Dumpingpreise für Filets wegen Corona: Am Großmarkt spielen die Preise verrückt
Etwas fehlt immer in Zeiten von Corona. Nur am Berliner Großmarkt gibt es von allem zu viel, weil Abnehmer fehlen. Das Land will trotzdem seine Miete.
Erst Klopapier und Nudeln, Mehl und Hefe. Oft auch Obst und Gemüse. Irgendwas fehlt immer, seit das Virus Berlin im Griff hat und die Angst vor der Pandemie die Menschen. Warum Himbeeren im Edeka an der Mecklenburgischen Straße in Wilmersdorf fehlen? „Die waren aus im Zentrallager“, sagt der Verkäufer und zuckt mit den Schultern.
Die Berliner kaufen und horten. Dabei gibt es von allem genug. Erst recht hier, in Moabit, im Berliner Großmarkt.
Der Virus, Hysterie und feste Claims im Handel
Zwischen den Lagerhallen der Berliner Hafengesellschaft und der Spree ist zu erleben, wie das Virus, der Shutdown, die menschliche Hysterie und fest verteilte Ansprüche und Vorrechte im Handel der Hauptstadt das fein austarierte Räderwerk der Wirtschaft stören, gefährden. Existenzbedrohend für die Händler am Berliner Großmarkt.
5.27 Uhr, Beusselstraße, Berlin–Moabit. Ein zwölf Tonnen schwerer Lkw aus Cottbus biegt von der Autobahn auf den Zubringer des Berliner Großmarktes ab. Er reiht sich ein in die Kolonne der Lieferwagen, die sich am Wärterhäuschen vorbeischiebt.
[Alle wichtigen Updates des Tages zum Coronavirus finden Sie im kostenlosen Tagesspiegel-Newsletter "Fragen des Tages". Dazu die wichtigsten Nachrichten, Leseempfehlungen und Debatten. Zur Anmeldung geht es hier.]
Links geht es ab zum Fruchthof, geradeaus zum Blumenmarkt, weiter hinten sind Fleisch- und Fisch-Großhändler. In zwei Dutzend Hallen und Containern gibt es rund 300 Firmen – und alles im Überfluss. Auch das, was in den Auslagen der Supermärkte und anderswo fehlt. Aber ausgerechnet das wird zum Problem.
Der weiße Lkw hat das Verwaltungsgebäude des Großmarktes umkurvt. Im Rückwärtsgang steuert er eines der Rolltore aus Stahl an, die bis unters Dach der Halle reichen, und fährt die Ladeklappe aus. Nun können Gabelstapler die schweren Paletten voll mit frischem Obst, Gemüse und Molkereiprodukten in den Tiefen des Wagens abladen, der die Ware später in der Stadt verteilt.
Händler in vierter Generation - aber so etwas erlebte noch keiner
Mit der Fuhre, die einer seiner Angestellten vom Großmarkt in die Stadt fahren wird, wird Björn Weihe seine Sorgen nicht los. In vierter Generation steuert er zwei Firmen. Und jetzt durch eine Krise, bei deren Bewältigung der Rat der Eltern wenig hilft. Niemand erinnert sich, jemals zuvor einen derartigen Einschnitt erlebt zu haben, der Mangel und Überfluss zugleich erzeugt, leere Regale in den Läden und eingestampfte Waren bei Lieferanten und Großhändlern.
„Auch wenn die großen Vier uns mehr abnehmen würden, Großpackungen mit fünf Litern Schmand kauft niemand“, sagt Weihe. Die gehen sonst an Kantinen, Mensen, Großküchen, Gaststätten, Schulen und Kitas – aber die sind alle zu. Bei den „vier Großen“ – Rewe, Edeka, Lidl und Aldi – gibt es trotz Hamsterkäufen keine Abnehmer dafür. Joghurt oder Schmand halten ein paar Tage, vielleicht eine Woche.
