Kino-Legende wird 100 Jahr alt: Artur Brauner: Der Augenzeuge
Ein Wald voller Toter, ein Versprechen – von diesem Moment an wollte Artur Brauner selbst bestimmen, welche Bilder die Welt auf ihren Kinoleinwänden sieht. Und ist Filmproduzent und ausgerechnet Berliner geworden.
Er hatte gehofft, das Alter würde ihn einfach vergessen. Aber als ihm plötzlich eine der mehr als 700 Telefonnummern, die er immer auswendig wusste, nicht mehr einfiel, ahnte Artur Brauner, dass er sich geirrt hatte. Da war er schon über 80. Natürlich holte er die Flüchtigen sofort zurück und lernte zur Strafe gleich mehrere neue – aber desillusionierend war es schon.
Sein Arzt sagt, er könnte 114 Jahre alt werden, schließlich hat er nie geraucht, nie getrunken. Er hat keinen Zucker. Aber Besuch möchte er lieber nicht, die Tagesform sei zu verschieden, schriftlich antworte er besser. „Es ist nicht der Kopf, es ist die Seele“, erklärt seine Tochter Alice Brauner, „genauer: Es ist der Tod meiner Mutter.“
Im letzten August hatte die Familie gerade noch Brauners 99. Geburtstag gefeiert, und dann starb sie, erst 92 Jahre alt. Artur Brauner kann ihr das nur schwer vergeben. Sie haben immer alles zusammen gemacht, fast immer. Es wäre nur folgerichtig gewesen, diesen Planeten gemeinsam zu verlassen.
"Ich habe mehr Filme produziert als jeder andere, weltweit"
Zusammen sind sie, zwei Überlebende des Holocaust, 1946 aus Polen nach Berlin gekommen. Das heißt, der 28-Jährige hat Theresa Albert unterwegs kennengelernt. Das jüdische Mädchen aus Warschau hieß ihrem gefälschten Pass zufolge Maria. Auf Inhaber gefälschter Papiere wartete die Todesstrafe, aber die wartete ohnehin. Wahrscheinlich bewunderte der junge Holzgroßhändlerssohn aus Lodz Maria-Theresa vom ersten Augenblick an. Mit 16 Jahren war sie zu Fuß von Lemberg nach Warschau gelaufen, um dort ihre Mutter und eine siebenjährige Cousine aus dem Backofen einer Polin zu holen. Der Backofen war ihr Versteck.
Früher hat Brauner sein Leben so zusammengefasst, in dem typischen, immer leicht triumphalen Artur-Brauner-Ton: „Ich habe mehr Filme produziert als jeder andere, weltweit. Und ich habe sie alle gekannt, alle.“ Alle – das waren die großen Namen des Kinos vor und hinter der Leinwand.
Man kann einen Vater nicht fragen, welches seiner Kinder ihm das liebste sei. Ebenso wenig wie man einen Filmproduzenten fragen kann, welcher seiner mehr als 250 Filme ihm der liebste sei. Tochter Alice ist die Nachfolgerin ihres Vaters, dabei ist das Vater-Kind-Verhältnis keineswegs frei von Komplikationen:
„In deinem Alter habe ich pro Jahr 18 Filme gemacht, und was machst du? Einen Film pro Jahr, einen einzigen“, beschwert er sich manchmal. Er kann Faulheit nicht ausstehen, ja Artur Brauner versteht nicht einmal, wie man auf einem Stuhl sitzen kann, ohne zu arbeiten. Er konnte das nicht.
„Pass mal auf, Papa. Ich bin Mutter, ich habe zwei Kinder …“, antwortet die Tochter dann. Und außerdem seien es andere Zeiten. „Selbst du würdest heute keine 18 Filme mehr drehen pro Jahr!“ Und wenn es nötig ist, zieht die Tochter ihren größten Triumph: „Du wolltest sogar die Studios verkaufen!“ Das war vor fünf Jahren.
„Nein, Papa, wir verkaufen die Studios nicht“, widersprach damals das Kind. Ungläubig besah der Vater seine Tochter. Wollte sie ihm etwa Vorschriften machen?
