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Guillermo Galindo hat Wracks von Flüchtlingsbooten in Musikinstrumente verwandelt.
© Boris Roessler/dpa

Documenta 14: Die Kunst klagt an

Die Documenta 14 in Kassel nimmt sich die Untaten der westlichen Welt vor. Die Kunst macht sich dabei klein - und blickt zurück, anstatt nach vorne.

Der Mann singt sich die Seele aus dem Leib, es ist ein Liebeswerben. Nikhil Chopra legt all sein Gefühl hinein. Das Publikum wirkt eher peinlich berührt, denn singen kann der indische Künstler nicht gerade gut. Darauf kommt es auch nicht an. Dieser Minnesänger mit weitem Hemd und schwarzem Wams wird ohnehin zur nächsten Stadt, zum nächsten Dorf aufbrechen, um mit dem Werben wieder von vorne zu beginnen.

Mit seinem Beitrag „Drawing the Line through Landscape“ hat sich der indische Künstler auf die Reise von Athen nach Kassel gemacht, von Documenta-Ort zu Documenta-Ort. Überall, wo er sein Zelt aufschlägt, beginnt das Spiel von vorne. Mit seinem Video ist er einer der 160 Künstler an 30 Schauplätzen bei dieser international wichtigsten Ausstellung zeitgenössischer Kunst. Als passender Ort wurde für ihn ein Bahnsteig gefunden, der erstmals wieder betreten werden kann, nachdem er vor zwölf Jahren stillgelegt worden war. Dort, in dem „ehemaligen unterirdischen Bahnhof“, wie der Ausstellungsort offiziell heißt, klingt sein Gesang noch schräger, noch wehklagender. Den Einstieg zu der geheimnisvollen Stätte nimmt der Besucher durch einen dunklen Container, um später über tote Gleise zurück in die Stadt, dem Licht entgegen zu stolpern.

Immer wieder geht es auf der Documenta 14 um die deutsch-griechischen Beziehungen

Was der poetische Beginn eines Documenta-Besuchs sein könnte, erweist sich recht schnell als erster Bußgang, dem viele weitere folgen werden. Ein Willkommensschild mit dem griechischen Wort „Chairete!“ empfängt den Besucher auf dem Weg nach draußen ins Grüne, das Schild begrüßte vor über 100 Jahren 7000 Griechen, die während des Ersten Weltkrieges in Görlitz interniert waren, in ihrem Lager. Dazu erklingen die ältesten historischen Aufnahmen griechischer Lieder, die damals dort entstanden und sich heute in den Archiven der Humboldt Universität befinden.

Die deutsch-griechischen Beziehungen in Vergangenheit und Gegenwart sind der Subtext dieser Documenta, überhaupt das belastete Verhältnis des reichen Westens zum Rest der Welt. Heiterkeit, Humor braucht hier keiner zu erwarten. Mit der Eröffnung zunächst in Athen hat sich die Documenta zwar selbst auf die Reise gemacht, jedoch nicht als touristisches Vergnügen, sondern als Bekenntnis zum Süden – so lautet programmatisch auch der Titel des Documenta-Magazins. Kurator Adam Sczymczyk hatte der Documenta diesen Aufbruch verschrieben, um den Weltanspruch der Schau auch räumlich einzulösen.

Mit der Zweiteilung überhob er sich allerdings, was sich mit der Eröffnung nun in Kassel zwei Monate nach Athen endgültig offenbart. Was in der griechischen Hauptstadt unvollendet, disparat erschien, hat in Kassel zwar eine klarere Handschrift, die einzelnen Ausstellungsorte sind präziser kuratiert. Aber ein Gewinn durch die Doppelung ist nicht wirklich zu erkennen. Die Einladung der Sammlung des Athener Nationalen Museums für Zeitgenössische Kunst (EMST) ins Fridericianum als Dankeschön dafür, dass die Documenta in dessen leeren Räumen ausstellen darf, hätte man auch anders hinbekommen. Wo normalerweise das Herz der Documenta schlägt, im Fridericianum, ist nun griechische Kunst der 60er Jahre bis heute zu sehen, dazu international Gängiges von Jan Fabre, Hans Haacke, Mona Hatoum bis Bill Viola – was wenig überzeugt.

