Queeres Leben: Mein langer Weg zur glücklichen Stone Butch
Als Kind darf unsere Autorin kurze Haare tragen, in Badehose schwimmen gehen. Doch dann spürt sie: Sie wird den Erwartungen an Mädchen nicht gerecht. Es dauert lange bis sie sich so liebt, wie sie ist.
Wenn ich mit dem Wissen, das ich heute habe, auf meine Kindheit blicke, erkenne ich, dass ich wohl schon immer ein wenig anders war als andere Mädchen: Ich verhielt mich anders, machte andere Dinge, mochte andere Dinge. Ich wollte schon immer lieber wie mein älterer Bruder sein: genauso kurze Haare haben wie er, mit den Jungs Fußball spielen, im Bett Boxershorts tragen (in die ich mir gerne ein Paar Socken geschoben habe) und im Sommer mit nacktem Oberkörper herumlaufen.
Ich wollte ganz unbedingt auch Freundinnen haben – das erste Mal verknallt war ich mit fünf Jahren in Lisa, ein Mädchen aus der Nachbarschaft. Sie war zwei Jahre älter als ich und wollte immer, dass ich auf ihr liege – wir haben ein paar Monate lang nichts anderes getan: Ich legte mich auf sie, wenn sie das wollte. Ansonsten erinnere ich nicht mehr viel von dieser ersten Schwärmerei, ich weiß aber noch, dass ich allen von ihr erzählt habe und von meinen Eltern ein wenig dafür belächelt wurde – noch. In der ersten Klasse fühlte ich mich zur Deutschlehrerin hingezogen, die wunderbare große Brüste hatte – und ich tat alles dafür, möglichst häufig bei oder neben ihr zu stehen. Selbst, wenn das bedeutete, dass ich ab und an meine Hausaufgaben vergessen musste.
Lange merkte ich nicht, dass ich anders bin
Wenn ich als erwachsene Frau auf dieses Kind, das ich war, zurück blicke, erkenne ich natürlich in Vielem erste Anzeichen für meine heutige Sexualität – als Kind selbst aber habe ich lange nicht gemerkt, dass ich nicht bin wie die meisten anderen Mädchen. Aufgewachsen bin ich in den neunziger Jahren, in einem Vorort einer norddeutschen Stadt. Dort durfte ich die ersten Jahre meines Lebens all das tun, was ich gerne wollte: meine Haare kurz tragen, mit der Badehose meines Bruders ins Schwimmbad gehen, in unserem Garten ohne T-Shirt herumlaufen.
Je älter ich wurde und je sichtbarer sich mein Körper veränderte, desto stärker spürte ich aber, dass ich mich unpassend verhalte und sich meine Eltern für mich und mein Verhalten schämen. Im Sommer, als ich zwölf wurde, bekam ich meinen ersten Badeanzug – ich hasste ihn und erinnere mich noch gut an die Blicke anderer Eltern, als ich an einem heißen Ferientag doch wieder heimlich in einer Badehose schwimmen ging. Ich fühlte mich in meinem ganzen Leben noch nie so beschämt wie in diesem Moment.
Schminken? Es fühlte sich an, als ob mir ein Kostüm übergezogen wurde
Es war derselbe Sommer, in dem es plötzlich nicht mehr in Ordnung war, meine Kleidung in der Jungsabteilung zu kaufen. Je älter ich wurde, desto stärker wurde das Gefühl, nirgendwo mehr dazu zu gehören. Ich erinnere mich noch gut an eine Klassenfahrt, auf der sich alle Mädchen für die abendliche Kinder-Disko schminkten. Auch ich wurde damals geschminkt und kann die Erinnerung daran heute noch körperlich spüren – es fühlte sich an, als hätte man mir ein Kostüm übergezogen, das ich nicht tragen wollte. Die Disko stand unter dem Motto Hawaii, und alle Mädchen trugen Bikinis, obwohl sie noch kaum Brüste hatten, während ich mir von den Jungs T-Shirt und Shorts lieh. Ich wurde an diesem Abend sowohl von den Mädchen als auch von den Jungs ausgelacht.
Das mit dem Schminken begriff ich auch viele Jahre später noch nicht – ich habe einfach nie verstanden, warum von Mädchen erwartet wird, Make-up aufzulegen, aber von Jungs nicht. Doch während Schminken etwas war, für das ich mich entscheiden konnte, waren die Veränderungen meines Körpers etwas, das ich nicht aufhalten oder beeinflussen konnte. Der Moment, in dem meine Brüste wuchsen, war für mich der schlimmste Moment meines Lebens. Die Pubertät traf mich hart, und ich hatte keine Chance, mich zu wehren – auch wenn ich es ab und an versucht und meine Brüste geschlagen und geschnitten habe. Nichts konnte sie aufhalten.