Er hat immer gewusst, was richtig ist. Und seine Mitarbeiter stets sehr sorgfältig ausgewählt, schon die Dramaturgen und Lektoren, diejenigen, die die Stoffe und Drehbücher prüfen. Kandidaten bekamen gewöhnlich ein Skript zur Begutachtung, die Hoffnungsvolleren wurden in das der Villa von Kirk Douglas nachgebaute Haus in der Königsallee eingeladen, um ihre Befunde vorzustellen. Einer lautete etwa: „Kitschige Dialoge, schablonenhafte Figuren, triviale Story, eine Schnulze ersten Grades. Totalverlust. Absolut abzuraten.“
Artur Brauner wiegte etwas raubvogelhaft den Kopf, führte den unbestechlichen jungen Kritiker durch sein Haus und erklärte ihm dann, dieser hätte, natürlich unter falschem Titel, das Skript zu seinem Erfolgsfilm „Roman eines Frauenarztes“ von 1954 gelesen. Von dessen Einspielergebnis habe er dieses Grundstück erworben und sich diese Villa gebaut, die ihn immer an seinen Freund Kirk Douglas erinnere, von Totalverlust könne demnach keine Rede sein.
Zwei Dinge mag er überhaupt nicht: neurotische Hauptdarsteller und Kostenexplosionen
Ein erfolgreicher Produzent im Hochrisikogeschäft Film sollte keine ästhetisch allzu reizbaren Nerven besitzen, und zwei Dinge schätzt Brauner überhaupt nicht: neurotische Hauptdarsteller und Kostenexplosionen. Als ihm sein spanischer Co-Produzent beim Dreh von „Durchs wilde Kurdistan“ Mitte der 60er Jahre mitteilte, das Geld sei alle, er brauche jetzt neues, nahm Brauners Gesicht einen Ausdruck abgründigster Reserviertheit an. Niemals, betont er, habe er sich erpressen lassen. Leider fehlte am nächsten Morgen die Hälfte der Pferde.
Unmöglich konnten sie jetzt mit 35 statt wie vorher mit 70 Mann aufeinander zu galoppieren. Die weißen ritten die Guten, die dunklen die Bösen. Und Brauner bemalte die Pferde, malte die Schimmel von einer Seite schwarz und die Rappen von einer Seite weiß und nahm sie nacheinander auf. Eine typisch braunersche Lösung.
An diesem Mittwoch vor genau 100 Jahren also wurde Artur Brauner in Lodz, dem Manchester Polens, geboren. 1899 eröffnete in der Stadt das erste Kino auf polnischem Boden, das „Iluzjon“. Seine Eltern hätten sicherlich etwas anderes behauptet, aber Abraham Brauner, Sohn des Holzgroßhändlers Moshe aus Kattowitz, wuchs im Kino auf. Sein Erzieher war die Leinwand.
Acht mal in der Woche saß er davor, am Sonntag zweimal, denn da wurden zwei Filme gezeigt. Abraham liebte Western, Abenteuer- und Kriminalfilme. Liebesgeschichten langweilten ihn unfassbar. Er wusste auch bald, was er später werden wollte: Tarzan – stark, furchtlos, beschränkt?
„Aaaaihaihaihaaa!“ Der Donauschwabe Johann Peter Weissmüller hatte neben allen möglichen Schwimmweltmeisterschaften auch diverse Jodelwettkämpfe gewonnen, und Tarzans weltberühmter Urwaldschrei ist nichts anderes als ein Doppelt- oder Dreifachjodler. Und der beste Kommentar zu dem, was 1933 geschah.
"Mein Vater spricht nicht über diese Zeit"
Am 9. September 1939, Weissmüller drehte gerade seinen vierten Tarzan-Film, marschierte die Wehrmacht in Lodz ein. Abraham Brauner, der sich jetzt Artur nannte, studierte am Lodzer Polytechnikum.
Am 18. September wurden die Bankkonten der jüdischen Unternehmen gesperrt, am 8. Februar 1940 begann die Errichtung des jüdischen Ghettos von Lodz, 250.000 Juden wohnten in der Stadt. Wo jetzt überleben, wenn nicht wie Tarzan ganz oben in den Baumkronen? Nimm die Liane! Aber welche? Und die Familie Brauner, Mutter, Vater und vier Kinder flüchteten – in die Sowjetunion. Auch weil seine Mutter ursprünglich aus Odessa kam?
