Queere Filme der Berlinale 2020: Selbsterfindung mit Sex, Schnaps und Schminke
Coming Out ist kein Drama, die Liebe schon. Junge Menschen stehen im Fokus vieler Berlinale-Filme, die sich mit LGBTQ-Themen befassen. Ein Überblick.
Der Großvater gibt seinem Enkel einen Rat: „Alle Antworten steht im Buch. Alles. Alles ist im Buch“, sagt der alte Herr, bevor er die Treppen zur Synagoge hochklettert. Mit dem Buch meint er die Thora.
Doch in der nächsten Szene zieht der 17-jährige David in einer New Yorker Bibliothek etwas ganz anderes aus dem Regal: „Giovanni’s Room“ von James Baldwin. Der Roman über einen jungen Amerikaner, der in Paris eine Beziehung zu einem italienischen Barkeeper beginnt, hat eindeutig mehr Antworten für ihn parat als die heilige Schrift.
Jüdisches Seniorenwohnhaus und schwule Bars
David hat gesehen, wie der Barmann eines Schwulen-Clubs darin las. Später wird er mit dem Buch und dem Mann im Bett landen.
Angenehm unaufgeregt erzählt Eric Steels in fahlen Winterfarben gehaltenes Spielfilmdebüt „Minyan“, wie der Sohn einer russisch-jüdischen Einwandererfamilie Mitte der achtziger Jahre seine Sexualität entdeckt, ohne dabei die Verbindung zu seiner Gemeinschaft zu verlieren. So ist er stets zur Stelle, um bei kleinen Gottesdiensten das Quorum von zehn Gläubigen zu erfüllen – den titelgebenden Minjan.
Im Spannungsfeld zwischen dem jüdischen Seniorenwohnhaus seines Großvaters, wo die Erinnerung an die Schoah stets präsent ist, und der Schwulen-Szene im East Village, wo die Aids-Epidemie ihre ersten Schatten wirft, navigiert David mit einer ruhigen Selbstverständlichkeit. Steel spielt die beiden Welten nicht gegeneinander aus, lässt sie nicht klischeemäßig aufeinanderprallen. David muss sich auch nicht entscheiden. Und er versteht, dass es durchaus Verbindungslinien gibt.
„Minyan“ gehört zu den 20 Langfilmen, die um den Teddy Award für den besten queeren Berlinale-Film konkurrieren. Ihre traditionelle Heimat ist das Panorama, wo mit zehn Filmen auch diesmal die meisten queeren Werke zu sehen sind. Das Panorama steht in diesem Jahr erstmals unter der alleinigen Leitung von Michael Stütz. Er tritt damit das Erbe von Teddy-Erfinder Wieland Speck an, was ihm – wie er im Gespräch lachend zugibt – einige schlaflose Nächte bereitet hat. Schließlich hänge viel davon ab, welche Filme es überhaupt gebe und welche man bekommen könne.
Queere Räume in den Hinterhöfen
Es sieht nach einer viel versprechenden Auswahl aus, und gleich zur Eröffnung des Panoramas setzt „Las Mil y Una“ einen regenbogenfarbenen Akzent. Angesiedelt in einem argentinischen Sozialbauviertel erzählt Regisserin Clarisa Navas von jungen Queers, die sich in den Hinterhöfen ihre eigenen Räume erschaffen. Im Zentrum dieses in langen oft nächtlichen Einstellungen gedrehten Dramas steht die Annäherung der 17-jährigen Schulabrecherin Iris und der nach einigen Jahren im Ausland ins Viertel zurückgekehrten Renata, über die allerlei wilde Geschichten im Viertel kursieren.
Haarfärbemittel und Handykameras
Wie „Minyan“ und „Las Mil y Una“ legen in diesem Jahr viele queere Werke den Fokus auf junge Menschen. Die Dokumentation „Always Amber“ begleitet beispielsweise den non-binären schwedischen Teenager Amber bei der Gender- und Identitätsfindung. Viel Schminke, Haarfärbemittel und Piercings kommen zum Einsatz. Diverse Social-Media-Kanäle sind offen, Handykameras eine zentrale Bildquelle für den Film.
Einen traditionelleren Stil hat der zweifache Teddy- Gewinner Sébastien Lifshitz in „Petite Fille“ bei seiner Annäherung an das achtjährige trans Mädchen Sasha gewählt. Er kombiniert Alltagsaufnahmen von ihr, mit Interviews der verständnisvollen Eltern und Szenen teils harscher Ablehnung Sashas durch ihre Umgebung.