[Wie wirkt sich die die Corona-Krise in Ihrem Kiez aus? In unseren Leute-Newslettern berichten wir wöchentlich aus den zwölf Berliner Bezirken. Die Newsletter können Sie hier kostenlos bestellen: leute.tagesspiegel.de]
Deshalb tickt die Zeit jetzt für Weihe im Rhythmus der „Mindesthaltbarkeit“ von Molkereiprodukten. Nicht einmal die „Tafel“, die weiter hinten in den Hallen Carepakete für Bedürftige schnürt, will solche Großpackungen haben.
„Schlimmstenfalls bleibt nur Entsorgung“, sagt der schlanke Mann mit dem Borstenhaarschnitt und schüttelt den Kopf. Aber weggeworfen wird nur im äußersten Fall. Vorher tut Weihe seinen Mitarbeitern „wenigstens etwas Gutes“ in der Not: Was nicht verkauft wird aus dem Sortiment von Molkereiprodukten, Feinkost, Obst und Gemüse, dürfen sie nach Dienstschluss umsonst mitnehmen – für sich und ihre Freunde.
Zu viel Unverkäufliches hier, keine Himbeeren dort – wie kann das sein? „Der Einzelhandel in der Stadt ist in Claims aufgeteilt“, sagt der Chef der „Fruchthof“-Genossenschaft am Großmarkt, Dieter Krauß, ein schlanker, hoch aufgeschossener Mann mit vollem silberfarbenem Haar. „Seine“ 29 Firmen beschäftigen rund 1000 Mitarbeiter und schlagen jährlich 220 000 Tonnen Waren um in der Beusselstraße. Ein Viertel der Verkaufshallen und Lagerflächen am Großmarkt hat Krauß gepachtet und vermietet Teilflächen an seine Mitglieder weiter.
[Behalten Sie den Überblick: Jeden Morgen ab 6 Uhr berichten Chefredakteur Lorenz Maroldt und sein Team im Tagesspiegel-Newsletter Checkpoint über die aktuellsten Entwicklungen rund um das Coronavirus. Jetzt kostenlos anmelden: checkpoint.tagesspiegel.de.]
Krauß sagt, die vier Lebensmitteldiscounter haben ihre eigenen Hallen und Lieferketten, die teilweise bis zum Bauern reichen. Die brauchen den Großmarkt eigentlich nicht. „Einige Rewaner oder Edekaner haben zuletzt trotzdem mal hier eingekauft. Aber das kompensiert nicht annähernd die Einbußen wegen der geschlossenen Küchen, Kantinen und Restaurants.“ 80 Prozent des Umsatzes seien weggebrochen. Nun suchen die Händler nach Alternativen, überlassen Fahrer und Wagen Firmen, die noch im Geschäft sind, oder suchen Marktlücken.
In der Halle umkurven die Gabelstapler mit halb gefüllten Paletten Händler und Besucher. Ein Paar mittleren Alters trägt einen Korb mit Obst weg von „Früchte Franz“ und schmunzelt über die fette Beute. „Auf Facebook und Instagram hat meine Tochter dieses Angebot gepostet“, sagt Geschäftsführer Thomas Franz. In seiner Not verkauft er Kartons mit gemischtem Obst für 20 Euro an jeden, der mag. „Das geht zum Einkaufspreis raus, 20 Euro kostet allein schon die Ware“, sagt er. Aber so kämpft er wenigstens gegen das Verderben – und baut seine Bestände unverkäuflichen Obstes ab.
Er schnürt Pakete - zum Warenpreis
7000 Euro seien in den Kassen von „Früchte Franz“ in den vergangenen zwei Wochen gewesen – statt 30.000 Euro am Tag vor Beginn der Krise. Dieser Einzelverkauf an Endkunden ist am Großmarkt üblicherweise nicht erlaubt. Der Senat hob das Verbot auf und stundet die Miete für alle Händler. „20 Kilometer weiter, in Brandenburg, gibt es 50.000 Euro Zuwendung, nicht rückzahlbar“, sagt Franz – „für uns in Berlin gibt es nichts, obwohl wir immer gezahlt haben, Gewerbesteuern, seit 70 Jahren.“
Keine Hilfe, nirgends? Durch die knallblaue Stahltür eines schmucklosen Verwaltungsbaus aus den 1960er Jahren gelangt man zu Mandy Bahr. Sie ist Prokuristin der Berliner Großmarkt GmbH. Das landeseigene Unternehmen vermietet die Hallen an die Händler. Bahr sitzt in pandemiegerechtem Abstand am Ende eines langen Konferenztisches. „Wir stunden die Miete zinslos“, sagt sie. Die Händler können also später zahlen, verzichten will Berlin auf seine Miete aber nicht.