„Ich weiß es nicht“, sagt Alice Brauner, „mein Vater spricht nicht über diese Zeit.“ Er spreche über alles, aber nicht über diese fünf Jahre. Doch ein Mann des Kinos hat mindestens zwei Sprachen, zwei Stimmen, seine natürliche und die der Filme, die er macht. Vielleicht sprach er doch darüber.
1990 kam „Hitlerjunge Salomon“ in die Kinos, Regie: Agnieszka Holland, das Werk, „für das ich einen Oscar bekommen hätte“, sagt Brauner. Sein Zorn darüber, dass ihn das deutsche Auswahlgremium nicht nominierte, und dass es, übler noch, in diesem Jahr überhaupt keinen Film nominierte, ist in all den Jahren seither nicht vergangen. Den Golden Globe gewann er. Mag sein, zur Farce überhöht, hätte „Hitlerjunge Salomon“ noch gewonnen, doch wäre es dann nicht mehr die authentische Geschichte des Salomon Perel gewesen. Auch Perel floh aus Lodz in die Sowjetunion, nur war er jünger, so dass ein stalinistisches Waisenhaus seine Erziehung übernahm, bevor deutsche Soldaten, soeben einmarschiert, dessen Zöglinge zur Selektion antreten ließen und in Perel sofort den Arier erkannten.
Auch Brauner wurde in der Sowjetunion von seiner Familie getrennt, er schlug sich allein durch, soviel ist klar, sagt seine Tochter.
An seinem ersten Film hängt er am meisten
Wie, das scheint wohl noch mehr in dem unmittelbar autobiografischen Film „Morituri“ auf, gedreht 1947. Er zeigt, in den starken Licht-Schatten-Kontrasten des expressionistischen Kinos, das Überleben in einem Waldlager irgendwo in Polen, zwischen den Fronten. Ein Überleben, das in Gefahr gerät, als eine Gruppe von KZ-Flüchtlingen um Aufnahme bittet. Heißt Überstehen selbst hier andere preiszugeben? Morituri. Wir Todgeweihten.
Es ist berührend, diesen Film heute wiederzusehen, nach 70 Jahren. Unter all seinen Filmen hängt Brauner am zärtlichsten an diesem, „schon weil er der erste war“, sagt er, in seinem großen Kino des Gedenkens, des Nichtvergessens, das heute in Yad Vashem gezeigt wird. Schon weil „Morituri“ damals niemand sehen wollte. Schon weil er den jungen Produzenten um ein Haar ruiniert hätte.
800 von 250.000 Lodzer Juden haben den Holocaust überlebt, die Brauners gehörten dazu. Nun wollten sie nach Palästina. 1936 war Brauner mit einer Gruppe junger Zionisten dort gewesen, er hatte sogar einen Dokumentarfilm über das Land gedreht.
Das zerbombte Berlin war der Treffpunkt. Seinen Entschluss zu bleiben, ausgerechnet in dieser Stadt, erklärt Brauner so: Auf dem Heuwagen eines polnischen Bauern sei er von Stettin aus gen Westen gefahren, als der Bauer vor einem Wald plötzlich die Richtung änderte. Er würde einen Umweg nehmen, er fahre nicht durch diesen Wald. Brauner sprang ab und ging hinein. Tote Leiber, zu Haufen geschichtet, ganz oben ein etwa zwölfjähriger Junge, der ihn aus weit offenen erloschenen Augen ansah und nicht ansah. „Minutenlang stand ich wie auf dem Boden festgenagelt, unfähig zu jeder Bewegung“, sagt Brauner. Und dieser Junge hatte noch nicht einmal richtig gelebt. Das sei der Augenblick gewesen, in dem er sich ein Versprechen gegeben habe: „Du musst alles tun, um ihm – um ihnen – ein Denkmal zu setzen.“
Kino. Iluzjon, Illusion also, wie die erste Filmbühne seiner Heimatstadt hieß. Aber es ist mehr als das. Es ist ein Spiegel, einer, der Bilder bewahrt, vielleicht nicht bis in alle Ewigkeit, aber fast. Und Artur Brauner wollte zu denen gehören, die mitbestimmten, welche Bilder dieser Spiegel fortan zeigen würde.
