Südafrika: Mythos Madiba
Vor einem Jahr starb Nelson Mandela. Die sichtbaren Spuren seines Lebens in Südafrika werden sorgfältig gepflegt.
Der alte Mann hat unterm gestreiften Hemd einen sympathischen Bauch, trägt Baseballkappe und eckige Brille. Seine Hände zittern. Wenn er aufgeregt ist und viele Zuhörer hat, so wie jetzt, dann stottert er auch ein wenig. Er ist es wohl selbst nach vielen Jahren immer noch nicht gewohnt, dass ihm Besucher ehrfürchtig an den Lippen hängen, aber leider nicht so recht wissen, wie sie umgehen sollen mit einem ehemaligen politischen Gefangenen, der inzwischen den Fremdenführer gibt. Vermutlich macht Sipho Nkosi deshalb zur Begrüßung diesen Witz. Er hat seine Zeit im Knast nur dank einer guten Prise Sarkasmus überstanden, und so ist er alleine mit seinem Lachen. „Willkommen auf Robben Island!“, ruft er. „Genießen Sie! Denn Sie werden diesen Ort nicht mehr lebend verlassen.“
So haben ihn schließlich auch die sadistischen Wärter einst begrüßt, vor bald 30 Jahren, als sie ihn als Häftling Nummer 78/86 in Obhut nahmen. Heute führt Sipho Nkosi fast im Halbstundentakt Touristen durch den mit meterhohen Mauern, Stacheldraht und Wachtürmen abgeschirmten Hochsicherheitstrakt des Ortes, an dem Südafrikas Rassisten einst ihre politischen Gegner verschwinden ließen. „Sie haben uns erst unsere Kleidung weggenommen und dann unseren Namen: Die Demütigungen hatten System“, erzählt er.
Im Steinbruch schwitzen wie die Gefangenen der frühen Jahre musste der Aktivist des African National Congress (ANC) zwar nicht mehr, und auch die erniedrigenden Unterschiede bei den ohnehin kargen Essensrationen (indische „Kulis“ bekamen deutlich mehr als schwarze „Kaffer“) waren schon abgeschafft. Die fünf Jahre, die Sipho Nkosi bis zum Ende der Apartheid absitzen musste (ursprünglich hatte man ihn zu 17 Jahren Gefängnis verurteilt), waren trotzdem die weitaus schlimmsten seines Lebens.
Alle nannten ihn Madiba, der Versöhner
Vielleicht könnte der Ex-Häftling mehr erzählen vom Schrecken der Insel, von der Verzweiflung der Insassen, und natürlich von dem Mann, der ihnen allen Hoffnung gegeben hat. Doch dafür bleibt keine Zeit. Zackzack, es geht weiter im straffen Besichtigungsprogramm: Erst die Gemeinschaftsräume, dann der kahle Innenhof, schließlich die Einzelzellen der Isolierstation. Nur ein paar Sekunden hat man für den Blick auf die gerade einmal vier Quadratmeter, auf denen der berühmte Gefangene Nummer 466/64 hausen musste. Eine Matte und ein paar Filzdecken liegen auf dem blanken Betonboden, der Blecheimer war die Toilette, ein Holzschemel steht unter dem vergitterten Fenster. 27 Jahre lang verbrachte Nelson Mandela im Gefängnis, 18 Jahre davon genau hier. Wer verweilen will, wird weitergescheucht: Die nächste Gruppe wartet schon.
Trotz der kitschigen Mandela-Souvenirläden an der Waterfront von Kapstadt und dem Zeitdruck auf der Insel, wo Besucher in klimatisierten Bussen herumgekarrt werden und nur selten aussteigen dürfen: An Robben Island kommt nicht vorbei, wer auf Nelson Mandelas Spuren durch Südafrika wandelt. Das Eiland in Sichtweite des Tafelbergs ist Unesco-Welterbe und der bedeutendste Erinnerungsort des Landes. In der winzigen Zelle des Hochsicherheitstrakts liegt der Schlüssel zum Charakter des Friedensnobelpreisträgers. Hier, wo andere immer nur Rache geschworen hätten, fand er die Kraft zu vergeben. Fortan riefen ihn alle nur noch mit dem Namen seines Clans: Madiba, der Versöhner. Als er aus dem Drakenstein Correctional Centre im Hinterland Kapstadts in die Freiheit entlassen wurde, tat er das mit gereckter Faust und einem feinen Lächeln. Inzwischen erinnert eine Statue an den historischen Moment im Februar 1990.
