Erster Marathon unter zwei Stunden: 1:59 - wie der schnellste Mann der Welt einen Fabelrekord aufstellen will
Dem kenianischen Läufer Eliud Kipchoge soll in Wien das Unmögliche gelingen. Das Projekt kostet Millionen - aber was hat es noch mit Sport zu tun?
Die vier Männer laufen in schweigender Konzentration, nur ihre neongrünen Turnschuhe rascheln durch das Laub der Kastanienbäume. Eliud Kipchoge läuft vorneweg, er atmet gleichmäßig, sein Schritt wirkt leichtfüßig und gleichzeitig kraftvoll, die dünnen Beine tragen ihn scheinbar mühelos voran. Die Sonne über Wien ist an diesem Mittwochmorgen gerade erst aufgegangen, der Prater-Park liegt im Halbdunkel, noch geht es um nichts, ein lockeres Morgentraining. Drei Tage noch, dann soll es um alles gehen.
Die vier Läufer passieren Absperrgitter, Lastwagen, Baumaschinen. Auf dem Asphalt der Prater-Hauptallee ist mit oranger Farbe eine Ideallinie aufgemalt, am Rand der Straße sind in Grün kryptische Markierungen auf den Boden gesprüht, Zahlen und Buchstaben. Weiter vorne, wo Kipchoge an diesem Samstag ins Ziel laufen soll, ist ein Teil der Straße abgesperrt. In der Nacht haben Bauarbeiter die oberste Schicht des Asphalts weggefräst, die Oberflächenstruktur war ein wenig zu rau. In der nächsten Nacht wird neu asphaltiert, dann wird, dann muss alles perfekt sein.
Denn es ist Perfektion, um die es hier geht. Die Hauptallee wird zur Rennstrecke umgebaut, alles muss optimal vorbereitet sein, damit Eliud Kipchoge – 34 Jahre alt, Weltmeister, Olympiasieger, Weltrekordhalter, größter Marathonläufer aller Zeiten – am Samstag Geschichte schreiben kann. Als erster Mensch will der Kenianer einen Marathon unter zwei Stunden absolvieren, eine der letzten als unüberwindbar geltenden Schallmauern des Sports durchbrechen. Kipchoge erklärt immer wieder, der erste Mensch unter zwei Stunden, das sei so etwas „wie der erste Mensch auf dem Mond“.
Für dieses Ziel und das Projekt „1:59“ geben der britische Chemiekonzern Ineos und dessen Chef Jim Ratcliffe, reichster Mann Großbritanniens, eine zweistellige Millionensumme aus. Ratcliffe leistet sich auch das Radteam, für das der Kolumbianer Egan Bernal in diesem Jahr die Tour de France gewonnen hat. Für Kipchoges Rekordversuch bezahlt das Unternehmen ein Team aus Wissenschaftlern, Trainern und Meteorologen, das seit Monaten auf diesen Tag hinarbeitet. 41 Tempomacher, Spitzenläufer aus aller Welt, sollen Kipchoge zum Rekord führen, viele von ihnen sind direkt von der Leichtathletik-WM in Katar nach Wien gereist.
Für die Menschen, die bei dem Projekt mitarbeiten, stellt der Rekordversuch einen Triumph des Fortschritts dar, die Essenz des Sports, die ultimative Zuspitzung des olympischen Mottos „höher, schneller, weiter“. Puristen des Laufsports halten das Ganze für eine Perversion, eine reine PR-Kampagne.
Während Kipchoge und seine Gefährten im Prater ihren Morgenlauf beenden, haben sich im Zielbereich Fotografen und Kameraleute versammelt. Das Projekt wird in jeder Einzelheit dokumentiert: Kipchoges Training in Kaptagat im Westen Kenias, die Anreise, die letzten Vorbereitungen in Wien. Das Rennen am Samstagmorgen, der Start ist um 8.15 Uhr, wird in 200 Ländern im Fernsehen und im Internet live übertragen.
Eliud Kipchoge wird langsamer, bleibt stehen, dehnt seine Beine und Hüften. Die Kameras klicken, ein britischer Fotograf fragt, wo hier eine gute Position für einen „hero shot“ sei.
