Alles über Schafe und Lämmer: Schafe zählen
Das Osterfest steht traditionell im Zeichen des Lamms. Höchste Zeit für eine Hommage an die wollige Spezies.
Eine Kindheitserinnerung. Wir fahren über Land, Osterbesuch bei der Verwandtschaft, am Straßenrand kommen in einem Traktoranhänger gerade Lämmer zur Welt. Zwillinge. Wir dürfen zugucken, stellen uns auf die Zehenspitzen, das Mutterschaf legt den Kopf nach hinten, bäumt sich kurz auf, es geht schnell. Kleine nasse wollige Bündel liegen im Stroh, verklebte Augen, zuckender Leib. Die Mutter leckt sie trocken, wir flüstern nur. Bis die Lämmer ihre ersten Schritte auf staksigen Beinen machen, einknicken, umkippen, sich hochrappeln, Milch trinken. Das Wort Osterlamm klingt anders seitdem.
Das Schaf, das Lamm, Opfertier seit jeher. Begleiter des Menschen, Lieferant von Milch, Wolle, Fleisch. Inbegriff des Friedens, der Sanftmut, der pastoralen Idylle. Aber oft ist das Grauen nicht weit. Wir zählen Schäfchen, wenn wir nicht schlafen können, gruseln uns im Kino beim „Schweigen der Lämmer“, schlachten sie, um die Götter zu besänftigen. Vor dem Auszug aus Ägypten strichen die Israeliten das Blut frisch geschlachteter Jungtiere an die Türpfosten, damit der Todesengel ihre Häuser verschont – Ursprung des jüdischen Pessachfests.
Auch der Islam ehrt das Lamm. Abraham, Stammvater aller monotheistischen Religionen, musste seinem unbarmherzigen Gott doch nicht den eigenen Sohn opfern, als Ersatz genügte in letzter Sekunde ein Lamm, je nach Legende ein Widder. Die Geschichte steht auch im Koran, die Moslems feiern deshalb das Opferfest.
Das Lamm thront auf dem Genter Altar, die Schlachtbank wird zum Tisch des Herrn
Verrückt. Ausgerechnet dieses wehrlose Tier wurde dann zum Inbild des Christengottes. Agnus Dei, das Lamm Gottes, besiegt den Lindwurm und überwindet den Tod. Nicht der mächtige Löwe oder der Adler bezwingt das Böse, sondern ein armes, kleines Nutztier. Die Schlachtbank erweist sich als Tisch des Herrn. Im Zentrum von Jan van Eycks Genter Altar thront das aureolenumkränzte Lamm mit autoritätsgebietendem Blick. Aus seiner Seite fließt Blut in den Kelch – das Folteropfer als Weltenretter. Ein ähnliches Bild findet sich in Colmar auf Matthias Grünewalds Isenheimer Altar, dort steht das Jungschaf am Fuß der Kreuzigungsszene, ebenfalls mit Blutstrahl, aber mit eigenem Holzkreuz im rechten Vorderlauf und eher verschmitztem Seitenblick.
In unserer Familie ist das Osterlamm aus Biskuitteig Tradition. Wir nehmen viel Butter, stecken ihm einen Cocktailspieß mit buntem Osterfähnchen in den Rücken und streiten darüber, ob die Backformen für Lämmer mit Geradeaus-Kopf überhaupt zulässig sind. Das süße Gebäck hat sein Vorbild nun mal im Genter Altar, dort wendet das Gotteslamm den Kopf nach links, um den Betrachter unverwandt anzuschauen. Es gibt auch Backformen mit abgewinkeltem Hals.
Das erste von Menschenhand geschaffene Lebewesen: Dolly, das Klonschaft
Das wohlschmeckende Lamm verbindet die Religionen, es versöhnt Himmel und Erde, kennt keine Grenzen. Wenn es groß wird, wächst sich das aus. Einen Menschen, der langsam im Kopf ist, schimpfen wir einen Schafskopf. Was für ein Unsinn: Neben den Hirten sind sie die Ersten, denen die Engel auf dem Felde bei Bethlehem die frohe Botschaft von Christi Geburt verkünden. Auch das erste von Menschenhand geschaffene Lebewesen war bekanntlich ein Schaf. Dolly, das Klonschaf, kam 1996 zur Welt und wurde biblische sieben Jahre alt.
Kostbar ist es auch: Mit Schaffellen wurde in der Antike das Gold aus den Flüssen gewaschen. So will es die griechische Saga vom Goldenen Vlies, jenem Fell des Widders Chrysomeles, der im Zeus-Tempel geopfert wurde. Laut Argonautensage raubte Jason das Vlies, seitdem ist es verschollen. Das Fell: pures Gold, mythisches Accessoire.
Herdentrieb, Hirtenkultur, Schafskrimis - und im Kino: "Shaun das Schaf"
Kein Zufall, dass Haruki Murakami seinen surrealen, mystischen Alten aus der Parallelwelt der (Alb-)Träume in seinem erotischen Thriller „Tanz mit dem Schafsmann“ ebenfalls der Gattung der Ovis gmelini aries zuordnete. Woody Allen ergründete in seiner wahnwitzigen Siebzigerjahre-Komödie „Was sie schon immer über Sex wissen wollten ...“ am Beispiel des Schafs sogar die himmlischen Geheimnisse der Liebe. Das Tier heißt Daisy, Doktor Ross verliebt sich auf der Stelle, als ein liebeskummergeplagter armenischer Schäfer mit Daisy in seiner Praxis auftaucht. So viel Glück und Frieden habe er bislang noch nie erlebt, schwärmt der Doktor beim Schäferstündchen im Hotelzimmer.
