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Tausendsassa. Der Berliner Reinhold Friedl hat Zeitkratzer vor 20 Jahren gegründet, das Ensemble spielte bisher 20 Platten ein. Friedl produziert außerdem Sendungen für den Rundfunk und betreibt ein Plattenlabel.
© David Heerde/Zeitkratzer

Reinhold Friedl im Porträt: Meister des Zauberkastens

Reinhold Friedl und sein Ensemble Zeitkratzer sind die Derwische der Neuen Musik. Am Mittwoch eröffnet der Pianist das Atonal-Festival im Berliner Kraftwerk. Eine Begegnung.

Die sogenannte Neue Musik, also im weitesten Sinne zeitgenössische, akademische E-Musik, ist ein hartes Pflaster. Das Publikum, das sich heute für Karlheinz Stockhausen und die Folgen interessiert, ist überschaubar, und wer ein interessantes Stück für sieben Cellos und eine Luftpumpe komponiert hat, darf froh sein, wenn die Interpretation mal im Spätprogramm des WDR weggesendet wird.

Der Berliner Reinhold Friedl, der seit Kurzem auch in Wien lebt, weil seine Frau dort eine Professur an der Musikhochschule angenommen hat, ist so ein Mann der Neuen Musik. Und gleichzeitig auch nicht. Er, der Klavier, Musikwissenschaft und obendrauf noch Mathematik studiert hat, tritt als Interpret von Kompositionen für präpariertes Piano auf und hat auch schon zig Soloplatten veröffentlicht. Ein Piano gilt dann als präpariert, wenn die Klaviersaiten mit allerlei Gegenständen versehen werden, etwa Radiergummis oder Nägeln, um den Tönen eine besondere Klangfärbung zu verleihen. Bei Friedls Spiel knarzt, dröhnt und vibriert es auch ganz ordentlich, und man kann nur staunen, wie aus dem klassischsten aller Musikinstrumente ein Zauberkasten ungewöhnlicher Töne werden kann. Am Eröffnungsabend des diesjährigen Atonal-Festivals im Kraftwerk Berlin am Mittwoch wird er zwei extra für ihn geschriebene Kompositionen der rumänischen Komponisten Iancu Dumitrescu und Ana-Maria Avram uraufführen. Letztere ist überraschend vor zwei Wochen gestorben.

Feste Proben gibt es nicht bei seinem Ensemble

Vor allem aber ist Friedl Leiter des Berliner Ensembles Zeitkratzer, das 2017 sein 20. Jubiläum feiert und längst weltweit als Neue-Musik-Institution gefeiert wird, die alles ein wenig anders macht. Wobei weltweit vor allem bedeutet, dass Zeitkratzer im Ausland um einiges angesagter sind als in Deutschland selbst. „Ich weiß gar nicht“, sagt der 53-jährige Friedl bei einem Milchkaffee in einem Kreuzberger Restaurant, „ob wir außer in Berlin überhaupt schon in einer deutschen Stadt aufgetreten sind.“ Und ergänzt: „Im Ausland haben wir einen guten Ruf, während wir in der hiesigen E-Musik-Szene immer noch nicht wirklich angesagt sind.“

Über all die Jahre seiner Existenz waren bereits zig verschiedene Musiker, die allesamt irgendwo im weiten Feld zwischen frei improvisierter Musik und moderner Klassik beheimatet sind, in dem lockeren Ensembleverbund beschäftigt. Auch die Zahl der Mitglieder variiert ständig. Aktuell besteht Zeitkratzer aus neun Musikern, die in ganz Europa leben und die sich immer dann, wenn mal wieder ein neues Zeitkratzer-Projekt ansteht, meist in Berlin einfinden, um gemeinsam etwas Neues zu erarbeiten. „Feste Proben“, erklärt Friedl, „gibt es bei uns nie.“