In der Welt des Laufsports ist Kipchoge spätestens seit dem 16. September 2018 ein Held, damals stellt er beim Berlin-Marathon in 2:01:39 Stunden einen neuen Weltrekord auf, mehr als eine Minute schneller als die alte Bestzeit. Olympiasieger ist er bereits zwei Jahre zuvor in Rio de Janeiro geworden, Weltmeister über 5000 Meter schon 2003.
Kipchoge wirkt mit seinen 1,67 Metern und 57 Kilogramm fast zerbrechlich, auf den wichtigen Marathonstrecken der Welt, in Berlin, London oder Chicago, hat er sich aber als unzerstörbar erwiesen.
Kipchoge ist ein leiser Held, die meiste Zeit des Jahres trainiert der Vater von drei Kindern in Kenia. Getrennt von seiner Familie lebt er mit anderen Läufern unter spartanischen Bedingungen, liest Fachliteratur über Psychologie und Motivation, spirituelle Romane von Paulo Coelho. Ein Morgenlauf, Tee und Maisbrei, ein langer Mittagsschlaf, ein Nachmittagslauf, Licht aus um 21 Uhr.
Selbst seinem Trainer ist manchmal fast unheimlich, wie diszipliniert, pünktlich und zuverlässig Kipchoge ist.
Die offiziellen Fotos sind gemacht, Kipchoge soll jetzt schnell zurück ins Hotel, bloß nicht auskühlen. Ein zufällig vorbei gekommener Hobbyläufer will vorher aber noch unbedingt ein Selfie mit dem Kenianer, Kipchoge nickt und lächelt, um seine Augen bilden sich Lachfalten. Dann macht sich die Laufgruppe im lockeren Trab auf den Rückweg.
Fans auf der ganzen Welt eifern Kipchoge nach, analysieren seinen Laufstil. Sie kennen die Namen aus dem All-Star-Team, das für Kipchoge das Tempo machen und Windschatten spenden soll: die drei Ingebrigtsen-Brüder aus Norwegen! Der fünffache Weltmeister Bernhard Lagat aus Kenia! Der 19-jährige Äthiopier Selemon Barega, der gerade erst WM-Silber gewonnen hat! Und sie kennen die Rahmendaten dessen, was Kipchoge in Wien vorhat.
Um unter zwei Stunden zu bleiben, muss er eine konstante Geschwindigkeit von 21,1 km/h halten, das entspricht 2:50,6 Minuten pro Kilometer, 42 Mal hintereinander. 185 Schritte pro Minute, eine Schrittlänge von 1,90 Meter, 22.000 Schritte bis zur Ewigkeit.
Die Zahlen sind wahnwitzig, außerhalb der Reichweite nahezu jedes anderen Athleten. Und trotzdem kann sich fast jeder Hobbyläufer mit Kipchoge identifizieren. Der britische Autor Ed Caesar, der der Jagd nach dem Marathonrekord mit seinem Buch „Two hours“ ein Denkmal gesetzt hat, nennt die Marathondistanz „demokratisch“. Jeder Läufer trete auf den 42,195 Kilometern gegen seine eigenen Grenzen an, jeder müsse Schmerz aushalten, verborgene Reserven aktivieren. „Egal, wie groß das Talent ist, wie gut die Vorbereitung“, schreibt Caesar. „Niemand läuft einen einfachen Marathon.“
Robby Ketchell ist der Mann, der es Eliud Kipchoge so einfach wie möglich machen soll. Der 37 Jahre alte US-Amerikaner sitzt müde und angespannt in der Lobby des Teamhotels, die Farbspritzer auf seiner Jeans, orange und grün, wollen nicht zum edlen Ambiente passen. Ketchell ist gelernter Mathematiker und Sportwissenschaftler, zehn Jahre lang hat er Profiradteams beraten.