Eine lesbische Liebe am Kottbusser Tor
Ein besonders berührender, leichtfüßiger Spielfilm ist dem 1994 in Köln geborenen Faraz Shariat mit seinem autobiografisch inspirierten Debüt „Futur Drei“ gelungen. Es erzählt von einem jungen Schwulen in Hildesheim: Als Parvis Sozialstunden in einer Unterkunft für Geflüchtete leisten muss, freundet er sich dort mit den Geschwistern Banafshe und Amon an.
Die beiden kommen aus dem Iran, genau wie die Eltern von Parvis, der nun beginnt, die Frage nach seiner Herkunft von einem neuen Blickwinkel aus zu überdenken. Auch hier gibt es wie in „Minyan“ wegen der Homosexualität des Sohnes keinen culture clash mit der Familie.
Eine lesbische Coming-of-Age- und Coming-Out-Geschichte eröffnet die Reihe 14plus der Generation: Leonie Krippendorffs „Kokon“ spielt in der Gegend um das Kottbusser Tor, wo Nora (Lena Urzendowsky) im Schatten ihrer großen Schwester unterwegs ist. Die Dinge verschieben sich, als sie Romy kennen lernt, die von Jella Haase gespielt. Sie war bereits an Krippendorffs Debüt „Looping“ (2016) beteiligt.
Ebenfalls bei 14plus läuft „Alice Júnior“ von Gil Baroni, in dem eine trans Schülerin und YouTuberin mit ihrer Familie aus einer brasilianischen Großstadt in eine kleine, konservative Ortschaft im Süden des Landes zieht. Dort ist es erstmal schwierig für Alice, doch so leicht lässt sich das selbstbewusste Mädchen nicht unterkriegen.
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Mit „Vento Seco“ geht ein weiterer brasilianischer Film ins Rennen um den Teddy, bei dem in den letzten drei Jahren stets Werke aus Südamerika die Nase vorn hatten. Auch Daniel Nolasco hat sicher gute Chancen, am 28. Februar bei der Gala in der Volksbühne eine der von Ralf König gestalteten Trophäen mit nach Hause zu nehmen. Sein Film handelt vom Fabrikarbeiter Sandro, der eine Sex-Beziehung zu einem Kollegen hat. Als ein attraktiver Mann in die Kleinstadt kommt, löst er ausschweifende Sexfantasien bei Sandro aus, die in einem visuell überbordenden Stil in Szene gesetzt werden.
Visuell ausschweifende Sexfantasien
Panorama-Chef Stütz erinnert das an Fassbinders letzten Film „Querelle“. Mit Blick auf das unter Präsident Bolsonaro immer minderheitenfeindlicher werdende gesellschaftliche Klima sieht er in dieser Explizitheit aber auch eine politische Komponente: „In Brasilien wird der Film auf keinen Fall laufen.“ In Berlin bekommt er eine Premiere im Zoo Palast 1 und damit eine der größten Festivalleinwände. Das freut auch Carlo Chatrian, den neuen künstlerischen Leiter der Berlinale. Er ist ein großer Fan von „Vento Seco“.
Mit „Rizi“ des taiwanesischen Regisseurs Tsai Ming-Liang hat Chatrain selbst einen queeren Film in den Wettbewerb eingeladen: Zwei Männer treffen sich in einem Hotelzimmer – eine Nacht, in der sie ihren Alltag vergessen, vielleicht auch ihre Einsamkeit. Nach Hongkong führt „Suk Suk“, wo zwei Großväter eine späte Liebe erleben. Regisseur Ray Yeung verdeutlicht dabei sehr anschaulich, wie schwer es für die ältere Generation ist, sich aus den traditionellen Familienbanden zu lösen – und wie groß das Glück, wenn es doch einmal gelingt.
Und wie sieht es mit dem B für wie bisexuell in LGBTQI aus? Das findet sich diesmal vor allem in den Serien. So geht es in Athina Rachel Tsangaris „Trigonometry“ um eine Londoner Dreiecksgeschichte und im dänischen Sechsteiler „Sex“ um eine Callcenter-Mitarbeiterin, die mit einem Mann zusammen ist, sich aber immer mehr zu einer Kollegin hingezogen fühlt. Alles beginnt mit einem langen Kuss nach der Arbeit.