tot. Wieder schießen Marta Siciarek die Tränen in die Augen. Immerhin seien sie über all die Jahre auch Freunde geworden. Sie, die linke, weitgereiste Feministin, und er, der gläubige Christ, Familienvater und Bürgermeister, der eigentlich aus der eher konservativen, liberalen Bürgerplattform „Platforma Obywatelska“ kommt, heute die größte Oppositionspartei im Parlament. In diesem Jahr wollten sie gemeinsam große Danziger Unternehmen davon überzeugen, sich Anti-Diskriminierungs-Regeln aufzuerlegen.

„Schick mir die Liste mit den Namen, die sich dagegen sträuben“, habe er ihr noch neulich geschrieben. Die werde er schon noch motivieren. Ja, so war Pawel Adamowicz, sagt Siciarek. „Er hat seine Macht mit uns geteilt. Und jetzt fühlt es sich so an, als wäre einfach alles entzweigebrochen.“

Danzig trauert. Am Sonntag, den 13. Januar, ist der Oberbürgermeister Pawel Adamowicz bei einer Benefizveranstaltung von einem jungen Mann mit einem Messer niedergestochen worden. Adamowicz stand auf einer Bühne, bedankte sich bei den Bewohnern seiner Stadt für deren Spendenbereitschaft, die Wohltätigkeitsstiftung „Großes Orchester der Weihnachtshilfe“ sammelte dieses Mal für Kinderstationsausstattung in Krankenhäusern und eine bessere medizinische Behandlung von Säuglingen.

Nachdem der Täter, ein 27-jähriger Mann, auf Adamowicz eingestochen hatte, riss er das Mikrofon an sich und sagte: „Ich heiße Stefan W. und saß unschuldig im Gefängnis. Die Bürgerplattform hat mich gefoltert. Deshalb muss Adamowicz sterben!“

Während Adamowicz stundenlang in Lebensgefahr schwebte, standen die Menschen Schlange, die dem Bürgermeister im Krankenhaus Blut spenden wollten. Am nächsten Tag erlag er seinen Verletzungen. Zum Begräbnis am Samstag versammelten sich 45 000 Menschen im Danziger Stadtzentrum, vor der Marienkathedrale und vor den riesigen Bildschirmen, auf denen die Feierlichkeit übertragen wurde.

Nicht nur irgendein Bürgermeister

Auch für Marta Siciarek war Adamowicz nicht nur irgendein Bürgermeister. Als die Kulturwissenschaftlerin nach Aufenthalten in Warschau und Argentinien wieder in ihre Heimatstadt zurückkehrte, baute sie hier eine Organisation auf, das „Centrum Wsparcia Imigrantów i Imigrantek“, das „Unterstützungszentrum für EinwanderInnen“, um Migranten etwa mit Polnischkursen oder Rechtsbeistand zu unterstützen.

Beim Bürgermeister Pawel Adamowicz stieß sie dabei auf offene Ohren. Gemeinsam mit der Stadtverwaltung wurde ein Integrationsmodell entwickelt – das erste seiner Art in Polen. Heute arbeitet ihre Organisation in elf Bereichen mit der Stadtverwaltung zusammen, von der Gesundheitsversorgung über die Wohnungssuche bis hin zu den Sprachkursen. Das ist keine Selbstverständlichkeit in einem Land, in dem vor allem seit dem Wahlsieg der rechtskonservativen PiS-Partei 2015 eine harte Ausländerpolitik betrieben wird.

Dass Danzig zu einer liberalen Enklave im Land wurde, rechnet Siciarek dem Bürgermeister an. Zwar sei der entsprechende Druck von der Zivilgesellschaft ausgegangen, sagt die 39-Jährige später bei einer Tasse Tee. „Aber Adamowicz hat immer den Dialog gesucht.“ Für viele verkörperte Pawel Adamowicz ein Polen abseits der Anti-Flüchtlings-Rhetorik der PiS.

„Ich bin ein Europäer, und es liegt nun mal in meiner Natur, offen zu sein“, sagte er dem britischen „Guardian“ in einem Interview 2016. „Danzig ist ein Hafen und muss deswegen immer offen sein, als Zufluchtsort vom Meer.“ Seine Worte hätten das Klima in der Stadt verändert, glaubt Siciarek. „Wenn sich ein führender Politiker hinstellt und klar sagt, dass dieser Weg wichtig ist, dann macht das auch etwas mit seinen Bürgern“, sagt sie.