Mit der Hilfe von Freunden und Verwandten gründete er am 16. September 1946 in Berlin die Central Cinema Compagnie, die CCC-Film. Ein früherer Ufa-Beleuchter zeigte ihm die Munitions- und Giftgasfabrik Haselhorst. Er nahm die Herausforderung sofort an: „Sie ahnen, was es für mich bedeutete, eine Munitions- und Giftgasfabrik in eine Traumfabrik umzuwandeln!“ Iluzjon, das ist auch die lebensspendende Hülle, ohne die keiner existiert. Es ist die Gegenwelt des Todes.
Nein, es stimmt eben nicht, dass Brauner das Genre des Gedenkfilms erst für sich entdeckte, als das junge deutsche Kino um Wim Wenders und Volker Schlöndorff das seine alt aussehen ließ.
Aber sollte er sich für Filme wie „Mädchen in Uniform“ mit der jungen Romy Schneider, „Der brave Soldat Schwejk“ oder „Es geschah am helllichten Tag“ mit Heinz Rühmann etwa schämen? Man muss nicht unbedingt Avantgarde sein, um Meisterwerke zu schaffen, schaffen zu lassen. Und Mitte der 50er entstand nicht nur der „Roman eines Frauenarztes“, sondern auch der Filmklassiker und Berlinale-Gewinner „Die Ratten“ nach Gerhart Hauptmann mit Maria Schell, Regie: Robert Siodmak. Und nicht zuletzt: „Der 20. Juli“. Noch – und noch lange – galt Stauffenberg den Bürgern dieses Landes als Vaterlandsverräter..
Alte Menschen werden oft verdächtigt, Anhänger der Weltanschauung „Früher war alles besser“ zu sein. Aber das ist falsch. Wäre Brauner schon mit 90 Jahren gestorben, er wäre mit einem Schuldenberg von 60 Millionen gegangen, Pfändungen und Zwangsversteigerungen seines Immobilienreichs im Nacken, selbst die Kirk-Douglas-Villa war gefährdet. Heute sieht das alles viel hoffnungsvoller aus. Sogar das Reich der Iluzjon, die Traumfabrik in Spandau.
"Kind, du sanierst natürlich nicht, du verkaufst"
„Papa, ich saniere“, sprach seine aufrührerische Tochter Alice vor vier Jahren.
„Kind, du sanierst natürlich nicht, du verkaufst“, korrigierte ihr Vater. Und sie sanierte doch. Artur Brauner erkannte wohl mit Befriedigung, dass er es mit einer echten Brauner zu tun hatte. Aber er ließ sich nichts anmerken, „er lobt mich nie.“ Nur von Dritten erfährt sie, dass er es doch tut, Patriarchen sind so.
Es gibt gewiss nicht viele 100-Jährige, die so viel arbeiten müssen wie Artur Brauner. In Jerusalem beginnen gerade die Dreharbeiten zu „Crescendo“: Barenboims „West-Eastern-Divan-Orchestra“ im Film, Brauners Idee. Vater und Tochter halten fast täglich Konferenz, sie haben viele Projekte, darunter ein ganz großes, mehr wolle sie nicht sagen, erklärt Alice Brauner, aber es sei von der Art, die Welt auf den Kopf zu stellen. Wieder eine wahre Geschichte, und ihr Vater habe sie entdeckt, Dominik Graf wird sie drehen.
Über diesen neuen Stoff könnte Artur Brauner fast vergessen, dass man ihm einst den Oscar gestohlen hat und dass er seine schon fertigen Kulissen für „Schindlers Liste“ wieder abbauen musste. Gegen den Nachzügler Steven Spielberg anzutreten, schien ihm keine wirklich gute Idee zu sein. Aber von dieser Geschichte weiß Spielberg nichts.
Der wahre Produzent geht niemals vor seinem nächsten Film, schon gar nicht vor diesem. Das macht ihn tendenziell unsterblich.
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