Das geistige Zentrum der Documenta in Kassel befindet sich wenige 100 Meter nach Süden verlegt, in der Neuen Galerie. Aber von wegen Schöne Aussicht 1, wie die Adresse lautet: Hier herrscht tiefste Traurigkeit. Die Documenta 14 nimmt sich die Schlechtigkeit der Welt zu Herzen, ob in Vergangenheit oder Gegenwart: Holocaust und Hungersnot 1943/44 in Bengalen, die Armut allgemein, Sklaverei, postkoloniale Ungerechtigkeit. Thema für Thema, Raum für Raum wird abgearbeitet, was auf der Liste der Untaten des Westens steht, insbesondere der Deutschen. Selten wurde die Kunst so massiv als kollektiver Vorwurf inszeniert.

Das Licht der Erkenntnis ist in Kassel besonders grell angeknipst

Hatte Szymczyk auf der Pressekonferenz noch erklärt, es gebe keine Lektion, keine Lehrmeister, der Besucher solle sich „in die Dunkelheit des Nichtwissens“ begeben, demonstriert die Neue Galerie das Gegenteil. Das Licht der Erkenntnis wird für das Publikum hier grell angeknipst.

Das ist schade, denn durch die gegenseitige Verstärkung zum Negativen verlieren die einzelnen Werke Kraft, am Ende ist es nur noch ein Chor der Klage. Einige Stimmen ragen trotzdem heraus, darunter Maria Eichhorns Beitrag zum Komplex Raubkunst und Restitution, der den zentralen Raum der Neuen Galerie einnimmt. Wie eine Säule ragt meterhoch ein Regal mit Büchern aus der Berliner Stadtbibliothek auf. Erst vor Kurzem entdeckte man, dass die Bände von jüdischen Vorbesitzern stammen und in den 40er Jahren von der Bibliothek übernommen wurden.

Griechenland beflügelt seit jeher die Deutschen

Guillermo Galindo hat Wracks von Flüchtlingsbooten in Musikinstrumente verwandelt.
Guillermo Galindo hat Wracks von Flüchtlingsbooten in Musikinstrumente verwandelt.
© Boris Roessler/dpa

Von hier aus spinnt Eichhorn ihre Fäden in verschiedene Richtungen, mal zur Kasseler Sammlung Alexander Fiorino, die den Erben durch die Nationalsozialisten entwendet wurde, mal zum Fall Gurlitt. Sie spricht mit David Toren, an den das prominenteste Werk aus der Sammlung des NS-Händler-Sohns restituiert wurde, Max Liebermanns „Reiter am Strand“. Im Interview mit der Künstlerin zeigt sich Toren davon überzeugt, dass die Nachfahren von Cornelius Müller Hofstede, der das Bild damals an Hildebrand Gurlitt vermittelte, noch weitere Werke der geraubten Sammlung seines Onkels besitzen. Dieser ungeheure Vorwurf setzt das Drama Gurlitt fort, er wird selber zum Ausstellungsstück und könnte manch anderem Privatbesitzer in den Ohren schallen.

Die Ausstellung in der Neuen Galerie nimmt diese Fährte auf, um sich der Gründungsgeschichte der Documenta zu nähern. In der Nachkriegszeit gehörte Gurlitt als Düsseldorfer Kunstvereinsdirektor wieder zu den Playern des Kulturbetriebs. Die Documenta war zur Rehabilitation der jungen Bundesrepublik gedacht, Kunst zum Zweck der re-education. Hier allerdings geraten Szymczyk und seine Kuratoren ins Stolpern, mischen sie doch Griechenland-Bezüge hinein, die nur für Kenner zu entschlüsseln sind. In einem Raum hängt Gerhard Richters Bild des Documenta-Gründers Arnold Bode, im anderen finden sich Zeichnungen, die wiederum Bode von der Akropolis schuf.