Was nützen Kredite - Mieterlass bräuchten die Händler
Hilfskredite der öffentlichen Förderbanken müssten die Händler also aufnehmen, um ihre Mieten zu zahlen. Dass viele das ablehnen, versteht Bahr: „Das schiebt das Problem nur auf. Die können ja die Erdbeeren nicht im Herbst verkaufen, für die sie heute keine Kunden haben.“ Und das ausgerechnet jetzt, wo die Saison für das regionale Obst und Gemüse beginnt, mit Spargel, Erdbeeren und im Sommer Äpfel und Birnen.
Die Forderungen der Händler, dass der Landesbetrieb ihnen wenigstens die Miete erlässt, solange ihre Abnehmer auf Anweisung der Landesregierung schließen müssen, könne sie nicht ohne Zustimmung ihres Gesellschafters erfüllen, des Landes Berlin, sagt Bahr.
Die Aufsicht über die Großmarkt GmbH haben zwei Senatsressorts. Das eine ist die Wirtschaftsverwaltung. Sprecherin Svenja Fritz sagt: „Wir stunden die Mieten, es gibt keine coronabedingten Kündigungen bei Nichtzahlung der Miete und wir setzen uns dafür ein, dass die Senatsverwaltung für Finanzen auch einen Mieterlass zulässt.“
[In unseren Leute-Newslettern berichten wir wöchentlich aus den zwölf Berliner Bezirken. Die Newsletter können Sie hier kostenlos bestellen: leute.tagesspiegel.de]
Das aber will wiederum die Senatsverwaltung für Finanzen nicht auf sich sitzen lassen: „Es ist sicher nicht Aufgabe des Senats, sich in das operative Geschäft des Großmarkts einzumischen“ – dafür sei die Geschäftsführung zuständig. Womit die Verantwortung wieder zurückgeschoben wäre auf den Berliner Großmarkt. Aber kann die Chefin einer kleinen Firma wirklich ohne Zustimmung ihres Eigners beschließen, auf ihre einzige Einnahmequelle zu verzichten?
Dass der Senat den Verkauf von Großmarktware an Endverbraucher vorübergehend gestattet, ist keine große Hilfe: „Damit würden wir die Existenzgrundlage unserer eigenen Kunden auf Wochenmärkten zerstören“, sagt Gürsel Ülber von der Firma „Sade Gewürze“. Sein Büro liegt im ersten Stock eines mit Container-Blechen verkleideten Lagerhauses. An der Wand hängt eine Urkunde des Agrartechnikers und Vorstands beim „Verein türkischer Dönerhersteller in Europa“, der 35 Berliner Döner-Hersteller vertritt.
Ülbers größte Sorge ist: „Die Preise am Markt spielen verrückt, es ist wie an den Börsen, nichts lässt sich mehr sicher vorhersagen.“ Und er erzählt Wundersames über die Kapriolen des Lebensmittelmarktes unter dem Einfluss der Corona-Pandemie. „Rinderfilets und Entrecotes gibt es zurzeit haufenweise, deshalb sind die billig wie nie.“ Ausgerechnet die besten Stücke des Rindes? Ja, weil die Restaurants geschlossen sind und als Abnehmer ausfallen. Und in den Supermärkten greifen die Kunden weniger zu diesen teuren Stücken.
„Edel-Rinderfilet bekommen Sie für 18 Euro je Kilo, dafür habe ich selbst 27 Euro bezahlt vor einem Monat“, sagt auch Jürgen Wache, Gründer der „Hauptstadtfleischerei Wache“. Auch Roastbeef oder Rib-Eye-Steak und sogar Scampis, Gambas und Hummer gibt es in der Krise zum Dumpingpreis. Damit die Rechnung der Züchter noch halbwegs aufgeht, müssen diese ihren Verlust beim edlen Fleisch durch Aufschlag bei anderen Stücken kompensieren, die unter normalen Marktbedingungen günstig sind: Schulter, Nacken oder Oberschalen.
