Terre Thaemlitz live in Berlin: Kampfplatz Familie
Ein Piano-Marathon, ein DJ-Set und ein Multimediaprojekt von Terre Thaemlitz beim Maerzmusik-Festival in Berlin.
Der weite Weg aus Japan hat sich gelohnt für Terre Thaemlitz. Gleich fünf Mal tritt sie beim Maerzmusik Festival auf. Das ist durchaus angemessen, um einen Eindruck des vielschichtigen Werks der 1968 geborenen amerikanischen Musiker*in, Medienkünstler*in, Autor*in, und Transaktivist*in zu bekommen, die weibliche Pronomen bevorzugt. Das Alter Ego DJ Sprinkle geht als „er“ durch.
Ob Multimedia, Ambient oder House- Set, der Ansatz von Thaemlitz ist das Experiment. Zugleich nutzt sie ihre Auftritte und Veröffentlichungen als Forum für kulturkritische Thesen und unterstreicht im Beiwerk eines jeden Tonträgers wortgewaltig den theoretischen Anspruch ihrer Arbeit, die laut eigener Aussage darauf hinausläuft, „aufzuzeigen, warum die Welt am Arsch ist“.
Schon das 1995 erschienenes Album „Soil“ befasst sich mit häuslicher Gewalt, „Lovebomb“ von 2004, das am heutigen Mittwoch im Haus der Berliner Festspiele präsentiert wird, behandelt den asozialen Aspekt von Liebe, und das brilliante „Midtown 120 Blues“ von 2009 beleuchtet mit kritischem Blick die queeren Wurzeln der House-Musik.
30 Stunden dauert das Stück "Canto I-IV"
Bei „Soullessness“ von 2012 hat sie sich neben Fragen zu Religion, Spiritualität und Sexualität auch die schiere Endlosigkeit des Download-Formats im digitalen Zeitalter vorgeknöpft. Über 32 Stunden lang ist das auf einer Micro-SD-Card erhältliche Werk, das im Martin-Gropius-Bau erstmals als komplette Live-Version aufgeführt wird: „Canto I-IV“ als Videoinstallation und das 30-stündige Klaviersolo-Kernstück „Canto V: Meditation über Erwerbsarbeit und den Tod des Langspielalbums“, bei dem sich neben Thaemlitz noch sieben weitere Pianisten und Pianistinnen die Schichtarbeit am Flügel teilen und dabei so langsam strecken, wie man es bei schwierigen Gymnastikübungen tun muss.
Der körperliche Einsatz der Beteiligten steht im Mittelpunkt, was auch dem Publikum echtes Durchhaltevermögen abverlangt, wenn man einen Tag und eine Nacht lang mit „dem längsten Album aller Zeiten“ verbringt. Danach spielt Thaemlitz als DJ Sprinkles noch ein fulminantes House-Set für die tanzfreudige Gemeinde und bringt das Gebäude mit mächtigen Bassgrooves, fliegenden Hi-Hats und perlenden Piano-Samples ins Wanken – nach 30 Stunden Klaviermeditation, die nur aus zwei Akkorden besteht, ist das die reinste Freude.
Übelste Beschimpfungen und Beleidigungen
Am nächsten Tag präsentiert Thaemlitz im Haus der Berliner Festspiele ihr jüngstes Multimedia-Projekt „Deproduction“. Anders als bei der Premiere auf der Documenta wird beim Auftritt mit dem Neutöner-Ensemble Zeitkratzer jedoch auf die maßgebliche Video-Projektion verzichtet. Im Zentrum steht nun der Orchesterklang, der mit Texten versetzt ist, die von Thaemlitz und einigen der acht Musiker eingesprochen werden. Zunächst hört man eine schreiende Familie, übelste Beschimpfungen und Beleidigungen, angsterfüllt und beklemmend, vom Zeitkratzer-Ensemble kontrastreich vertont, mit elegischen Streicherakkorden, unter denen es mächtig brodelt.
Im zweiten Teil zitiert Thaemlitz den US-Komiker Paul F. Tompkins: „So these people are very religious. And then: They’re apparently very anti-gay. Excuse me: They’re very pro-traditional family. Which is under attack by gay people just being around“. Der Text bezieht sich auf die Betreiber der Fast-Food-Kette Chick-fil-A, die in den USA erzkonservative Organisationen mit Spenden unterstützt. Das wird ergänzt durch spöttisches Gelächter und dann mantramäßig wie ein Sample in einem House-Track wiederholt, während das Zeitkratzer-Ensemble eine sprühende Klangkulisse baut. Eine mutige Performance am Rande des Zumutbaren, die nicht nur deutlich macht, dass die Familie oft ein Ort sexueller Unterdrückung ist, sondern auch zum Ausdruck bringt, dass eine ihrer grundlegenden Funktionen darin besteht, die vorherrschenden Werte und Moralvorstellungen, einschließlich der Geschlechterrollen an die nächste Generation weiterzugeben. Ja, die Welt ist wohl im Eimer.
Volker Lüke
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