Die CDU nach der Berlin-Wahl: Angela Merkel macht sich’s leichter
Die Kanzlerin gibt Fehler zu – und befriedet den Streit in der Union. Für den Berliner CDU-Chef Frank Henkel kommt das zu spät.
Das Praktische an der Physik ist, dass sie für alle gilt, egal ob Politiker oder Ballonfahrer. Zum Beispiel müssen beide Ballast abwerfen, um einen Sinkflug zu stoppen. Am Tag nach der Berlin-Wahl steht Angela Merkel im Adenauerhaus neben Frank Henkel auf der Bühne. Wenn man das Ballonfahrer-Bild noch etwas weiter treiben will, hat Merkel am Sonntag ihre CDU einmal mehr nach unten taumeln sehen, und Henkel hat schon die Bruchlandung hinter sich, so verknautscht, wie der Berliner Parteichef dreinschaut. Am Wahlabend haben sie aus der Bundes-CDU kurz versucht, ihm die Schuld anzuhängen. Montagfrüh vor der Präsidiumssitzung gibt die Saar-Regierungschefin Annegret Kramp-Karrenbauer sogar noch einmal die Parole vom „sehr landestypischen Ergebnis“ aus, Berlin halt.
Merkel sagt: „Ich drücke mich nicht vor der Verantwortung.“
Ganz falsch ist das ja auch nicht. Aber Merkel hat begriffen, dass solche Manöver nicht mehr reichen. Nicht nach dem fünften Absacken in Folge. Nicht wenn „alle nervös“ werden, wie ein Vorständler vermerkt. Nicht wenn sich der Verdacht breitmacht, dass 14 Prozent für die AfD in Berlin ziemlich genau dem Bundestrend entsprechen könnten. Und nicht in einer Situation, in der die SPD, die FDP, die AfD, die Grünen, die Linken, die CSU sowie die Spatzen von den Dächern pfeifen, woran es lag: an der Flüchtlingspolitik. Ihrer Flüchtlingspolitik. „Ich bin die Parteivorsitzende“, sagt Merkel. „Ich drücke mich nicht vor der Verantwortung.“
Was dann folgt, ist keine inhaltliche Kehrtwende, aber immerhin so etwas wie ein bedingtes Schuldeingeständnis. Der Satz „Wir schaffen das“, bekräftigt Merkel zum Beispiel, sei von ihr ja nicht provozierend gemeint gewesen. Aber manche fühlten sich davon eben angegriffen, wenn sie ihn wie in einer Endlosschleife ständig wieder gehört hätten, diese „übertrieben oft wiederholten drei Worte“. Drinnen im Parteivorstand war sie noch etwas deutlicher: Der Satz sei voriges Jahr richtig gewesen im Angesicht der Tausenden, die täglich über die Grenze kamen, als Ermutigung. Inzwischen hängt er wie Blei an ihr. Also: weg damit.
Oder die Debatte, ob Grenzkontrollen möglich waren oder nicht – „immer unergiebiger“ seien solche Streitereien. Also: weg damit. Ja, es gab „eine Zeit lang keine Kontrolle“. Ja, die Bundesregierung war auf jenen 5. September 2015 nicht vorbereitet, ja, sie hatte sich auf dem bequemen Dublin-Verfahren ausgeruht. Und ja, die Integration der Hunderttausenden wird schwierig und wird dauern: „Das alles sagt sich schnell, es geht aber nicht schnell.“ Mit einem Nebensatz räumt Merkel gleich noch den Zank beiseite, was den Zuzug gestoppt hat, die neuen Zäune auf der Balkanroute oder der EU-Türkei-Vertrag. Beides: weg damit.
Dass sich wiederholt, was vor einem Jahr passierte, will Merkel nicht
Nun wäre Angela Merkel nicht die Merkel „mit allen Risiken und Nebenwirkungen“, wie sie das in jungen Vorsitzendenjahren mal trotzig formuliert hat, würde sie gleich alles über Bord werfen. Zu ihren Entscheidungen will sie stehen; Leute, die glaubten, die Regierungschefin wolle Deutschland gezielt „überfremden“, könne sie eh nicht überzeugen. Leuten, die forderten, dass gar keine Flüchtlinge mehr kommen dürften, könne die CDU auch nicht folgen. Aber dass sich wiederholt, was vor einem Jahr passierte – „das will niemand, auch ich nicht“.
Fassen wir zusammen: Angela Merkel gibt zu, dass sie die Leute falsch eingeschätzt hat mit ihrem Zweckoptimismus, und sie räumt ab, was ihr zuletzt bis tief in die eigenen Reihen hinein nur noch als Rechthaberei ausgelegt wurde.