So sind die Preise für Fleisch insgesamt ähnlich wie für Obst laut Statistischem Bundesamt um 8,8 Prozent im März gestiegen. Die Berliner Großmärkte dringen nicht in die Lieferketten der Supermarktkonzerne ein, um mit ihren überschüssigen Waren deren Mangel wenigstens regional zu kompensieren. Weil deren Umsätze in der Krise eher noch wachsen, sind die großen Vier nicht gezwungen, gegen das „verknappte Angebot“ in Regalen und steigende Preise vorzugehen. Beim Verbraucher kommen die Dumpingpreise daher größtenteils nicht an.
Sogar der Döner-Absatz steckt in der Krise
Die Krise hat auch Berlins berühmtestes Fleischprodukt erreicht: den Döner. „Die Imbissbuden kaufen nur noch 10-Kilo-Spieße statt 50 Kilo“, sagt Ülber. Auch sie haben weniger Kunden, weil die Berliner zu Hause bleiben und die Einkaufsmeilen verwaist sind. Deshalb stapeln sich die 50-Kilo-Spieße in den Lagern.
Auch „das löst eine Kettenreaktion aus“, sagt er. Kälber, aus denen rund 60 Prozent der ausgelieferten Döner-Spieße bestehen, dürfen höchstens acht Monate alt sein. Weil die Nachfrage fehlt, haben die Züchter Schwierigkeiten, ihre Jungtiere zu verkaufen. Und auch hier drohen Verluste, weil der Markt das „Jungrind“ für weniger Geld handelt als das Kalb.
Wo genau die Kosten der Krise abgeladen werden, ist noch nicht ausgemacht: denn auch Schlachthöfe sind betroffen, weil feste Verträge mit den Züchtern sie Monate im Voraus auf Abnahmemengen festlegen. „Fast alle frieren Ware ein, um sie nicht entsorgen zu müssen“, sagt Ülber. Und dann legt der Mann sein Handy auf den Tisch, zeigt auf die Website der Förderbank: „Die Soforthilfe war am ersten Tag ausgeschöpft.“ Viele Mittelständler wie er hätten mit der Beantragung gezögert – und seien deshalb erst mal leer ausgegangen.
Immerhin zog das Geschäft in der Woche vor Ostern wieder etwas an. Die Supermärkte, die Fleischereien vom Großmarkt auch beliefern, sind offen.
Es bleibe aber, und „das ist das Schlimmste: die Unsicherheit“. Gehen die Hamsterkäufe wieder los? Welches Fleisch verliert oder gewinnt plötzlich an Wert? Die Berechenbarkeit des Marktes, die Routine, sie sind komplett weg in der Krise. Niemand weiß mehr, wie viel er, wovon er einkaufen kann, ohne auf der Ware sitzen zu bleiben. „Und das bei einer Mindesthaltbarkeit von sieben Tagen.“
Draußen vor der Tür hat die Frühlingssonne die Halle in tiefes Gelb getaucht. Eine Frau steht vor der geöffneten Heckklappe ihres SUV. Sie greift nach einer Tüte Spargel und ein paar Schalen Erdbeeren von den ausgefahrenen Armen eines Gabelstaplers und legt sie in den Kofferraum ihres Wagens. „Guter Fang“, sagt ihr Mann.
- bbbbbb
- Brandenburg neu entdecken
- Charlottenburg-Wilmersdorf
- Content Management Systeme
- Das wird ein ganz heißes Eisen
- Deutscher Filmpreis
- Die schönsten Radtouren in Berlin und Brandenburg
- Diversity
- Friedrichshain-Kreuzberg
- Lichtenberg
- Nachhaltigkeit
- Neukölln
- Pankow
- Reinickendorf
- Schweden
- Spandau
- Steglitz-Zehlendorf
- Tempelhof-Schöneberg
- VERERBEN & STIFTEN 2022
- Zukunft der Mobilität