Interview mit Dominik Graf: Wider die Diktatur der Moderne
Der Regisseur Dominik Graf steht mit den "Geliebten Schwestern" im Berlinale-Wettbewerb. Im Interview spricht er über den Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit und warum er mit einem Friedrich-Schiller-Kostümfilm Preischancen hat.
Herr Graf, während ein Festival wie die Berlinale vor Gegenwart birst, sagen Sie zu Ihrem Schiller-Film, dass die Menschen aus der Vergangenheit immer interessanter werden. Wie meinen Sie das?
Wir Menschen heute wissen oder verstehen immer weniger über das Leben. Durch unsere abgesicherten Verhältnisse und kleinbürgerlichen Sehnsüchte marginalisieren wir unsere Weltsicht. Die Menschen in der Vergangenheit lebten in großen Gefährdungen und dachten in großen Visionen, in gesellschaftlichen Utopien wie in Liebesutopien.
Und darauf sind Sie gestoßen, als Ihnen die Dreiecks-Liebesgeschichte von Schiller und den Schwestern von Lengefeld als Filmstoff angetragen wurde?
Ja, alle drei sind in der Lage, Gefühle nicht nur zu haben, sondern auch auf imposante Weise zu verbalisieren. Auch sind sie lebensklüger: Der Liebestraum, den sie 1788 beginnen, trägt in den frohen, zuversichtlichen Gedanken auch die Möglichkeit des Scheiterns in sich. Vielleicht, weil jeder damals wusste, dass er am nächsten Tag von einer Krankheit dahingerafft werden konnte. Es war ein Leben auf der Kante, die Verzweiflung gehörte immer dazu.
Können Sie Ihre eigene Projektion zurück in die Geschichte von dem unterscheiden, wie es damals gewesen sein könnte?
Das kann ich letztlich natürlich nicht. Aber man darf sich die Vergangenheit, glaube ich, auch ein bisschen erwünschen, so wie wir uns bei „Der Rote Kakadu“ die DDR zusammengebastelt haben.
Dieser Film lief 2006 auf der Berlinale, es ging um die Dresdner Rock ’n’ Roll- und Dissidentenszene Anfang der 60er Jahre.
Es gab damals Authentizitäts-Ärger, weil ja jeder noch genau weiß, wie die DDR wirklich war. Schiller ist zum Glück keine Zeitgeschichte, kaum einer kann da Jackenknöpfe beurteilen oder die unauthentische Farbe der Tinte kritisieren. Ein Normal-Gebildeter wie ich weiß gerade noch, dass Schiller verheiratet war und Kinder hatte. Als Uschi Reich von der Bavaria mir den Stoff vorschlug, hat mich diese komplexe Liebesgeschichte sehr überrascht.
Wie haben Sie recherchiert?
Mich hat Geschichte schon immer interessiert. Die französischen Historiker aus den 70er, 80er Jahren mag ich besonders, weil sie auch versuchen, der Alltags- und Emotionsgeschichte nachzugehen. Wie hat man sein Fühlen geäußert oder behielt man es überwiegend für sich? Wie verklemmt war das Bürgertum, wie freizügig die Aristokratie? Die Menschen hatten einen anderen Gefühlshaushalt.
Sie sagen, damals war die Liebe etwas anderes als heute, gleichzeitig rühmen Sie das Moderne an Schiller. Was macht ihn zu unserem Zeitgenossen?
Dazu gibt es ein nur mündlich überliefertesZitat von Adorno: „Die an sich schon abscheuliche Frage, was uns Schiller heute zu sagen hat, sollte mit der Gegenfrage erwidert werden, was haben wir Heutigen Schiller zu sagen?“ Seine Theaterstücke sind mir immer als das Rasanteste und am besten Konstruierte in der deutschen Dramatik erschienen. Und in seinen geschichtlichen Werken erweist er sich als großartiger Erzähler. Der Ausschnitt über die Inquisition, den er im Film von Zahnschmerzen geplagt vorträgt, lässt einem das Blut in den Adern gefrieren, so stark ist seine Vorstellungskraft.
Modern erscheint in Ihrem Film auch der Mitteilungsdrang der Liebenden. Ständig wechseln sie Briefe, deren Frequenz der Kommunikation im Twitter- und SMS- Zeitalter in nichts nachsteht.
Die Verbalisierung der Gefühle war manchmal wichtiger als die Gefühle selbst. Oft schrieben sie einander drei Briefe täglich, einer acht Seiten, einer drei Seiten lang und abends noch eine Karte hinterher. Ein schöner Satz machte die Gefühle noch schöner. Es war auch ein hektisches Liebesverschwörertum, mit ständigen Briefverschickungen durch Boten und Postkutschen. Da ging auch mal ein Brief verloren oder geriet an den falschen Adressaten. Wir kennen ja solche Missgeschicke: Mails, die zu früh abgeschickt werden oder versehentlich an die falsche Adresse gehen. Aber es ist natürlich viel hässlicher, Computer und Tabulatoren abzufilmen als Leute, die von Hand schreiben.
Und deshalb zeigen Sie Ihre Figuren so ausführlich beim Briefeschreiben?