Mandelas langer Weg zur Freiheit begann schon viel früher. Um das System zu verstehen, gegen das er kämpfte, hilft die Besichtigung des Johannesburger Apartheid-Museums. Hier wird der Besucher schon mit dem Kauf der Eintrittskarte kategorisiert in Schwarz und Weiß, so wie einst die ganze Bevölkerung Südafrikas, und lauscht dann den aufgezeichneten Erläuterungen der National-Party-Politiker, die das menschenverachtende Konzept der Rassentrennung in blumigen Worten rechtfertigen.
Eastern Cape wirkt wie das alte Afrika
Um die Ecke, im Stadtteil Orlando West von Soweto, steht in der Vilakazi Street noch das rote Backsteinhaus, in das Mandela 1946 mit seiner ersten Frau einzog und in dem er nach der Scheidung auch mit seiner zweiten Frau Winnie lebte. In der Fox Street von Johannesburg, damals ein Gebiet für „non-whites“, führte er mit Oliver Tambo die erste schwarze Anwaltskanzlei des Landes, um jenen Landsleuten zu helfen, die mit den diskriminierenden „Passbuchgesetzen“ in Konflikt gekommen waren.
Als „Gärtner David Motsamayi“ versteckte er sich später auf der Farm Liliesleaf im Vorort Rivonia. 1962 wurde der Freiheitskämpfer dann in den Midlands von Kwazulu-Natal von der Polizei verhaftet und kam nach einem bewegenden Prozess ins Gefängnis. Ein kleines Museum und ein spektakuläres Kunstwerk markieren diesen Ort im ländlichen Nirgendwo: 50 schwarz lackierte Stahlstangen wurden so arrangiert, dass sie ein riesiges Konterfei Nelson Mandelas ergeben.
Begonnen hatte Mandelas Reise am 18. Juli 1918 in der damaligen Transkei, und mit seinem Tod ist er zurückgekehrt ins Land seiner Ahnen. Noch immer wirkt die Region um die Stadt Mthatha im Eastern Cape wie das alte Afrika aus dem Bilderbuch: Rundhütten liegen vereinzelt auf grünen Hügeln, Rinder trödeln auf der Straße, Kinder toben mit selbstgebasteltem Spielzeug über die Felder. Als er wenige Jahre alt war, zog Nelson Mandelas Familie ins Dorf Qunu, und vieles von dem, was er in seiner Autobiografie beschreibt, findet der Suchende hier noch immer.
Die einfache Steinkirche, in der er getauft wurde. Den Felsen, den er und seine Freunde so lange herunterrutschten, bis sich eine Rinne bildete. Die Ruinen der Schule, in der ihm eine Lehrerin seinen englischen Namen gab. Hier hütete er das Vieh, hier übte er sich im Stockkampf, hier wurde er am Hof des Regenten von Thembuland in Mqhekezweni zum Mann initiiert. Das Rondavel, in dem er viele Jahre verbrachte, ist inzwischen in grellem Türkis gestrichen. Doch noch heute kann man unter den mächtigen Eukalyptusbäumen sitzen, unter denen Nelson Rolihlahla Mandela einst Streit schlichtete.
Er ist mein Großvater
In Qunu sehen sie Mandela nicht aus kritischer Distanz, dazu ist er ein Jahr nach seinem Tod noch viel zu präsent in der Erinnerung. Doch wer auf dem Hügel über dem Dorf durch die Räume des Nelson Mandela Youth and Heritage Center schlendert, lernt irgendwann einen Guide in Jeansjacke und beigefarbener Hose kennen, der sich mit dem Vornamen Nyamelo vorstellt. „Madiba ist auch deshalb ein Vorbild, weil er aus seinen Fehlern gelernt und die Fehler anderer bewusst vermieden hat“, sagt der 45-Jährige. „Er ist zum Beispiel am Ende seiner ersten Amtszeit zurückgetreten, nach nur fünf Jahren. Andere Präsidenten glauben ja, sie könnten ihr ganzes Leben lang bleiben – so wie Robert Mugabe in Simbabwe.“
Die Ausstellung in Qunu schließt mit einem überdimensionalen Porträtfoto von Nelson Mandela. Vielleicht ist es ja nur ein Zufall, doch Nyamelos Gesichtszüge ähneln denen von Madiba. Wer den Guide also vorsichtig fragt, ob er Mandela eventuell persönlich gekannt habe, erntet ein amüsiertes Lächeln. „Natürlich – er ist mein Großvater.“ Zwar nicht nach europäischem, aber nach afrikanischem Verständnis: Nelson Mandelas Vater hatte neben der Mutter des späteren Nobelpreisträgers noch weitere Frauen, und Nyamelo – der deswegen auch den Familiennamen Mandela trägt – entstammt als Urenkel dieser Seitenlinie.
