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Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) in Begleitung von Mitarbeitern
© dpa/Michael Kappeler

Berlins neuer Innensenator nach dem Anschlag: Andreas Geisel hat es kalt erwischt

Als hätte das Böse nur auf ihn gewartet: Andreas Geisel ist Berliner Innensenator – seit gerade mal drei Wochen. Einen so harten Start hatte vor ihm wohl niemand.

Hundert Tage? Bestenfalls elf. Die Schonfrist endet für den neuen Innensenator, als Anis Amri am 19. Dezember auf der Hardenbergstraße das Steuer herumreißt und mit dem schwarzen Truck durch die Menschenmenge pflügt. Nun ist sie geschehen. Die Katastrophe, die seit den Anschlägen in Paris, Nizza und Brüssel auch für die deutsche Hauptstadt niemand mehr ausgeschlossen hatte. Nur elf Tage, nachdem Andreas Geisel die Hand zum Amtseid erhoben hatte.

Am Breitscheidplatz herrscht eine unwirkliche Stille, als der Innensenator wenig später am Tatort eintrifft. Andreas Geisel verharrt zwischen den zerstörten Jahrmarktbuden, geschockt. Und doch, wie er so dasteht, groß und breitschultrig, strahlt er Sicherheit aus. „Eine Stadt in Angst hilft niemandem“, sagt er, als ihn der „Tagesthemen“-Reporter fragt, ob die Weihnachtsmärkte besser geschützt werden müssten. „Unsere Gesellschaft lebt davon, dass wir frei miteinander umgehen und Weihnachten als Fest der Familie, als Fest der Freude feiern.“

Nicht schlecht für einen Neuling – da waren sich nach dem Auftritt fast alle einig. Der Senator schlage sich gut, lobt der Rechtsexperte der Grünen, Benedikt Lux. „Er hat seine Feuertaufe bestanden.“

Man könnte fast meinen, das Böse auf dieser Welt habe auf Andreas Geisel gewartet. Seitdem der 50-jährige Sozialdemokrat aus Lichtenberg am 8. Dezember ernannt und aufs Wohl des Volkes vereidigt wurde, scheint die Stadt nicht mehr zur Ruhe zu kommen. Geisels erster Arbeitstag war auch der Tag, an dem das Polizeipräsidium das Überwachungsvideo vom sogenannten U-Bahn-Treter an der Hermannstraße veröffentlichte. Ein Fall, der im ganzen Land Aufsehen erregte.

Wie auch der Angriff auf einen Obdachlosen in der Weihnachtsnacht, als sechs Syrer und ein Libyer versuchten, im U-Bahnhof Schönleinstraße einen Schlafenden anzuzünden. Die jungen Männer stellten sich, nachdem die Polizei auch in diesem Fall mit den Bildern der Überwachungskamera gefahndet hatte. „U-Bahnhöfe dürfen keine Angsträume sein“, sagt der neue Innensenator am Donnerstag. Gleichzeitig fordert Geisel zur Besonnenheit auf. Ja, es gebe kriminelle Migranten, diese würden verfolgt wie alle anderen Verbrecher. Aber es dürften nicht ganze Bevölkerungsgruppen unter Generalverdacht gestellt werden. „Scharfmacherei ist fehl am Platz.“

Senator Geisel brauchte einen Terrorismusexperten - er hat ihn gefunden

Immerhin, nach drei Wochen Amtszeit kann Geisel bei den spektakulären Fällen eine Aufklärungsquote von 100 Prozent vorweisen. Im Haus der Innenbehörde, Klosterstraße 47 in Mitte, geht die Arbeit um 7.30 Uhr los. „Die letzte Woche täglich bis in die Nacht hinein“, sagt der Senator. Blieb wenigstens Zeit, um mit Frau und beiden Töchtern Weihnachten zu feiern? Auf so etwas antwortet Geisel in diesen Tagen ausgesprochen knapp: „Ja, kurz.“

Der neue Führungsstab der Innenverwaltung hat es gerade mal geschafft, sich in den Diensträumen einzurichten und miteinander vertraut zu machen. Selbst an den Namen seines Staatssekretärs, der aus dem Bundesinnenministerium in die Berliner Innenbehörde wechselte, muss sich Geisel noch gewöhnen.

Zumal er am vergangenen Freitag, als der Innenausschuss des Abgeordnetenhauses über den Terroranschlag in Berlin und dessen Folgen diskutiert, doch ein bisschen aufgeregt ist. „Ihre weiteren Fragen wird jetzt Herr Amri beantworten“, sagt der Senator. „Nein, Herr Aki…, Akmann – so, jetzt hab ich’s“. Der kühle Niedersachse Torsten Akmann ignoriert die Namensverwechslung mit dem erschossenen Terroristen mit professioneller Freundlichkeit. Und geht dann offen und akribisch auf die Fragen der Abgeordneten ein. Mit dem Experten für Verfassungsschutz, Rechtsterrorismus und öffentliche Sicherheit hat Geisel offenbar einen guten Fang getan.

Geisel, der sich in seiner bisherigen Laufbahn mit Bezirkspolitik und Stadtentwicklung beschäftigt hat, brauchte dringend Expertise von außen. „Ich habe einen ausgewiesenen Sicherheitsexperten gesucht, und ihn in Person von Torsten Akmann gefunden“, sagt er. Der neue Staatssekretär sei bundesweit sehr gut vernetzt und werde die Abstimmung zwischen Bund und Land organisieren. Der neue Mann hat eine Schlüsselposition, keine Frage. Und der Druck von CDU und CSU auf Rot-Rot-Grün in Berlin wird vor allem in Sachen Videoüberwachung und Abschiebepolitik massiv zunehmen. Von der AfD ganz zu schweigen.