Griechenland beflügelt seit jeher die Deutschen, ob sie es besuchten oder nicht, wie Johann Joachim Winckelmann, Begründer der Kunstgeschichtsschreibung, oder jener NS-Maler, dessen schlichtes Gemälde des Parthenon sich im selben Raum befindet. Und draußen, auf dem Friedrichsplatz, der „Parthenon der verbotenen Bücher“, eine allerdings alte Arbeit aus Argentinien von 1983.

An keinem Hauptausstellungsorte der Documenta in Kassel gelingen Setzungen

Solche ziselierten Bezugnahmen wiederholen sich auf der Documenta allenthalben. Im benachbarten Palais Bellevue geht es mal ums Grün, mal um die Wüste. Der Kolumbianer Abel Rodriguez zeichnete den überfluteten Regenwald, die Bosnierin Lala Meredith-Vula fotografiert Heuhaufen ihrer Heimat, der Dresdner Olaf Holzapfel beschäftigt sich mit Hecken, der Israeli Roee Rosen präsentiert einen Musikfilm, in dem ein Staubsauger eine Rolle spielt. Das kommt alles klein, fein, gepinselt daher und dürfte schnell wieder in Vergessenheit geraten, wie jene Berlin Biennale 2010, die Szymczyk mitverantwortete und die den Titel „Wenn Dinge keine Schatten werfen“ trug. Die Documenta widmet sich zwar den großen Themen mit dem Brustton der Gesellschaftskritik, doch findet sie kaum starke Bilder. Mit Ausnahme einiger Arbeiten zum Flüchtlingsthema, wie den Wracks der Mittelmeerboote in der Documenta Halle, die Guillermo Galindo zu Musikinstrumenten umfunktioniert hat, oder der Röhren-Installation des in Berlin lebenden Irakers Hiwa K auf dem Friedrichsplatz, nachempfunden seinem eigenen Unterschlupf damals auf der Flucht.

An keinem der Hauptausstellungsorte gelingen Setzungen. Das liegt auch an der historischen Rückbesinnung, die die Documenta betreibt. Von 230 Künstlern ist ein Drittel tot, von den 160 Lebenden keiner unter 30 und nur ein Dutzend unter 40 Jahre alt. Das bedeutet, diese Schau ist alles andere als jung, als Barometer der aktuellen Kunst taugt sie nur bedingt. Allein in der Neuen Hauptpost, die neckisch unter Neue Neue Galerie firmiert, wird Temperament spürbar. Das mag auch an der Umgebung liegen, der Nordstadt, wo Menschen aus 150 Ländern leben und gesellschaftliche Umwälzungen am deutlichsten spürbar sind. Der riesige Bau selbst wird längst nicht mehr nur von der Post genutzt, die Flüchtlingshilfe der Diakonie und ein Fitnessunternehmen sind Mieter.

Wie sich Vergangenheit und Gegenwart verweben, wie Kontinente in Bewegung geraten, das zeigt in der großen Posthalle auf eindrucksvolle Weise Theo Eshetu, der das einst auf der Fassade der Dahlemer Museen prangende Banner verarbeitete hat. Die meterlange Bahn mit dem Schriftzug der fünf in den Museen vertretenen Regionen Afrika, Asien, Amerika, Ozeanien, Europa und der Abbildung riesiger Masken verändert sich permanent durch Projektionen. Plötzlich kombinieren sich die Namen neu, blinzelt ein junges Gesicht aus einer alten Maske hervor, alte Weltordnung wird ausgehebelt. Das macht Angst, wirkt gespenstisch, wenn sich eine Fratze belebt, die globale Bilderwelt entfesselt wird.

Von solchen Fantasmagorien, visuellen Experimenten wünschte man sich mehr. Zwar ist die Documenta ausgezogen, um sich zu öffnen, am Ende aber macht die Weltausstellung sich klein.

Bis 17.9., tgl. 10–20 Uhr, in Athen bis 16. Juli (Di–So, 11–21 Uhr). Infos zu Tickets und Programm: www.documenta14.de

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