Techno, Noise-Rock, Death Metal: Friedl ist offen für allerlei Musikeinflüsse

Trotz dieser unsteten Arbeitsweise ist Zeitkratzer ungemein produktiv. Über zwanzig Platten hat die Combo eingespielt, sie gibt regelmäßig Konzerte. „Unser Repertoire wächst dauernd“, sagt Friedl, „wir spielen auch immer mal unsere alten Stücke, da fällt kaum etwas raus.“ Mit den Jahren kam so ein Repertoire zusammen, das an Vielschichtigkeit kaum zu überbieten ist. Zeitkratzer haben zig Stücke von Klassikern der Neuen Musik wie Iannis Xenakis oder James Tenney eingespielt. Dazu kommen noch die Einspielungen und Gemeinschaftskompositionen mit wechselnden Gastmusikern, für die Zeitkratzer so berühmt sind. Zugleich werden sie von Vertretern der reinen Lehre der Neuen Musik skeptisch beäugt. Egal ob Techno, Noise-Rock oder Death Metal: Reinhold Friedl scheint ein offenes Ohr für alles und jeden zu haben. Gemeinsam mit dem japanischen Gitarrenderwisch Keiji Haino sind Zeitkratzer bereits aufgetreten, mit der englischen Industrialband Whitehouse, dem deutschen Elektronikmusiker Carsten Nicolai.

Am meisten Aufmerksamkeit hat die Zusammenarbeit mit Lou Reed vor ein paar Jahren erregt. Friedl und seine Gang interpretierten die berüchtigte Platte „Metal Machine Music“ des New Yorker Grantlers neu, ein Werk, auf dem nichts als Gitarrenfeedbacks zu hören sind, Ende der Siebziger schockte Reed damit seine Plattenfirma genauso wie die Fans. Der Rocker ließ Friedl und die Seinen wissen, dass er sehr angetan davon sei, dass endlich jemand die wahre Schönheit seines verkannten Werks zu würdigen wisse. Zum Dank trat er dann sogar in Berlin gemeinsam mit Zeitkratzer auf, um „Metal Machine Music“ zu performen. Das war auch der Moment, in dem Zeitkratzer endgültig mehr waren als bloß ein ungewöhnliches Neue-Musik-Orchester.

Mann der Praxis als auch Theorie

Einen Königsweg, wie Friedl immer wieder zu seinen speziellen Gästen und dem ungewöhnlichen Material kommt, gibt es nicht, sagt er. Mal sind es Auftragsarbeiten wie das Stück, das Zeitkratzer gerade mit der Berliner Performance- Gruppe She She Pop erarbeitet, es wird mit Unterstützung des Goethe-Instituts im November in Rom uraufgeführt. Und dann ist es einfach ein Freund, der Friedl etwas vorschlägt. So kam er etwa auf Kraftwerk, die erst jüngst von Zeitkratzer mit einer Einspielung geehrt wurden. Freilich nicht die Kraftwerk aus ihrer „Autobahn“-Zeit, sondern weit vorher. Die ersten zwei Kraftwerk-Platten hat Zeitkratzer neu eingespielt, „mit denen Kraftwerk heute nichts mehr zu tun haben wollen“, wie Friedl weiß. Der „Mut zur Oberflächlichkeit“ habe ihn an diesen beiden Werken interessiert, „das Leichte und Flockige“. Und tatsächlich klingen Zeitkratzer auf ihrer Kraftwerk-Hommage selbst relaxed wie selten zuvor.

Friedl ist aber nicht nur Mann der Praxis, sondern auch der Theorie. Für den WDR produziert er regelmäßig Sendungen über Spezialthemen Neuer Musik. Ein echter Fachmann ist er bei Iannis Xenakis, der, wie Friedl selbst, stark an Mathematik interessiert war. Über ihn schreibt er aktuell auch seine Promotion. Und gemeinsam mit der Berliner Plattenfirma Karl, die den Gesamtkatalog von Zeitkratzer auch auf Vinyl herausbringt, betreibt er Perihel, ein von ihm kuratiertes Label, das verschollene Perlen der Neuen Musik neu herausbringt. Aber am wichtigsten bleibt für Friedl natürlich Zeitkratzer. „Ich habe schon wieder 20 Ideen für neue Projekte“, sagt er, „vielleicht mal was mit Acid-House anstellen. Oder vier Wochen im Museum sitzen und sechs Stunden am Tag dort spielen.“

Atonal-Festival, 16.–20.8. im Kraftwerk Berlin, Köpenicker Straße 70. Reinhold Friedl spielt zur Eröffnung ab 18.30 Uhr Stücke von Iancu Dumitrescu und Ana-Maria Avram.

Andreas Hartmann

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