Gerettet hat mich - ein Buch
Diese Zeit war ein fürchterlicher und gewaltvoller Lebensabschnitt, in dem ich fast täglich damit konfrontiert wurde, eine Frau zu sein und nicht mehr all das tun zu dürfen, was ich in meinen ersten Lebensjahren so gerne, so frei und so unbeschwert getan hatte. Auch wenn ich damals nicht genau wusste, wer ich eigentlich war, wusste ich ziemlich genau, wer ich nicht sein wollte. Ich wollte mit Mädchen zusammen sein, aber ich selbst wollte kein Mädchen sein, ich wollte diesen Körper nicht und ich wollte auch nicht die Erwartungen erfüllen, die an Mädchen angelegt wurden.
Antworten auf die Frage, wer ich sein möchte und wie ich leben und lieben kann, habe ich seit jeher in Büchern gesucht. Für mich ist Literatur ein Ausweg – nicht aus dem Leben heraus, sondern ins Leben hinein. Bücher sind eine Möglichkeit, einen Blick in andere Leben zu werfen und dabei Orientierung und Anleitung zu erhalten. Doch in den Büchern, die ich las, als ich zum Teenager wurde, gab es keine Menschen wie mich. Ich fand keine Vorbilder für das, was ich fühlte. Ich las Bücher über Jungs, die Jungs lieben und manchmal entdeckte ich auch Bücher, die von Mädchen erzählen, die Mädchen lieben.
In meiner Pubertät fühlte ich mich wie ein Alien
Doch die nahezu komplette Abwesenheit von Menschen, mit denen ich mich hätte identifizieren können, führte dazu, dass ich mich in meiner Pubertät wie ein seltsamer und krankhafter Alien gefühlt habe. Zudem verschoben sich alle Aspekte meiner Sexualität in einen Bereich von Heimlichkeit und Scham. Wenn ich allein zu Hause war, zog ich immer noch gerne Boxershorts an und band mir die Brüste ab. Viele meiner Nachmittage verbrachte ich mit Jungsklamotten in der Umkleidekabine und glückliche Tage waren Tage, an denen ich fälscherweise mit einem Jungen verwechselt wurde – was nicht selten vorkam. Bei all dem verspürte ich jedoch ständig die Angst, gerade etwas Verbotenes, Falsches und Schambehaftetes zu tun.
Beim Wunsch, als Junge Kontakt zu Mädchen zu knüpfen, half mir lange Zeit das Internet. Einige Jahre lang gab ich mich auf verschiedenen Plattformen als Junge aus und chattete mit Mädchen. Ich weiß noch, wie ich mich damals nannte, und dass mein Profilbild ein Foto des Schauspielers Edward Furlong war. Für mich war die Möglichkeit, mir ein anderes Geschlecht und eine andere Identität zu geben, fast eine Befreiung – auch wenn der Kontakt natürlich seine Grenzen hatte, da ich mich mit den Mädchen weder treffen, noch mit ihnen telefonieren wollte. Ich erinnere mich nicht mehr genau an den Moment, an dem ich sogar eine Beziehung mit einem dieser Mädchen einging: Die Beziehung – auch wenn sie nur im Internet stattfand – dauerte fast ein Jahr und ich habe heute noch ein schlechtes Gewissen, dass ich einen anderen Menschen so schwer täuschte.
Meine erste Freundin sagt mir, ich sei krank
Mit 17 hatte ich dann meine erste – echte – Freundin. Ihr Name war Evy. Es war eine kurze, intensive und unglückliche Beziehung. Ich hatte keine Worte für das, was ich fühlte und das, was ich mir wünschte: Ich wusste, dass ich Freude daran hatte, sie zu befriedigen, doch von ihr nicht auf sexuelle Weise berührt werden wollte. Evy wurde darüber immer ungehaltener und unsere Beziehung zerbrach daran - ich erinnere mich noch gut an unser letztes Gespräch und wie sie mir sagte, dass ich doch krank sei. Genau so habe ich mich damals auch gefühlt.