In den CDU-Führungsgremien soll hier und da ein Aufatmen zu hören gewesen sein. In der Sache, sagt ein Vorstandsmitglied, müsse man, ja könne man gar nicht mehr so viel verändern – die Flüchtlingszahlen dramatisch gesunken, das Türkei-Abkommen trotz aller politischen Stürme im Kern intakt, jede Menge Gesetzesverschärfungen umgesetzt. „Alles auf Reset geht nicht“, sagt der Mann – den Knopf, um ganz von vorne anzufangen, gibt es nur beim Computerspiel. Aber die Kommunikation müsse anders werden. Merkels Art, über das Thema zu reden – „Wir müssen raus aus der dauernden Verteidigungsposition“, sagt ein Präsidiumsmitglied. Und auch die Kommunikation innerhalb der Union: „Seehofer muss auch mehr die Gemeinsamkeiten betonen als Unterschiede in Einzelheiten.“
Die CSU lässt - genau betrachtet - durchaus Kompromisse zu
Tja, der Horst Seehofer. Der CSU-Chef hat zuletzt ja seinerseits Signale der Friedensbereitschaft ausgesandt und sogar zugegeben, dass sie in der CSU keine Meister seien, Fehler offen einzugestehen, „ich eingeschlossen“. Wer Seehofer kennt, weiß, dass ihm so ein Satz nicht leichtfällt.
Allerdings ist, apropos Einzelheiten, von seinem „Spiegel“-Interview in den Schlagzeilen dann doch wieder nur die Forderung nach der „Obergrenze“ von 200.000 Menschen übrig geblieben, hinter die die CSU nicht zurückkönne. Ganz genau gelesen hat er zwar gesagt, die CSU verlange „eine Politik, die diese Obergrenze gewährleistet“. Und diese Formulierung lässt Spielraum für Kompromisse. Aber in der F-Frage ist das genaue Lesen und Hinhören ja doch ziemlich aus der Mode gekommen, seit die AfD die Diskurslautstärke bestimmt.
Merkel hat indes genau gelesen. „Der Schwerpunkt der CDU-Meinung liegt darin, dass eine statische Obergrenze das Problem nicht löst.“ Eine „statische Obergrenze“ wäre eine Zahl, Seehofers 200.000. Was könnte also eine nicht-statische, dynamische Obergrenze sein? Merkel macht ihr Sphinx-Gesicht. „Da muss mit der CSU noch gearbeitet werden.“
Nur Frank Henkel klagt - über fehlenden Rückenwind
Klingt also ebenfalls nach Friedenssignal. Nur Henkel mag sich nicht nahtlos ins Versöhnliche einreihen. Der öffentliche Streit der Unionsschwestern, den die CSU „angezettelt“ habe, sei „alles andere als hilfreich“ gewesen, klagt der unglückliche Spitzenkandidat, als er auch mal kurz zu Wort kommt. Ob er’s nicht besser gefunden hätte, seine Kanzlerin hätte ihre heutige Mea-culpa-Rede etwas früher gehalten, fragt ihn zum Schluss noch jemand. Henkel guckt jetzt derart zerknautscht, dass man denkt, gleich heult er los. Aber er belässt es dann doch bei der Bemerkung, dass Rückenwind „anders aussieht“.
Selten war es so still in der Berliner Union wie am Morgen nach dem Machtverlust. Die Ersten machen sich in der Partei jetzt genauere Gedanken über den „moderierten Übergang“, den sie jetzt von ihrem gescheiterten Frontmann erwarten. „Übergang“ bedeutet, erstens, dass Henkel in sehr absehbarer Zeit als Konsequenz aus der Niederlage den Landesvorsitz abgibt. „Moderiert“ bedeutet, dass niemand jetzt öffentlich Zeiten, Grenzen oder Ultimaten für einen Verzicht Henkels auf den Landesvorsitz ins Spiel bringt.
Regieren, Innenpolitik - das konnte Henkel nicht so gut
Die Zuversichtlichen unter den müden Wahlkämpfern werten die Ruhe am Montag als Hinweis darauf, dass es was wird mit der Gemeinsamkeit und dem Teamdenken, die man sich am Wahlabend vorgenommen hatte. Keiner stellte sich hin und forderte laut „personelle Konsequenzen“, sprich: Henkels sofortigen, ein politisches Vakuum erzeugenden Rücktritt. „Es hat sich ja schon angedeutet, dass wir aus 2001 ein bisschen was gelernt haben“, sagt einer mit Sinn für gelinde Ironie. Damals ging das Führungspersonal der CDU im Mahlstrom des Bankenskandals unter. Es dauerte zehn Jahre voller personeller Querelen und Kleinkriege, bis mit Frank Henkel wieder einer zum ersten Mann seiner Partei wurde, der die Umgangsformen der Berliner CDU beherrschte und mit den Gefühlslagen seiner Freunde optimal umging.
Regieren, Innenpolitik, die CDU zum Machtfaktor entwickeln konnte er allerdings nicht so gut. So erwarten die Ambitionierten unter seinen Parteifreunden durchaus, dass Henkel seine persönlichen Schlüsse aus der Niederlage zieht und in absehbarer Zeit Platz für jemand Neuen macht. Oder in sehr absehbarer Zeit? Einer von denen, die sich Henkel durchaus verbunden fühlen, spricht vom „Modell Cameron“: Ankündigen, dass man sein Amt aufgeben und bis dahin den Übergang vorbereiten werde. Wenn er Henkel zu raten hätte, sagt der Parteifreund, dann würde er raten, das „Heft des Handelns in der Hand zu halten“.