Andreas Geisel ist nicht bereit, sich in dieser erst aufflackernden Kontroverse frühzeitig festzulegen. Sein Führungsstab hat damit begonnen, eine Vorlage für die Senatsklausur am 8. Januar vorzubereiten. Ein Sicherheitspaket soll geschnürt werden. Ob und in welcher Richtung der Koalitionsvertrag zwischen SPD, Linken und Grünen in Sachen Terrorismusbekämpfung und Polizeiarbeit korrigiert werden muss, lässt Geisel offen. Für ihn selbst gelte: „Ein Innensenator sollte kühlen Kopf bewahren und auch in extremen Situationen besonnen handeln.“ Der Innenbehörde, die fünf Jahre lang von CDU-Mann Frank Henkel geführt wurde, gibt Geisel einen Vertrauensvorschuss. „Ich sehe bei den Mitarbeitern ein Bedürfnis nach Transparenz und interner Kommunikation.“ Die Motivation sei sehr hoch, „die Stimmung unter den Beschäftigten nicht immer“. Da müsse dringend etwas getan werden.

Das sei der wichtigste Unterschied zum Amtsvorgänger Henkel, sagt Hakan Tas, ein erfahrener Innenpolitiker der Linken. Im Gegensatz zum ehemaligen CDU-Landeschef zeige Geisel Interesse an der Arbeit, er höre auf seine Fachleute und sei gegenüber Bürgern und Abgeordneten gesprächsbereit. Ob es so bleibe, werde sich zeigen.

Am Dienstagabend hatte der Senator noch einen Termin zum jüdischen Lichterfest am Brandenburger Tor. Chanukka steht für den Sieg des Lichtes über die Dunkelheit, für Frieden und Toleranz. Auch diese Feier muss besonders geschützt werden. Mit seinem Besuch wollte Geisel noch ein kleines Zeichen der Wehrhaftigkeit setzen.

Die SPD-Linken wollten Geisel nach Filzverdacht nicht mehr

Dies alles hört sich fast so an, als habe der gelernte Fernmeldetechniker und Volkswirt Geisel nie etwas anderes getan als sich mit Sicherheitspolitik zu befassen. Dabei war es ein parteiinterner Schachzug des Regierenden Bürgermeisters und SPD-Landeschefs Michael Müller, der dem gebürtigen Ost-Berliner den Verbleib im Senat rettete.

Erst vor zwei Jahren, als Klaus Wowereit in den Ruhestand trat, hatte der Nachfolger Müller seinen guten Freund Geisel ins Kabinett geholt. Nach zwei Jahrzehnten als Stadtrat und Bezirksbürgermeister in Lichtenberg erfüllte sich dessen großer Traum. Er wurde für Stadtentwicklung, Bauen und Mieten, Verkehr und Umwelt zuständig. Ein ganz großes Talent, schwärmten manche Genossen.

Doch die Erwartungen wurden, jedenfalls teilweise, enttäuscht. Vor der Abgeordnetenhauswahl im September 2016 brachten Filzverdacht und eine Parteispendenaffäre nicht nur die Opposition und den Regierungspartner CDU, sondern auch den linken SPD-Flügel gegen Geisel auf. Dessen politische Karriere galt auf einmal als gefährdet. Zumal Linkspartei und Grüne das Geisel’sche Mega-Ressort unter sich aufteilen wollten. Und dies nach der Wahl auch durchsetzten. Für seinen engen Vertrauten, den er im Mai schon gegen den Willen der Parteilinken als Vize-Landeschef der SPD durchgedrückt hatte, musste Müller einen neuen Job im Senat finden. Dabei half ihm die Verweigerungshaltung der beiden neuen Regierungspartner, die das Innenressort auf keinen Fall übernehmen wollten.

Kurzzeitig, so war später aus der SPD zu hören, sei sogar die damalige Arbeitssenatorin Dilek Kolat als Innensenatorin im Gespräch gewesen. Diese Idee wurde allerdings schnell fallengelassen. Für die ebenfalls umstrittene Genossin Kolat fand sich eine andere Notfallrettung – das Gesundheitsressort. Am Ende des schwierigen Verteilungs- und Auswahlprozesses innerhalb der SPD und zwischen den neuen Regierungspartnern musste Geisel auf die Stadtentwicklung verzichten, die er so gern behalten hätte. Doch er gewann neues Terrain – das schwierige Feld der Berliner Innenpolitik.

Die lobenden Worte, die ihn nach drei Wochen im Amt erreichen, hört Andreas Geisel wohl. Doch ihm selbst fehlt der Glaube, dass er als Innensenator nur noch auf Händen getragen wird. Der SPD-Mann, das merkt man, ist auf der Hut. In diesem Job ist keiner sicher, das zeigt alle politische Erfahrung.

Bisher hat Geisel aber nur einen Fehler gemacht – als er auf dem Breitscheidplatz kurz nach dem Anschlag sagte, das „alles unter Kontrolle“ sei. Da war der wahre Attentäter noch auf der Flucht. Auch Geisel wird noch lernen müssen, dass Kontrollverlust zum täglichen Geschäft der Innenpolitik gehört.

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