„Rückkehr nach Reims“ an der Schaubühne: Vaterhass, Vaterliebe
Aller Wahltage Abend: Zur deutschen Erstaufführung von Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ an der Berliner Schaubühne.
Am Sonntag der Wahl war Premiere, die deutschsprachige Premiere einer Sachbuch-Adaption für die Bühne. Es tritt auf Nina Hoss, sie spricht einen Text zu einer filmischen Collage, einem Dokumentarfilm, der im Hintergrund läuft und der in Frankreich spielt, der von dem schwierigen Aufstieg des schwulen Soziologen Didier Eribon aus prekärem Umfeld ins Pariser Intellektuellenmilieu handelt, und auch davon, wie sich dieses homophobe, aber auch politisch sehr linke Umfeld schleichend der französischen Rechten zuwendet und Front National wählt, und auch davon, wie sich die Linke verliert und längst verloren hat in der Bequemlichkeit der Bildungsbürgerlichkeit, und der vor allem und vor allem anderen im Zusammenspiel mit der Bühnenübertragung davon handelt, wie sich die alte Frage: „Wer hat uns verraten?“ verwandelt hat in die Frage: „Wer hat sich verraten?“
Die Antwort ist gleich geblieben. Sie wird nicht erst deutlich, als auf der Leinwand Tony Blair aufflimmert, das britische Pendant zum Deutschen Gerhard Schröder, der dann auch aufflackert mit seiner Agenda 2010: Wer hat sich verraten? Sozialdemokraten!
Und dann ist der Zuschauer an diesem Sonntag der Wahl, hier in der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz, mittendrin im politischen Alltag Deutschlands, in seiner traurigen Alltäglichkeit, und man braucht nach dem Schlussapplaus für diese grandiose – nicht mal als Schauspiel getarnte – Dokumentation der Resignation und auch der Wehmut eigentlich gar nicht mehr aufs Smartphone nach den Wahlergebnissen zu schauen, um zu wissen, wie es ausgegangen ist. Eribons Front National haben wir selber, die feiert sich gerade unter dem Namen AfD dröhnend und drohend am Alexanderplatz. Derweil Eribons linke Herkunft gewissermaßen lange Gesichter zieht, weil sie niemandem mehr etwas zu sagen hat und nicht mal mehr weiß, was sie einem noch zu sagen hätte.
Nina Hoss erzählt von ihrem Vater
Thomas Ostermeier hat dieses brillante Wagnis inszeniert, die Uraufführung fand im Juli in Manchester statt. Vor Nina Hoss als Synchronsprecherin Katrin und später als Nina Hoss niederzuknien, ist wie Eulenschwärme nach Athen zu tragen. Großartig ist Hans Jochen Wagner als schnöseliger und wichtigtuerischer Filmregisseur, ebenso wie Renato Schuch als Tontechniker, der – das aber ein wenig überflüssig und slapstickhaft – auch noch einen passablen Rapper abliefern muss.
Zu den Binsenweisheiten des Abends und des politischen Theaters gehört, dass im Publikum wohl kaum jemand gesessen hat, der der Aufklärung bedürfte. Kaum jemand, der sich vor den Kopf gestoßen fühlen könnte, kaum ein France-Front- oder Alternative-Deutsch-Nationalist.
Die Emotion wird noch einmal gesteigert, als aus der Synchronsprecherin Katrin Frau Nina Hoss wird und sie, sehr schön eingebettet in die Dramaturgie, von ihrem Vater Willi Hoss berichtet. Wie Didier Eribons Vater wurde auch er 1929 geboren, er war Gewerkschaftsführer, war auch in der KPD, der Kommunistischen Partei Deutschlands, hat die Grünen mitbegründet und engagierte sich für die Umwelt, setzte sich in Brasilien für die Erhaltung des Regenwaldes ein, bis zu seinem Tod 2003.
Die Kunst macht Hoffnung
Der Niedergang, der Selbstverrat, die Selbstverleugnung, das ist das Thema. Aber auch, in der Person des Willi Hoss, die Möglichkeit, der Vereinnahmung zu widerstehen. Es gibt in diesem Zusammenhang noch eine psychologische Note, die des Vaterhasses des Didier Eribon, dessen Homosexualität vom Vater nie akzeptiert worden war, und die der Vaterliebe, die unübersehbar ist, wenn die Tochter über Willi Hoss spricht.
Aber das ist an diesem Abend, an diesem Sonntag der Wahl, nur ein Nebenaspekt, allenfalls von Bedeutung, weil auch das Private politisch ist. Willi Hoss ist der Aufrechte, Unbeugsame, Unkorrumpierbare geblieben. Es geht also doch, das ist die tröstliche, wehmütige Botschaft. Anschließend in den Talk-Runden der Wahlnacht sieht man dann die Realität. Aber wenigstens bleibt Hoffnung, solange die Kunst es vermag, diese traurige Realität so punktgenau zu benennen, wie es Didier Eribon und seine Mitstreiter in der Schaubühne vermögen.
Die Aufführungen im September und Oktober sind ausverkauft. Ab 22. November Aufführungen mit der Premierenbesetzung aus Manchester auf Englisch.