Merinowolle, Agnus Dei und Nachhaltigkeit: Eckhard Fuhrs Porträt der "Schafe"
Zehntausend hauchfeine Haare auf einem Quadratzentimeter, weicher geht’s nicht. Die Wolle des Merinoschafs ist die Zärtlichkeit auf Erden. Solche und andere Details über die puschelige Spezies finden sich im jüngsten der exquisiten „Naturkunden“-Bändchen von Matthes & Seitz („Schafe“, 136 S., 18 €). Eckhard Fuhrs Schafsporträt entführt den Leser auf die Aue neben Caspar David Friedrichs „Einsamen Baum“, erkundet Herdentrieb, Hirtenkultur und Wanderschäferei, Hütehunde und Wolfsgefahr. Der Journalist und Hobbyjäger Fuhr verweist auf die Schafsdärme der Nürnberger Bratwürste und der Saiteninstrumente der Berliner Philharmoniker, entdeckt die Tiere auf zypriotischen Cent-Münzen und lehrt einen das Staunen über die weltweit verbreitete Gattung. Sie findet sich in sämtlichen Klimazonen, vom Mufflon über die gescheckten Navajo-Churros bis zur Heidschnucke und zum Rauhwolligen Pommerschen Landschaf. 500 bis 600 Hausschafrassen soll es geben.
Vor allem plädiert Fuhr für die Rückbesinnung auf traditionelle Landbewirtschaftung, für Respekt vor der Natur und Nachhaltigkeit. Biologischer Landbau, bewusster Konsum: „Es ist Zeit für eine grundlegende Agrarwende“, schreibt er. Auch ein 2009 gegründetes Schweizer Online-Magazin für Nachhaltigkeit trägt den Titel „Das Lamm“.
In diesen postindustriellen, spätkapitalistischen, von Ressourcen-Ausbeutung geprägten Zeiten wünscht sich der moderne Mensch zurück zur Natur. Schafe sind in Mode, sogar bestsellertauglich. 2005 erschien Leonie Swanns Debütroman „Glennkill“, ein Schafskrimi mit der klugen Miss Maple, dem Leitwidder Sir Ritchfield und dem Gedächtnisschaf Mopple unter den dramatis oves. Schauplatz Schottland: Der Schäfer liegt auf der Weide, die Schafe blöken „Gerechtigkeit“, ergründen den Homo sapiens und finden den Mörder. Das Buch verkaufte sich in Deutschland über 1,5 Millionen Mal und wurde in über 30 Sprachen übersetzt. Im Sequel „Garou“ unternehmen die Schafe, Brexit-Gegner avant la lettre, ihre Traumreise nach Festland-Europa und tun sich in Frankreich mit den nicht gerade gastfreundlichen Ziegen zusammen, um dem Werwolf auf die Schliche zu kommen. Migration, Interkulturalität, dem Schaf ist nichts Menschliches fremd.
Schafe sind nicht blöd, Lämmer nicht lammfromm und schon gar nicht belämmert, schwarze Schafe keine Außenseiter. Es ist an der Zeit, den Ressentiments in der Sprache höhere Wahrheiten entgegenzuhalten. In der Offenbarung des Johannes kann nur das mystische Lamm das Buch mit den sieben Siegeln knacken – ein Urahn von Shaun. Die Kinder lieben Shaun das Schaf, diesen cleveren, britischen TV-Serientäter, seit 2015 treibt es auch im Kino seine Späße. Shaun ist eins der kleinsten Tiere in der Bauernhof-Herde, also eigentlich ein Lamm, mit weißer Wolle, schwarzem Kopf, schwarzen Beine, im Fachjargon: ein schwarzköpfiges Fleischschaf. In Fuhrs Buch ist zu erfahren, dass die Züchtung im 19. Jahrhundert aus England nach Deutschland importiert und eingemeindet wurde, als eine der häufigsten Arten auf deutschen Wiesen bis heute.
Shaun ist weniger ein Gerechtigkeitsfanatiker als ein Freiheitskämpfer. Shaun will Spaß und Slapstick, Kids mögen das Stop-Motion-Tier vor allem wegen der ulkigen Sprache und dem Schabernack, den es unentwegt ausheckt. Ein Primus inter pares, ein Anarcho mit Team- und Erfindungsgeist, der die Großstadt mit dem Landvirus infiziert und die Erniedrigten und Beleidigten aus dem Tierheim befreit. In jedem Schaf steckt ein Erlöser.
Eine der schönsten Bach-Arien: "Schafe können sicher weiden"
Shaun predigt auch die Feindesliebe. Auf die Dauer ist es besser, sich mit dem Leithammel, dem etwas tumben Bauern, zu arrangieren und sich gegen die bösen Tierquäler mit ihm zu verbünden. Schafe sind Ur-Demokraten. Von den Schafen lernen, heißt regieren lernen.
Eine der schönsten Arien von Johann Sebastian Bach findet sich in der Jagdkantate des Thomaskantors. „Schafe können sicher weiden/wo ein guter Hirte wacht“, singt der Sopran, die Blockflöten umschmeicheln die Melodie mit wohlig-wolligen Terzen und Sexten. Die nächsten Zeilen beschwören die Sehnsucht nach good governance: „Wo Regenten wohl regieren/kann man Ruh und Friede spüren/und was Länder glücklich macht“.
Die Welt, keine Frage, braucht mehr Schafslogik.
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