„Als Heranwachsender habe ich Madiba leider nicht kennengelernt: Damals war er noch im Gefängnis, und im Dorf wurde aus Angst vor Spitzeln nur selten, höchstens hinter vorgehaltener Hand von ihm erzählt“, erzählt Nyamelo Mandela. Auch in seiner Zeit als Staatspräsident habe Nelson Mandela kaum Zeit für sich und die Familie gehabt. Doch in den letzten Lebensjahren war dann nicht mehr das Haus im Johannesburger Stadtteil Houghton, sondern das Gehöft in Qunu sein wahres Zuhause. „Er genoss es, ganz leger im Trainingsanzug durch den Ort zu gehen und mit den Menschen zu reden. Vor allem die Kinder lagen ihm am Herzen: Er hat sie immer ermutigt, in der Schule gute Leistungen abzuliefern.“
Sie wollen Mandela nicht zum Heiligen machen
So wollte Mandela am Ende seiner Tage in Qunu begraben werden und nicht einen strammen Marsch entfernt in seinem Geburtsort Mvezo. In dem Dorf oberhalb des Mbashe River residiert inzwischen Enkel Mandla Mandela, ein gut vernetzter ANC-Abgeordneter und traditioneller Xhosa-Chief. Eine aufwendig gepflasterte neue Straße führt kilometerweit vom Highway N 2 bis kurz vor seine Residenz, und mit staatlicher Förderung wurde hier jüngst ein neues Mandela-Museum errichtet.
Es steht leer: Am Ort weiß niemand, wann es eröffnet und was dort eines Tages möglicherweise gezeigt werden könnte. Auf die Hilfe der anderen Familienmitglieder kann Mandla Mandela wohl nicht hoffen: Sie klagten ihn vor Gericht an, weil er nur Monate vor Nelson Mandelas Tod die Gebeine von dessen Kindern exhumiert hatte, um sie nach Mvezo zu bringen. Inzwischen sind sie wieder zurück in Qunu, wo sie hingehören, und liegen neben Nelson Mandela.
Das Grab des Freiheitskämpfers und seiner Kinder liegt an einem Hügel oberhalb seines rosarot gestrichenen Anwesens, und man darf es bislang nur aus der Ferne sehen. Im Ort selbst aber findet man den alten Friedhof mit den Grabsteinen der Familie.
Um die Ecke liegt auch ein simples Backsteinhaus: „Mandela hat es an genau der Stelle errichten lassen, an der einst die Hütte seiner Eltern stand, als Erinnerung an seine einfache Kindheit“, erzählt Nokuzola Tetani, die um die Ecke wohnt. Wie viele in Qunu hat sie ihn als bescheidenen Mann kennengelernt, der sich immer für das Wohl seiner Landsleute eingesetzt hat – im Großen wie im Kleinen.
Ein Erlöser und Versöhner also, eine Heldengestalt, der Bezwinger alles Bösen? Ein Sinnbild für das Gute im Menschen, und deswegen nicht nur von schwarzen und weißen Südafrikanern, sondern in der ganzen Welt verehrt und vergöttert? „Alles richtig. Wir sollten Nelson Mandela trotzdem nicht zum Heiligen machen“, sagt Nokuzola Tetani. Sie holt tief Luft: „Er war auch einer von uns, ein einfacher Mann, durchaus nicht ohne Schwächen. Doch wir können von ihm lernen: Jetzt, da Madiba nicht mehr hier ist, müssen wir uns an seinen Taten messen lassen und seine Ideale weiter hochhalten.“