Der Jurist Adamowicz hat die Stadt an der Ostsee geprägt wie kaum ein anderer. Mit 33 Jahren wurde er zum Oberbürgermeister gewählt, im polnischen „Prezydent“ – „Stadtpräsident“ – genannt. Und blieb es für mehr als 20 Jahre und sechs Amtszeiten. Im vergangenen Herbst wurde er bei den Kommunalwahlen im zweiten Wahlgang mit 65 Prozent wiedergewählt.

Hunderte rote und weiße Rosen

Wie verwandelt ist die Stadt seit seinem Tod. Dort, wo sonst Touristen durch die Innenstadt mit den bunten Fassaden schlendern, ist die Stimmung gedrückt. Immer wieder halten Passanten inne und zünden Kerzen vor dem Neptunbrunnen an, manche von ihnen wischen sich Tränen aus den Augen. Kaum eine Ecke in der Altstadt, an der nicht Rosen niedergelegt worden sind. Am Langen Markt werden Grablichter verkauft. In vielen Auslagen hängt ein Bild des Bürgermeisters oder eines seiner bekannten Zitate – „Vielfalt ist eine Bereicherung und kein Problem“, „Liebe kann uns nur verbinden“ oder: „Ihr seid alle so großartig. Danzig ist die wundervollste Stadt der Welt.“ Das ist jener bereits jetzt legendäre Satz, den er auf der Bühne sagte, bevor er niedergestochen wurde.

Vor dem Rathaus, einem schmucklosen Verwaltungsgebäude nahe der Altstadt, liegen hunderte rote und weiße Rosen, den polnischen Nationalfarben. Drinnen empfängt Anna Kieturakis, eine Mitarbeiterin von Pawel Adamowicz. Die blonde Frau hat sich einen schwarzen Trauerflor an die Bluse gesteckt, ebenso wie ihre Kollegen. Auch nun, sagt sie, fünf Tage nach dem Attentat, kann sie es nicht glauben, dass ihr Chef nicht mehr zur Arbeit kommen wird. Ebenso wenig, wie sie sich daran gewöhnen kann, dass mittlerweile nur noch Zugangsberechtigte in Adamowicz’ Diensträume in einem Seitenflügel im dritten Stock des Rathauses gelassen werden.

Zuletzt sei es häufiger vorgekommen, dass Fremde in Adamowicz’ Büro gestürmt seien, um sich über seine Politik zu beschweren – oder ihn zu bedrohen. 2017 hatte die rechtsextreme „All-Polnische Jugend“ einen Totenschein Adamowicz’ im Internet veröffentlicht. Gestorben wegen „Liberalismus, Multikulturalismus und Dummheit“ stand darauf. Auch aufgrund all dessen glauben viele hier, dass das Unglück nicht aus dem Nichts geschah.

Zwar haben die Behörden beim Attentäter eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert, er hatte in den vergangenen Jahren mehrere Gefängnisstrafen wegen versuchter Banküberfälle abgesessen. „Selbst wenn der Attentäter geistig verwirrt war – irgend etwas muss diesen Impuls, gerade diesen Politiker zu töten, doch ausgelöst haben“, sagt Piotr Kowalczuk, Danzigs Vize-Bürgermeister, der wenige Türen weiter sitzt. Hat er im Gefängnis, aus dem er im Dezember entlassen wurde, möglicherweise Zeitungsartikel gelesen oder Fernsehsendungen geschaut, in denen Pawel Adamowicz nicht gut weg kam? Möglich wäre es, denn die öffentlich-rechtlichen Medien werden von der regierenden PiS kontrolliert. Und Adamowicz war eine Hassfigur der Warschauer Regierung.

"Sein Tod wird Polen verändern"

Piotr Kowalczuk ist in der Stadt zuständig für Sozialpolitik. Er hat sich nicht nur für das von Konservativen verfluchte Integrationsprogramm eingesetzt, sondern auch gemeinsam mit Adamowicz für die Rechte von Lesben und Schwulen. Die Anfeindungen, die sein Chef dafür hat einstecken müssen – auch nach seinem Tod nimmt dies kein Ende.

Der für rechtsextreme und erzkonservative Ansichten bekannte Politiker Grzegorz Braun bezeichnete Adamowicz im Fernsehsender wPolsce.pl als „Volksverräter“. Kowalczuk schüttelt den Kopf.

Er hat beschlossen, diese Spirale aus Hass zu durchbrechen. Als er erfuhr, dass die Mutter des Täters angefeindet wurde, besuchte er sie. Er bot ihr psychologische Hilfe und Polizeischutz an. Eine Geste, die ihm in ganz Polen viele Sympathien eingebracht hat. „Pawel hätte das so gewollt“, sagt Piotr Kowalczuk.