In Wien ist er dafür zuständig, anhand der Wettervorhersage – niederschlagsfrei, Windgeschwindigkeit weniger als zwei Meter pro Sekunde, 5 bis 9 Grad Celsius – die perfekte Startzeit auszuwählen, die Aerodynamik der Tempomacher und die Gestaltung des Kurses zu optimieren. „Ich bin sehr optimistisch. Aber wir müssen perfekt sein. Eliud muss perfekt sein“, sagt Ketchell. „Es wird auf jede Sekunde ankommen, jedes Detail.“
Ketchell hat bereits beim ersten groß angelegten Versuch mitgearbeitet, die Zwei-Stunden-Marke zu unterbieten. Der Sportartikelhersteller Nike schickte 2017 Kipchoge und zwei andere Läufer unter dem Namen „Breaking2“ auf die Formel-1-Rennstrecke in Monza nahe Mailand, trotz ähnlich intensiver Vorbereitung und einer Investition von angeblich 30 Millionen US-Dollar verpasste Kipchoge die Fabelzeit um 25 Sekunden, die perfekte Werbung für die neueste Laufschuh-Generation – vermeintliche Leistungssteigerung: 4 Prozent, Preis pro Paar: 250 Euro – blieb aus.
Ketchell hat seine Lehren aus dem Scheitern von Monza gezogen. Mit Tests im Windkanal und in Computersimulationen hat er eine neue Formation für die Tempomacher erdacht: Jeweils sieben von ihnen werden Eliud je fünf Kilometer begleiten, fünf Männer in einem V vor ihm, zwei leicht versetzt hinter ihm. Damit niemand von der Idealposition abweicht, gibt das Führungsfahrzeug nicht nur die Geschwindigkeit vor, sondern projiziert auch mit einem grünen Laser ein Raster auf den Asphalt.
Mit dem, was Ketchell und seine Kollegen erdacht haben, verstoßen sie gegen eine Reihe von Regeln des Leichtathletik-Weltverbands IAAF. Für einen offiziellen Weltrekord schreibt die IAAF einen Rundkurs vor, ein größeres Läuferfeld und feste Verpflegungsstationen. Wechselnde Tempomacher sind verboten.
Eliud Kipchoge sagt, den offiziellen Weltrekord halte er ohnehin schon, darum gehe es auch gar nicht. „Ich will Geschichte schreiben, der Nachwelt etwas hinterlassen, andere Menschen inspirieren.“ Als Analogie führt das Ineos-Team gerne die Erstbesteigung des Mount Everest an: Würde Sir Edmund Hillary heute etwa vorgeworfen, dass er 1953 auf dem Weg zum Gipfel die Unterstützung von Sherpas und Sauerstoffflaschen hatte?
Dass die Wahl der Organisatoren auf Wien gefallen ist, hat viel mit der Hauptallee im Prater zu tun. Schnurgerade und flach führt sie durch den Park, der Höhenunterschied von einem Ende zum anderen beträgt nur 1,6 Meter, die großen Kastanien schützen vor Wind, für das Rennen müssen nur wenige Straßen gesperrt werden.
In London hatte Ineos keinen optimalen Kurs gefunden, auch Berlin war im Gespräch, doch weder das Tempelhofer Feld noch die Straße des 17. Juni genügten den Ansprüchen. Am Ende war es Berlins Marathon-Chef Mark Milde, der Wien vorschlug.
Am südlichen Wendepunkt der Strecke, im engen Kreisverkehr um das historische Lusthaus, haben Bauarbeiter in der vergangenen Woche eine Art Steilkurve errichtet. Der Neigungswinkel beträgt etwa ein Prozent und ist mit bloßem Auge kaum zu erkennen. Robby Ketchell hat fünf Monate lang verschiedene Modelle durchgerechnet, immer wieder. Jetzt ist er überzeugt, dass die Steilkurve Kipchoge zwölf Sekunden bringen wird.
Fünf Wetterstationen, die seit dem Sommer im Prater Wind, Luftfeuchtigkeit und Temperaturen aufzeichnen. Ein elektronisches Führungsfahrzeug mit Spezialtempomat. Ein Chip in Kipchoges Schuh, der jedes Training der vergangenen drei Jahre aufgezeichnet hat. 1,2 Kilometer neuer Asphalt auf der Hauptallee. Eigens entwickelte magenschonende Energiegetränke. Perfekte Witterung, kein Gegner außer die Zeit.
