Stadt an der US-Westküste: Portland: progressiv und selbstironisch
Die Westküstenstadt hat die höchste Lebensqualität der USA, die Menschen hier sind fit und selbstironisch. Ein Paradies? Nicht ganz.
Welcome to America! America? Am Rande des Flughafens knabbern Ziegen das Unkraut weg, rührend besorgt weisen die Herren an der Passkontrolle – andernorts gefürchtet für ihre Ruppigkeit – die Ankommenden ein, auf dass sie ja nicht zu lange in der Schlange warten müssen. Mit der modernen S-Bahn gleitet man in die Stadt, in deren Zentrum die öffentlichen Verkehrsmittel gratis sind und deren Einwohner brav ihren Biomüll einsammeln. Das hat ihnen ihr schwuler Bürgermeister verordnet, derselbe, der ihnen auch die Plastiktüten wegnahm. Selbst nachts laufen die Leute zu Fuß durchs Zentrum, wo man in manchen US-Städten schon froh ist, einer Ratte zu begegnen. Immerhin ein Lebewesen. Hier pilgert man auch am Samstagmorgen auf den Farmers Market, um bunte Urmöhren zu kaufen, und am Sonntagnachmittag spaziert die ganze Familie durch den Buchladen, der von sich selbst behauptet, der größte unabhängige der Welt zu sein. Einen ganzen Straßenblock nimmt „Powell’s, City of Books“ ein, der stark an die 70er Jahre erinnert, in denen er gegründet wurde.
Willkommen in Portland, Oregon – der Stadt, die anders ist. Hipster-Hauptstadt, Foodie-Hochburg, Öko-Paradies, Kreativen-Metropole. Sitz der einzigen Regionalregierung im Land, die direkt gewählt wurde, die erste US-Großstadt, die sich – 2008 – für einen offen Schwulen als Bürgermeister entschied: Sam Adams, ein Advokat der Künste und des öffentlichen Nahverkehrs, begeisterter Fahrradfahrer und Umweltschützer. Die Zeitschrift „Monocle“ wählte Portland im letzten Juli zur „No. 1 most livable city in the U.S.“, die Zeitschrift „Money“ kam ein halbes Jahr später zum selben Ergebnis. „Men’s Health“ erklärte sie zur fittesten Stadt Amerikas, und das, obwohl diese gleichzeitig von CNN zur besten Bierstadt der Welt gekürt wurde. Alle Superlative ohne Gewähr.
Montana, Kalifornien, New York: Wenn man Leute in Portland fragt, wo sie herkommen, sind sie fast immer von anderswo. Vor allem junge Leute, gut ausgebildet, naturverbunden, kreativ, ziehen hierher, inzwischen ist man bei 600 000 Einwohnern angekommen. Eine Stunde vom Meer entfernt, genauso weit bis in die Berge, wo kann man schon so gut und dabei erschwinglich leben? In San Francisco schon lange nicht mehr. Die Geburtsstadt der Hippies haben die Kids vom Silicon Valley unbezahlbar gemacht.
Willy Vlautin zog aus Nevada nach Oregon. Portland war seine Rettung. Hier traf er Gleichgesinnte, mit denen er eine Band gründete, konnte sich anfangs seinen Lebensunterhalt als Anstreicher verdienen. Und keiner hat ihn, wie seine Mutter und die Rednecks in Reno, zum Versager erklärt, weil er Geschichten schrieb.
Eine Riesenstadt hätte ihm Angst gemacht, bekennt der scheue Schriftsteller mit dem großen Herzen, der an keinem Straßenmusiker vorbeigehen kann, ohne ihm was zu geben. Auch dem Pianisten legt er was hin, in der Bar des ältesten Restaurants von Portland, gegründet 1879, als der Westen noch ziemlich wild und rau war. Viel älter ist die kleine Großstadt auch nicht. Das menschliche Maß: Das ist es, was nicht nur Vlautin, dessen zutiefst menschlichen Romane auf Deutsch im Berlin Verlag erscheinen, angezogen hat. Selbst die Straßenblöcke sind höchstens halb so groß wie in New York oder L. A., was das Gehen zu Fuß so vergnüglich macht. Man hat immer das Gefühl, voran zu kommen.
Wie fast überall haben Künstler eine wichtige Rolle bei der Reanimierung der Stadt gespielt, wie überall mussten sie immer mal wieder weiterziehen. Das Zentrum für zeitgenössische Kunst Disjecta etwa ist jetzt an seinem dritten Standort gelandet, in einer früheren Autowerkstatt im Norden der Stadt, der, eben noch geächtet, jetzt im Kommen ist. Die S-Bahn hält vor der Tür.
