Medientrend Transgender-Themen: Drama, Baby!
Schwul ist nicht mehr spektakulär. Dafür hat die Unterhaltungsindustrie jetzt Transgender-Themen entdeckt.
„Abartig!“, ruft die brünette Frau und stürmt aus dem Haus. Gerade hat sie erfahren, dass der 17-jährige Sohn ihres neuen Geliebten Mädchenkleider trägt und sich mit einem weiblichen Vornamen anreden lässt. Nachdem sie die Tür zugeschlagen hat, ist es aus mit der Beziehung zum Berliner Koch Tobias. Der von Heino Ferch gespielte Macho-Typ steckt das relativ locker weg. Aber ein neues Verhältnis zu seinem Sohn Finn aufzubauen, der jetzt Helen ist, das fällt ihm schwer.
„Mein Sohn Helen“ hieß dieser kürzlich zur besten Sendezeit in der ARD ausgestrahlte Film, mit dem sich die Anstalt vorsichtig in für sie noch neues Terrain wagte. Die Produktion litt zwar unter Drehbuch-Unbeholfenheiten und war sicher auch nicht von so bahnbrechender Symbolkraft wie 1990 der erste schwule Kuss in der „Lindenstraße“. Dennoch ist der Film ein deutliches Zeichen dafür, dass Transfiguren und Transgender-Themen im deutschen TV-Mainstream angekommen sind. Dass mit Pari Roehi in „Germany’s Next Topmodel“ zudem eine Transfrau über die Laufstege stöckelte, deutet ebenfalls darauf hin.
Transfrauen auf Hochglanz-Covern
Deutsche Medienmacher folgen zaghaft einem in den USA schon länger und stärker erkennbaren Trans-Trend, der diese Woche mit dem Spektakel um den „Vanity Fair“-Auftritt von Caitlyn Jenner einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. Jenner löst Laverne Cox als glamouröses Trans-Cover-Girl ab. Die Schauspielerin war letztes Jahr auf dem Titel des „Time“-Magazins und im Mai auf dem der „Variety“. Bekannt wurde die 31-jährige Cox mit ihrer Rolle als Friseurin in der Gefängnisserie „Orange Is The New Black“, deren dritte Staffel ab 12. Juni auf Netflix zu sehen ist. Wieder mit Cox als Sophia, die im Frauengefängnis für gute Frisuren und Ratschläge zuständig ist. Gleichzeitig kämpft sie um die Akzeptanz ihres Sohnes, der mit dem Genderwechsel seines Vaters einige Probleme hat.
Die „Orange Is The New Black“-Figuren sind sowohl mit ihrer sexuellen Orientierung und ihrer Genderperformance als auch mit ihrem ethnischen Hintergrund ungewöhnlich vielfältig. Eine weiße Butch-Lesbe, ein schwarzer Tomboy, heterosexuelle Latinas, eine schwarze Transfrau und eine weiße Bisexuelle als Hauptfigur – sowas hat noch keine US-Serie gewagt. Dass das Team um Jenji Kohan damit Erfolg hat, beweist, dass es ein Publikum für Produktionen mit hohem Diversity-Faktor gibt. Der ist schwer zu übertreffen, zumal in einer Zeit, in der – zumindest in der westeuropäischen und nordamerikanischen Unterhaltungsindustrie – homosexuelle Figuren in Vorabendserien obligatorisch geworden sind und der Anblick queerer Pop-Stars zum Alltag gehört. Selbst Spielfilm-Sexszenen zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren haben ihren Exotikfaktor weitgehend eingebüßt. Von daher ist es naheliegend, dass sich Hollywood & Co. der nächsten noch etwas fremd und aufregend wirkenden Gruppe zuwendet: den Transmenschen. Verglichen mit Lesben und Schwulen, die durch jahrzehntelangen politischen Aktivismus und kulturelle Arbeit, eine gewissen gesellschaftlichen Status erreicht haben, sind sie längst nicht so akzeptiert.
Pionierarbeit: die Serie "Transparent"
Krasse Vorurteile und homophobe Sprüche sind zumindest in weiten Teilen der westlichen Welt nicht mehr salonfähig – und damit auch nicht mehr als Erzählstoff zu gebrauchen. Dass ein TV-Charakter aus dem bürgerlichen Berlin einen jungen Schwulen als „abartig“ bezeichnet, erschiene arg reaktionär und unrealistisch, ein Trans-Mädchen so zu beschimpfen, hingegen nicht. Das dramatische Potenzial ist also hoch, wobei hoffentlich – ähnlich wie bei den Homos – irgendwann die Opfergeschichten weniger werden. Coming-Out-Storys oder Lebenswege von Transmenschen standen bisher aber nur selten („Transamerica“, „Boy’s Don’t Cry“) im Mittelpunkt. Doch jetzt könnte Trans das neue Schwul werden.