Doch wer verstehen will, wofür Adamowicz sonst noch stand, muss die schöne Altstadt mit ihrem Kopfsteinpflaster und den bunten Bürgerhäusern hinter sich lassen. 20 Minuten Fußmarsch entfernt, auf dem Areal der ehemaligen Danziger Lenin-Werft, liegt das Europäische Solidarnosc-Zentrum. Ein moderner, wuchtiger Bau, gestrandet wie ein rostbrauner Tanker zwischen Kränen und den Ruinen der alten Werftanlagen. 2014 ist das Zentrum, eine Mischung aus Museum, Gedenkstätte und Zentrum für zivilgesellschaftliche Organisationen – finanziert mit EU-Geldern –, eröffnet. Es gilt als Adamowicz’ Lebenswerk.

So ist es kein Wunder, dass sein Sarg nicht etwa in einer der vielen Kirchen, sondern hier, in der Eingangshalle des modernen Betonbaus, an den zwei Tagen vor der Begräbnisfeier aufgebahrt wird. Stundenlang stehen die Menschen in der Schlange, um Abschied von ihrem Bürgermeister nehmen zu können. Oben, im dritten Stock des Zentrums, blickt Basil Kerski aus der großen Fensterfront. Kerski, Sohn eines Irakers und einer Polin war von Adamowicz – gegen den Widerstand der PiS – zum Direktor des Zentrums ernannt worden. Die Männer waren befreundet. Kerski ist ein gedrungener, eleganter Mann. Seine Augen sind gerötet, gleich wird er die Familie seines Freundes – er hinterlässt eine Frau und zwei Töchter – empfangen, um die Trauerfeier zu besprechen. „Dieser Tod wird das gesamte öffentliche Leben in Polen verändern“, sagt Basil Kerski.

„Pawel Adamowicz war das Symbol der Oberbürgermeister gegen diese Regierung“, sagt er. Jemand, der für alles stand, wofür die PiS nicht stand: Solidarität, Offenheit, Liberalismus. Auch in der Europapolitik.

Nicht posthum verklären

Hatte Adamowicz eine Antwort auf die großen Fragen – als Katholik, konservativ, aber zugleich gesellschaftlich progressiv? „Wir sind Katholiken, und Jesus war der bekannteste Flüchtling“, sagte Adamowicz einmal, dessen Eltern nach dem Zweiten Weltkrieg aus Litauen nach Danzig umgesiedelt wurden, in einem Interview. „Und jetzt sollen wir uns weigern, selbst Solidarität zu beweisen?“

Fakt ist, dass gerade in der Stadt Danzig zuletzt viele Fäden zusammengelaufen sind. Immer wieder wurden politische Aktivisten aus Weißrussland oder der Ukraine nach Danzig eingeladen, um etwa an Workshops zu den Themen Selbstverwaltung und Demokratie teilzunehmen.

Pawel Adamowicz sprach nicht nur Englisch, sondern auch fließend Russisch. In einem Land mit einer derart schwierigen historischen Beziehung zu Russland ist das keine Selbstverständlichkeit. „Adamowicz stand für ein Europa von Portugal bis Russland“, sagt Basil Kerski. Besucher betreten das Areal durch das berühmte Werfttor Nummer Zwei der Leninwerft, das in den 80er Jahren zum Sinnbild des Kampfes der Gewerkschaft Solidarnosc gegen das sozialistische Regime wurde. An der neuen, gläsernen Schiebetür vor der Eingangshalle steht: „Europe starts here“, Europa beginnt hier.

Bei all der positiven Erinnerung an Pawel Adamowicz dürfe man nicht den Fehler machen, den ehemaligen Bürgermeister posthum zu verklären, warnt der Politologe und Philosoph Koltan Jacek. Nicht alles, was über Adamowicz berichtet werden kann, ist gleichermaßen großartig. Zuletzt wurde etwa ein Verfahren wegen einer falsch ausgefüllten Vermögensdeklaration gegen ihn eröffnet. Ob auch dies politisch motiviert war, wie seine Unterstützer glauben, ist nicht klar.

Es hatte es auch einmal eine Zeit gegeben, als der bekennende Katholik Adamowicz noch eine Lesben-und-Schwulen-Demonstration verboten hat – um zehn Jahre später selbst bei einer solchen mitzumarschieren. „Er hat gemerkt, dass sich die Gesellschaft extrem schnell verändert und dass er gewisse Dinge einfach nachholen muss“, sagt Jacek. Dazu kam wohl auch Risikofreude: seine Ideen auch gegen die Stimmung an den polnischen Stammtischen durchzubringen – und damit sogar Wahlen zu gewinnen.

Simone Brunner

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