Und doch ist der Prozess anders gelaufen, hat Gentrifizierung durchaus noch einen guten Klang selbst für jemanden wie Disjecta-Direktor Bryan Suereth, der sich noch erinnert, wie es auf der East Side, östlich des Flusses, aussah: All die Gebäude, die mit Brettern vernagelt waren, die Straßen, in die sich nur Drogendealer, deren Kunden, Skinheads und Kleinkriminelle trauten. Inzwischen ist die East Side eine begehrte Wohngegend, mit lauschigen Holzhäusern, wuchernden Vorgärten statt glattgebügelter Vorortrasen und Straßen, in denen sich ein Café an den nächsten kleinen Laden reiht.
In den 70er Jahren war Downtown so tot wie in den meisten US-Städten
Bewegung kam in die Stadt, die wie alle vom Niedergang der Industrie und Wirtschaftskrisen gebeutelt wurde, nicht nur von unten, sondern auch von oben. Von Bürgern und Politikern, von links – und von rechts. Ausgerechnet ein republikanischer Gouverneur, Tom McCall, legte bereits in den 70er Jahren als Umweltschützer mit Sinn fürs Gemeinwohl die Grundlagen für die heutige Blüte. So setzte er, als Erster in den USA, 1971 Flaschen- und Dosenpfand durch. Jahrzehnte bevor die meisten Städte ihre Lage am Wasser entdeckten, ließ er die sechsspurige Autobahn abreißen, die das Zentrum Portlands abschnitt vom Willamette River (der sich, wie einem jeder Einheimische stolz erklärt, auf „damn it!“ reimt), und legte einen Park an, der heute seinen Namen trägt.
Noch folgenschwerer, ja visionärer war McCalls Einsatz für die „urban growth boundary“. Um die Zersiedelung der Landschaft, das unkontrollierte Wuchern der (Vor-)Städte zu verhindern und das Farmland zu schützen, wurden die Städte gezwungen, Wachstumsgrenzen festzulegen: bis hierher und nicht weiter. Auf diese Weise wurde nicht nur die Umgebung geschützt, sondern auch die Stadt. Da die Bewohner nicht einfach rausziehen konnten, verfolgte Portland eine Politik der Verdichtung, wie sie heute viele Metropolen propagieren. In den 70er Jahren wurde ein 72-Punkte-Plan entwickelt, wie die Stadt attraktiver, lebenswerter werden konnte: mehr Bäume, mehr Bänke, mehr Busse, mehr Leben, weniger Werbung... Die Sichtachsen der Straßen im Zentrum müssen frei bleiben, das heißt auch Firmen wie Apple und Nike dürfen nur dezente Schilder anbringen, und die Bushaltestellen müssen transparent sein.
Im Zentrum wurden wieder Wohnhäuser gebaut, die ab einer gewissen Höhe im Erdgeschoss Läden und Lokale haben müssen, im ersten Stock Büros. Man achtet auf eine Mischung bei der Nutzung wie der sozialen Zusammensetzung. Vor allem aber wurde in den Nahverkehr investiert, neben der S-Bahn, die zum großen Teil mit Bundes-Geldern für Autobahnen finanziert wurde, gibt es ein Tramnetz; für Fahrradfahrer wurde die Infrastruktur massiv verbessert: neue Wege, vorgeschaltete Ampeln, eine autofreie Brücke. Und wenn sie müde werden, können sie ihre Räder vor den Bussen festschnallen.
In den 70er Jahren war Downtown Portland nach Büroschluss so tot wie die meisten amerikanischen Städte, hatte ein prächtiges Hotel einem Parkhaus weichen müssen. Das wurde nun abgerissen, stattdessen ein zentraler Platz angelegt, ein People’s Square im besten Sinne des Wortes. Nicht nur Sponsoren haben ihn finanziert, sondern auch Bürger, die Backsteine für 20, 25 Dollar kaufen und ihren Namen verewigen konnten. Obwohl dem Platz der Charme einer italienischen Piazza fehlt, wie überhaupt die meiste moderne Architektur eher banal ist, kann man sich, auf den Stufen sitzend, vorstellen, warum der Pioneer Courthouse Square das Wohnzimmer Portlands genannt wird.
Die Veränderungen passierten nicht über Nacht, sie zogen sich über Jahrzehnte hin, auch gegen Widerstand. „Smart growth“ heißt das Schlagwort, das Portland nicht erfunden, aber besonders beherzigt hat: ein kluges, soziales Wachstum. Als „radical common sense“ beschreibt Demokrat Sam Adams die Strategie. In seiner Amtszeit legte er besonderen Wert auf die Entwicklung der Stadtteile – idealerweise soll man in einem Radius von 20 Fußgängerminuten die wichtigsten Dinge erledigen und erstehen können.