Ich finde es beeindruckend, den unterschiedlichen Handschriften mit der Kamera zu folgen. Auch der Buchdruck von damals fasziniert mich. Die Druckereien in Weimar und Ludwigsburg mussten wir bauen, die alten Druckerpressen gibt es in ganz Europa nicht mehr. Es ist, als wollten wir den Buchdruck und das Setzer-Handwerk vollständig aus dem kulturellen Gedächtnis tilgen: eine Diktatur der Moderne, ein Angriff der Gegenwart auf alle übrigen Zeiten, wie Alexander Kluge sagt. Die alten Medien sollen so schnell wie möglich verschwinden müssen, wenn etwas Neues erfunden wird.
Und im Kino verschwinden die letzten Projektoren. Das gesamte nicht digitalisierte Filmerbe wird bald unsichtbar sein.
Ich habe nichts gegen neue Technik, aber muss ich einen HD-Fernseher mit grausig geschmacklosem Bild haben, wenn ich nicht will? Warum wird das tolle deutsche PAL-TV-Farbsystem auf dem Altar der neurotischen Hyperschärfe-Ästhetik alternativlos geopfert? Als wir unsere in Österreich nachgebaute Druckerei betraten, dachte ich, dieser Raum existiert jetzt hier für zwei Tage und ist dann wieder weg, auf immer.
Was unterscheidet den Dreh eines Schiller- Films von dem eines „Tatorts“?
Bei der Kutsche dauert es länger als beim Auto, bis sie beim nächsten Take wieder in Position steht. Aber das Pittoreske ist auch gefährlich. Die Bilder sollten ihren Ausstattungswert nicht ausstellen, finde ich. Hinzu kommt ein verändertes Zeitempfinden: Als Drehbuchautor stellte ich mir eine schnelle Briefverkehr-Montage vor, aber beim Drehen schleppen sich Kutschen durch die Landschaft. Es wäre idiotisch, sie ständig durchs Bild zu jagen, also lässt man ihnen ihre eigene Geschwindigkeit.
Deshalb dauert „Die geliebten Schwestern“ 170 Minuten?
Ja, ein bisschen auch deshalb. Er war auf 140 Minuten gestoppt, aber die Wege und damit auch die Gefühlswege waren tatsächlich länger.
Gibt es auch etwas, was Ihnen an der Schiller-Zeit fremd geblieben ist?
Nein. Ich will den Menschen aus der Vergangenheit aber nicht unbedingt auf den Pelz rücken wie ein Arzt mit einem Hörrohr. Es sollte eine Art Diskretion geben bei der Annäherung an sie. Caroline von Wolzogen beispielsweise, die am Schluss ihres Lebens einen Großteil der Schriften und Liebes-Korrespondenzen vernichtet hat: Womöglich gab es da doch ein Versprechen zwischen den dreien, ihr Gefühlsleben nicht der Nachwelt-Plebs zum Fraß vorzuwerfen.
2012 haben Sie in einem Essay auf die Biederkeit des deutschen Themenfilms geschimpft, sich mehr triviales, schmutziges Kino gewünscht. Wieso machen Sie dann jetzt einen Schiller-Film?
Ich habe damals als Zuschauer argumentiert. Mir ging es weniger darum, was ich gerne machen, als was ich gerne sehen möchte. Ich meine übrigens nicht nur Schmutz und Genre, sondern auch formalistische Filme, solche, die ihre Geschichte geheimnisvoller machen und nicht argumentativ abarbeiten. Das Schreckliche am deutschen Themenfilm ist ja, dass alles immer auserzählt werden muss wie in einer Talkshow. Die ewige Präsenz des gewichtigen Themas verkleinert das Filmische am Film.
Deutsche Themenfilme gab’s auch zu Zeiten des Aufbruchs der 60er, 70er Jahre.
Ja, aber früher galt auch: Wichtig ist nicht das Thema, sondern das Detail, die überraschende Szene, der tolle Dialog. Heute hingegen kommen Politiker zu staatstragenden Premieren und verleihen den Filmen damit eine außerfilmische, antifilmische Bedeutung. An der Subventionskultur können wir nichts ändern, wir sind finanziell abhängig, denn im TV- und Internetzeitalter spielen Filme nun mal erheblich weniger ein als früher. Ich bin dankbar für die Filmförderung. Aber die Pest der Konsenskultur gewinnt immer mehr Einfluss. Die Radikalität, das schmutzige andere Kino wird in der protestantischen Berliner Republik zu einer bedrohten Spezies.
Jährlich entstehen in Deutschland über 200 Filme. Verfolgen Sie, was die Jüngeren machen?
Ich sehe, was jedes Jahr in der Kiste mit der Vorauswahl für den Deutschen Filmpreis liegt. Die jungen Regisseure sind unendlich viel besser als wir damals, nicht nur rein technisch gesehen, auch im filmischen Erzählen. Ihre Produktionen mögen oft billig gedreht sein, dennoch enthalten sie rasante Action, haben einen ausgefeilten Look. Aber sie haben verdammt wenig Zeit, sich selbst zu finden. Wir durften mehr Fehler machen.
Haben Sie von Schiller etwas für den nächsten Polizeikrimi gelernt?
Schiller entwickelte in seiner Abhandlung „Über die Ästhetische Erziehung des Menschen“ eine Theorie der reinen Form. Das Wie kommt vor dem Was. Plot ist Oberfläche, Form ist Tiefe.
Sie waren vorher doch schon selber auf den Gedanken gekommen.
(lacht) Jetzt hat meine naive Ahnung höhere Weihen bekommen.
– Das Gespräch führte Christiane Peitz.