Pionierarbeit hat Amazon mit seiner Grammy-dekorierten Serie „Transparent“ geleistet. Im Mittelpunkt der Geschichte um eine dysfunktionale, jüdische Familie in Los Angeles – inspiriert vom Vater der Macherin Jill Soloway – steht Mort Pfefferman, der im Rentenalter endlich seinem Wunsch folgt, als Frau zu leben. Maura outet sich nach und nach bei ihren Kindern und erkundet ihre neue Freiheit. Die drei Kids und Mauras Ex-Frau sind hingegen viel zu sehr mit dem eigenen chaotischen Leben beschäftigt, um zu erfassen, was Maura empfindet.
Meist stehen Trans-Frauen im Mittelpunkt, Männer fehlen
Die von Jeffrey Tambor fulminant verkörperte Frau mit den langen grauen Haaren und Wallekleidern wirkt wie ein weiser Ruhepol in „Transparent“. Das hat sicher zur Beliebtheit der Serie beigetragen, die zudem eine Reihe weiterer Trans- und Queer-Charaktere aufweist. Dass Maura bisher auf romantischem Terrain keinerlei Ambitionen zeigt, dürfte ihre Akzeptanz bei einem breiten Publikum ebenfalls befördern.
Den unbedarften Hetero-Zuschauer und die mitunter nicht viel aufgeschlossenere Homo-Gemeinde lieber nicht mit zu viel befremdlicher Körperlichkeit zu behelligen, das scheint derzeit noch die Strategie zu sein. Auch in „Mein Sohn Helen“ darf die von Jannik Schümann gespielte Titelheldin nur in ihrer Jungsrolle sexuell aktiv sein. Und als der Vater fragt, ob Helen eigentlich auf Mädchen oder Jungs steht, muss sie eine abwehrende „Bin zu sehr mit mir selbst beschäftigt“-Antwort geben. Maura aus „Transparent“ äußert immerhin, dass sie nach wie vor auf Frauen steht. Sie strebt im Übrigen – genau wie Caitlyn Jenner – auch keine geschlechtsangleichende Operation an. An diesem Punkt können Serien und Filme sogar zur Weiterbildung beitragen. Das Publikum erfährt, dass es individuell ganz unterschiedliche Umgangsweisen mit der Transthematik gibt und die Operation samt Hormoneinnahme nur eine Möglichkeit von vielen ist.
Demnächst startet ein US-Film über zwei Trans-Prostituierte
Auch die Selbstbezeichnungen von Menschen, die sich nicht oder nicht ausschließlich mit ihrem bei der Geburt zugeschriebenen Geschlecht identifizieren, sind vielfältig. Manche möchten einfach als Frau oder Mann bezeichnet werden, andere bevorzugen Transfrau oder Transmann. Als Oberbegriff hat sich im anglophonen Sprachraum der Begriff „transgender“ etabliert, der auch hierzulande vielfach verwendet wird. Er verweist darauf, dass das Geschlecht sozial konstruiert ist. Beim in Rechts- und Medizinfragen benutzten Begriff „Transsexualität“ bezieht sich zwar der Wortbestandteil „sex“ auf körperliche Geschlechtsmerkmale (englisch: sex). Da aber fälschlicherweise der Eindruck erweckt wird, es gehe um sexuelles Verhalten, bevorzugen Betroffene teilweise die Begriffe Transgeschlechtlichkeit oder Transidentität.
Abseits aller Bezeichnungsdetails ist die Sichtbarkeit von Transmenschen in den letzten Jahren deutlich gestiegen – der Trend ist ungebrochen. Im Juli startet in den USA der Spielfilm „Tangerine“ über zwei Transgender-Prostituierte. Im November wird Oscar-Preisträger Eddie Redmayne in „The Danish Girl“ als Transgender-Malerin Lili Elbe zu sehen sein. Und von „Transparent“, bei dem außer der Maura-Rolle übrigens alle Trans-Charaktere von Trans-Schaupielerinnen- und schauspielern verkörpert werden, ist eine zweite Staffel geplant.
Was auffällt: Meist stehen Trans-Frauen im Mittelpunkt. Männer haben höchstens mal eine Nebenrolle, wie in „Transparent“. Offenbar erscheinen in einer männerdominierten Welt die Schicksale von Männern, selbst wenn sie keine sein wollen, immer noch wichtiger und erzählenswerter als die von Frauen, die sich nicht (mehr) als solche sehen. Aber vielleicht ist es auch nur eine Frage der Zeit, dass die Filmemacher auf der Suche nach Neuland die Neu-Männer entdeckt. Ein Biopic über Balian Buschbaum – einst als Hochspringerin aktiv – wäre doch mal was fürs ARD-Abendprogramm.
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