Heute gilt der Ort an der traditionell progressiven Westküste als Musterbeispiel der Stadtplanung, als Beweis, dass man mit einem konkreten Plan und langem Atem etwas erreichen kann. Da die Einwohner 20 Prozent weniger Autofahren (müssen) als ihre zum Pendeln gezwungenen Landsleute, so Charles Montgomery, Autor des Buchs „Happy City“, sparen sie Milliarden von Dollar – die sie, wie er lachend erzählt, ins Essen und Trinken investieren. „Portland hat mehr Restaurants pro Kopf als jede andere amerikanische Stadt mit Ausnahme von Seattle und San Francisco.“ Und jeden Tag scheinen neue aufzumachen.
Die Kultur des Selbermachens steht hoch im Kurs
Für den Boom gibt es noch andere Gründe: Die Nähe zu den Farmen im fruchtbaren Willamette Valley etwa, die die Lokale direkt beliefern; die Tatsache, dass es keine Mehrwertsteuer gibt; aber auch das schlechte Wetter. Vor nichts wird der Reisende so oft gewarnt wie vor dem Regen, der im milden Winter fast ununterbrochen zu fallen scheint. Regenschirme aber tragen nur Touristen. Die Einheimischen setzen sich aufs Rad. „Dafür sind Sachen wie Goretex doch gemacht“, sagt Ex-Bürgermeister Sam Adams und lacht.
Die Kultur des Selbermachens steht hoch im Kurs. Mit Craft Beer und Streetfood, in Berlin gerade der letzte Schrei, ging es schon in den 80er Jahren los. Indisch, türkisch, russisch – so bunt wie das Essen der Food Trucks ist die Bevölkerung nicht. Portland ist eine fast rein weiße Stadt, der Anteil der Afroamerikaner beträgt weniger als zehn Prozent. Was ihre Lage nicht besser macht. Wie überall stehen sie am Fuße der sozialen Leiter, besuchen die schlechtesten Schulen. Insgesamt ist die Quote der Schulabbrecher erschreckend hoch.
Eine Stadt, in der die Menschen ihrem Flughafenteppich nachweinen, wenn er – wie gerade geschehen – herausgerissen wird, wo Kita-Kinder mit zwei Jahren weben und Ziegenkäse-Selbermachen lernen, muss für den Spott nicht sorgen. Tut sie aber: Selbst die Satire haben die Portlander in die eigene Hand genommen. 2011 startete die erste Staffel der Kultserie „Portlandia“, die sich in überdrehten Sketchen über alles lustig macht, wovon die Einheimischen so besessen sind. Hipster im Coffeeshop spielen eine tragende Rolle, feministische Buchhändlerinnen sind auch sehr beliebt.
Sam Adams unterstützte die Serie von Anfang an, stellte sein Büro für Dreharbeiten zur Verfügung und spielte mit: den Assistenten des TV-Bürgermeisters. Er wusste, sagt der Wowereit von Portland, dessen Nachfolger in der Öffentlichkeit praktisch unsichtbar ist, dass die Aufmerksamkeit der Stadt gut tun würde. Und: „Man muss über sich lachen können.“
Portland, wird gern gewitzelt, ist die Stadt, in die junge Leute ziehen, wenn sie sich zur Ruhe setzen wollen. Man ist kreativ, aber übertreibt es nicht, geht die Projekte sehr relaxed an. Stephanie Donlan vermisst die Energie New Yorks, ihr ist es ein bisschen zu gemütlich hier. Doch wirklich zurück will die Patissière nicht. Ihre Mannschaft ist jung und gut gelaunt, man trägt Dutt, Tattoos und kurze Hosen, hört Indie-Musik und backt Gourmet-Donuts. Der Laden brummt.
Portland ist kein Paradies. An jeder Ecke des Zentrums hocken Obdachlose, viele Junge darunter. Wobei Bryan Suereth auch das als positives Zeichen sieht: für die Liberalität der Stadt, in der Penner nicht, wie in vielen anderen Zentren, vertrieben, sondern toleriert werden.
„Keep Portland weird“, fordert ein beliebter Aufkleber. Ob es gelingt, nicht nur schräg zu bleiben, sondern auch menschlich, lebendig, erschwinglich? Der Druck wächst. Was bisher von Vorteil war, dass die Stadt sich nicht einfach ausbreiten kann, wird zunehmend zum Problem, je mehr Menschen nach Portland drängen. Jetzt sind es nicht mehr nur Veganer und Performancekünstler wie die junge Miranda July, die kommen, sondern Investoren. Mit viel Geld. Die nächsten fünf Jahre, glaubt Kunsthallen-Chef Suereth, werden entscheidend sein.
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