Was kann da noch schief gehen? „Man darf nicht vergessen, dass in dem Projekt überall das menschliche Element steckt“, sagt Ketchell und wirkt nicht mehr ganz so optimistisch. „Wir müssen auf alles vorbereitet sein.“
Schon ein Schnupfen könnte das Unterfangen gefährden, die Millionen wären verpulvert. Kipchoge hat wahrscheinlich nur noch diese Chance. Welcher Sponsor wird wieder viel Geld aufbringen? Nächstes Jahr will Kipchoge noch einmal Olympiagold holen, kurz darauf wird er 36 Jahre alt. Auch Wunderläufer kommen irgendwann in ein Alter, in dem sie langsamer werden.
In der Hotellobby riecht es nach Krankenhaus, am Empfang steht eine große Flasche Desinfektionsgel bereit. Um das Übertragungsrisiko von Infektionen zu minimieren, schütteln sich die Ineos-Mitarbeiter nicht die Hände. Auch die Tempomacher, die jetzt ihre Ausrüstung einsammeln – schwarze „Ineos“-Leibchen, knallrosa Laufschuhe – begrüßen sich, indem sie kurz die Fäuste gegeneinander stoßen. Schilder an einer Pinnwand weisen darauf hin, wie wichtig es ist, sich regelmäßig die Hände zu waschen und den Toilettendeckel vor dem Spülen zu schließen.
Daneben hängt die Liste mit den Terminen für die Dopingproben: Am Donnerstag und am Samstag werden Kipchoge und alle Tempomacher getestet. Alle Zweifel werden auch diese Tests nicht ausräumen können – wer in der Leichtathletik Außergewöhnliches leistet, steht automatisch unter Verdacht. Für Kipchoge spricht, dass er seine Leistungen kontinuierlich gesteigert hat, auf unterschiedlich langen Strecken erfolgreich war und seit Jahren auf konstant hohem Niveau läuft.
Blutprofile von Kipchoge gibt es seit 2001, auch Jos Hermens begleitet den Kenianer schon so lange. Der 69 Jahre alte Niederländer hat schon viele afrikanische Läufer als Manager betreut, einige hat er reich und berühmt gemacht. Als junger Läufer stellte Hermens selbst einen Weltrekord auf, für die weiteste in einer Stunde zurückgelegte Strecke. „20.944 Meter, am 1. Mai 1976“, sagt er und grinst stolz. Vom Zwei-Stunden-Marathon träumt er schon lange.
Robby Ketchell hetzt durch die Lobby, Hermens springt auf, Faust gegen Faust, Ketchell hetzt weiter. „Das ist ein Verrückter“, sagt Hermens anerkennend. „Wir brauchen Verrückte.“
Hermens kennt die Kritik der Traditionalisten. Er ist selber irgendwie Traditionalist, schwärmt davon, wie der Äthiopier Abebe Bikila 1960 barfuß zu Olympiagold im Marathon lief, die Tempomacher nennt er „Hasen“. Die Kritik an dem 1:59-Projekt sei okay, sagt Hermens. „Aber wer bestimmt denn, was Sport ist?“
Die Leichtathletik sei eine altmodische Sportart, das habe man doch gerade erst wieder bei der WM in Doha gesehen, wo „alte Männer mit weißen und roten Fahnen“ über die Gültigkeit von Weitsprungversuchen entschieden hätten. „Ich bin selber ein alter Mann“, sagt Hermens und wuschelt sich demonstrativ durch die weißen Haare. „Aber das bedeutet doch nicht, dass ich nichts Neues mehr ausprobieren will.“ Bereits der Versuch, 1:59 zu laufen, eröffne doch für Läufer auf der ganzen Welt einen ganz neuen Horizont.
An diesen Effekt glaubt auch Eliud Kipchoge. 22.000 kleine Schritte für ihn, ein Riesensprung für die Menschheit.
Lars Spannagel