Gerettet hat mich ein Buch, das ich am 4. Dezember 2003 las. Ich weiß das noch so genau, weil ich in meinem Tagebuch festhielt, dass ich an dem Tag ein wirklich gutes Buch gelesen habe. "Boys don't cry" von Aphrodite Jones entdeckte ich zufällig in der Bücherei. In den Monaten zuvor war ich immer häufiger zu den zwei Regalen gegangen, die mit dem Schild Frauenbücher versehen waren. Jones' Buch veränderte mein Leben von einem Tag auf den anderen. Ich habe es übrigens niemals zurück gebracht – die Ausgabe steht auch heute noch in meinem Regal.
Gelesen habe ich es mit geschlossener Zimmertür und angehaltenem Atem. In "Boys don't cry" wird die Geschichte eines realen Kriminalfalls erzählt: Im ländlichen Nebraska wurden 1993 drei Menschen erschossen – darunter Brandon Teena, ein trans Mann. Brandon verliebte sich in Lana, als jedoch zwei Freunde von Lana - John Lotter und Marvin Nissen – herausfanden, dass Brandon trans ist, vergewaltigen sie ihn und töten ihn schließlich.
Ich studierte die Gestik von Brandon Teena
Nachdem ich das Buch gelesen hatte, sah ich mir noch mehrmals die Verfilmung an und studierte stundenlang die Gestik und Mimik von Brandon. Ich habe mir auch unzählige Male angesehen, wie Brandon und Lana Sex haben und fühlte mich zum allerersten Mal in meinem Leben nicht mehr seltsam und allein. Wenn über Brandon Teena gesprochen wird, dann wird auch oft über das Wort butch gesprochen. Das war ein Begriff, den ich zuvor noch nie gehört hatte und ich weiß noch, wie ich damals fieberhaft alles dazu nachlas, was ich finden konnte, und dabei glaubte, eine völlig neue Welt zu entdecken, die mir doch so bekannt vorkam.
Endlich hatte ich das Gefühl, ein Wort für das zu haben, was ich bin und empfinde. Es war mir gar nicht unbedingt ein Bedürfnis, eine Szene oder eine Bewegung zu finden, zu der ich mich zugehörig fühlte, ich wollte einfach nur nicht mehr mit dieser Scham leben und nicht mehr das Gefühl haben müssen, allein zu sein.
Stone Butch - ein noch passenderer Begriff
Kurz darauf las ich fast schon zwangsläufig auch noch "Stone Butch Blues" von Leslie Feinberg, das mein Leben ein zweites Mal veränderte – plötzlich gab es mit stone butch einen noch passenderen Begriff für mich und meine Sexualität. Ich hatte nicht mehr das Gefühl, krank zu sein oder mich zwanghaft ändern zu müssen – und es waren vor allem diese beiden Bücher, die mir die Gewissheit gaben, irgendwann eine Partnerin zu finden, die mich und meine Sexualität akzeptieren kann.
Heute lebe ich seit fast sieben Jahren als stone butch mit meiner Partnerin zusammen. Ich bin immer noch dankbar dafür, dass es Bücher gab, die mir den Mut und die Kraft gaben, so zu leben und zu lieben, wie ich bin.
Die Autorin ist studierte Germanistin, arbeitet als Quereinsteigerin im Buchhandel und betreibt seit 2011 den Buchblog „Buzzaldrins Bücher“ (www.buzzaldrins.de). Der vorliegende Text wird auch im Butchbuch veröffentlicht, das im Frühjahr 2018 im Querverlag erscheint.
Literaturhinweise:
Feinberg, Leslie: Stone Butch Blues - Träume in den erwachenden Morgen. ISBN: 978-3930041350
Jones, Aphrodite: Boys don't cry. ISBN: 978-3548250939
Mehr LGBTI-Themen finden Sie auf dem Queerspiegel, dem queeren Blog des Tagesspiegels. Sie finden den Queerspiegel auch in den sozialen Netzwerken:
Mara Giese
- bbbbbb
- Brandenburg neu entdecken
- Charlottenburg-Wilmersdorf
- Content Management Systeme
- Das wird ein ganz heißes Eisen
- Deutscher Filmpreis
- Die schönsten Radtouren in Berlin und Brandenburg
- Diversity
- Friedrichshain-Kreuzberg
- Lichtenberg
- Nachhaltigkeit
- Neukölln
- Pankow
- Reinickendorf
- Schweden
- Spandau
- Steglitz-Zehlendorf
- Tempelhof-Schöneberg
- VERERBEN & STIFTEN 2022
- Zukunft der Mobilität