So kam es am späten Nachmittag im Landesvorstand, der in der Berliner Parteizentrale in der Nähe des Wittenbergplatzes zusammenkam. Da hatten enge Parteifreunde schon signalisiert bekommen, dass Henkel seinen Rückzug von der Landesspitze bekannt geben werde. Ein guter Zeitpunkt könnte der nächste Landesparteitag im April sein. Bis dahin könnte auch ein Platz für Henkel auf der Landesliste zur Bundestagswahl 2017 gefunden sein. Der „moderierte Übergang“ wäre geglückt.
Die Dimension der Niederlage wurde der CDU erst in der Nacht zum Montag wirklich bewusst
Gewisse Eile war durchaus geboten, um Handlungsfähigkeit zu zeigen. Es gebe „Unmut“ bei denen, die nicht mehr ins Abgeordnetenhaus oder in die Bezirksverordnetenversammlungen gekommen seien, war zu hören. Ohne eine einsichtsvolle Ansage Henkels werde „die zweite, dritte, vierte Reihe“ Forderungen an ihn stellen. Und man wolle doch nicht wieder damit anfangen, die Frontleute wundzuschießen, sagt der Parteifreund.
Die Dimension der Niederlage ist den Wahlkämpfern der CDU erst im Lauf der Nacht zum Montag wirklich bewusst geworden. Dass man rund ein Viertel der Mandate im Berliner Abgeordnetenhaus verloren hat (von 39 auf 29 Sitze), war am Wahlabend schnell ausgerechnet. Die Verluste in den Bezirken, die radikal gesunkene Zahl der Sitze in den BVVen, die verlorenen Ansprüche auf Stadtratsposten zeigten sich dann über Nacht – und verstören die Partei viel gründlicher.
Steglitz-Zehlendorf – das war bislang für die Berliner CDU das Gleiche wie Bayern für die CSU: Stammland, sichere Basis, Kraftquelle. Gerade deshalb immer wieder Schauplatz parteiinterner Machtkämpfe. Den letzten hatte Thomas Heilmann gewonnen, Henkels Stellvertreter im Landesvorstand, Wahlkampfmanager – und gescheiterter Bewerber um ein Mandat im Abgeordnetenhaus. Außerdem lief hier so etwas wie ein schwarz-grüner Probelauf – die bezirkliche Zusammenarbeit als Zählgemeinschaft. Für die Moderneren in der CDU war das eine pragmatische Verbindung zu den Grünen.
Auch Thomas Heilmann gehört zu den großen Verlierern
Auch das ist vorbei – die betonierte Mehrheit ganz sicher, die schwarz-grüne Zählgemeinschaft im Bezirksamt möglicherweise. Und auch Heilmann gehört zu den großen Verlierern dieser Wahl: der Seiteneinsteiger, der erfolgreiche Werbefachmann und Unternehmer, der vor sechs Jahren seinen Spaß an der Landespolitik auszuleben begonnen hatte. Heilmann, der der Berliner CDU erstmals Selbstironie vermittelt und mit und für Henkel ein Regierungsprogramm aus dem direkten Dialog mit Bürgern und Sympathisanten entwickelt hatte, hat nun bloß noch den Kreisvorsitz. Parteifreunde aus dem Berliner Südwesten geben ihm zu verstehen, dass seine Performance im Wahlkampf nicht unbedingt dazu motiviert, ihn für die Bundestagswahl 2017 zu nominieren. Karl-Georg Wellmann hat schon deutlich gesagt, dass er als mehrfacher Gewinner des Direktmandats abermals antreten werde.
Der Blick auf den Südwesten ist lehrreich, weil sich hier, in diesem Musterländle der Berliner CDU, besonders drastisch die Folgen dieser Wahl zeigen: zwei Abgeordnete weniger im Landesparlament, ein Stadtratsposten weg, von den früher mal 24 Bezirksverordneten sind noch 17 übrig. Man kann sich vorstellen, wie die Stimmung im Ratskeller in der Nacht zum Montag mit fortschreitender Zeit vereiste. „Das Ergebnis ist nicht nur Merkels Schuld, das war hausgemacht“, sagt einer, der dabei war. Man habe keine Methode gefunden, um die große Zahl derer anzusprechen, die sich von der CDU abgewandt hätten, sagen andere. Und fragen, wie Heilmann bei derart geschwundenen Kräften als Kreischef weiter Politik machen wolle.
Die Schwäche der CDU insgesamt wird immer mehr zum persönlichen Problem von Angela Merkel. Nach der Wahl in Berlin, bei der Landeschef Frank Henkel ein historisch schlechtes Ergebnis einfuhr, sitzen die Christdemokraten nur noch in sechs der 16 Landesregierungen – davon in zweien als Juniorpartner. Auch in der Union machen viele die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin dafür verantwortlich.
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