Web 2.0: Goldrausch im Silicon Valley
Google, Apple, Facebook, WhatsApp: Alles Neue kommt von hier, südlich von San Francisco wird im Stundentakt das Internet revolutioniert. Ein Besuch der Start-up-Szene und ihrer Gegner.
Es geht hier immer um die Zukunft, mindestens, drunter macht es keiner. Draußen an den Scheiben des „Institute for the Future“ in Palo Alto kleben zwei Zitate: „Jede brauchbare Behauptung über die Zukunft sollte erst einmal lächerlich klingen“, sagt der Futurologe Jim Dator. „Die Zukunft hat gestern begonnen, und wir sind schon spät dran“, sagt der Musiker John Legend.
Drinnen, im Kellergeschoss, erklären Brienne und Alston Ghafourifar, warum die Zukunft ihnen gehört. Die Geschwister, Kinder einer iranischstämmigen Unternehmerfamilie, sind 19 und 22 Jahre alt, und ihre Start-up-Firma Entefy, die im Zukunftsinstitut ein Großraumbüro belegt, ist „das schnellste, sicherste und leistungsfähigste Kommunikationstool der bisherigen Geschichte und möglicherweise des gesamten Universums“. Sagt Alston. Und Brienne fügt grinsend hinzu: „Wir versuchen nur, ehrlich zu sein.“
Die Ghafourifar-Geschwister sind so etwas wie das personifizierte Silicon Valley. Ihr Traum begann – natürlich – in einem Café, ihren Businessplan kritzelten sie – natürlich – auf eine Serviette. Die Idee: Wäre es nicht total awesome, wenn sich deine gesamte Online-Kommunikation, alle deine E-Mails, Social-Media-Nachrichten, Tweets, SMS und der ganze andere Kram in einer einzigen App bündeln ließen? Zwei Jahre ist das her, beide Geschwister hatten da schon ihre Collegeabschlüsse in der Tasche. Brienne, die jüngere Schwester, ging wenig später als erste Amerikanerin in die Geschichte ein, die bereits als 17-Jährige die erste Dollarmillion Risikokapital für ihr Unternehmen beisammen hatte. Heute, ein paar Investitionsrunden später, hat Entefy gut vier Millionen Dollar eingeworben, die Geschwister führen 35 Mitarbeiter, verteilt auf drei Kontinente, und ihre universumsdominierende Super-App, die noch in der Entwicklungsphase ist, wollen sie Ende des Jahres freischalten. Trotz alledem tragen sie – natürlich – Jeans und T-Shirts, wie es Start-up-Gründer im Silicon Valley nun einmal tun.
Wer den beiden eine Weile zuhört, fragt sich unweigerlich, aus was für einem Holz man wohl geschnitzt sein muss, um als derart junger Mensch derart selbstbewusst und eloquent und unbeirrbar auftreten zu können. Entefy, so viel scheint sicher nach dem Gespräch, dürfte der nächste ganz große Durchbruch im Silicon Valley werden. Oder der nächste schnell vergessene Flop. Eins von beiden ganz bestimmt.
Draußen vor den Türen des Zukunftsinstituts liegt Palo Alto, der Geburtsort des Silicon Valley. Die legendäre Garage, in der William Hewlett und David Packard 1939 den Elektronikkonzern HP gründeten, beherbergt heute ein kleines Privatmuseum, nicht weit davon entfernt steht das Wohnhaus, in dem vor drei Jahren Apple-Gründer Steve Jobs starb, im Süden der Stadt erstreckt sich der Campus der Eliteuniversität Stanford, die das Silicon Valley Jahr für Jahr mit neuen Wirtschafts- und Informatikabsolventen versorgt.
Allein in Palo Alto gibt es derzeit mehr als 7000 Tech-Firmen, im gesamten Tal dürfte ihre Zahl ins Sechsstellige gehen. Die meisten sind junge Start-ups wie Entefy, deren Gründer davon träumen, das nächste Facebook zu werden, das nächste WhatsApp, das nächste Uber, das nächste Milliarden-Dollar-Ding. Woran die allermeisten scheitern werden.
Schon zwei Fernsehserien drehen sich um das Silicon Valley
Es ist im Grunde nicht der zweite, sondern schon der dritte Goldrausch, der die kalifornische Pazifikküste erfasst. Wo vor gut 150 Jahren Siedler nach Nuggets gruben und vor gerade einmal 15 Jahren die Dotcom-Blase platzte, ist der Traum vom schnellen Reichtum heute wieder so allgegenwärtig, dass er bereits Stoff für zwei Fernsehshows liefert. Amazon produzierte 2013 die Start-up-Satire „Betas“, auf HBO startete diesen April die erste Staffel von „Silicon Valley“, einer Comedy-Serie, die sich um fünf junge Programmierer dreht. Ihr Erfinder ist der Regisseur Mike Judge, der selbst einmal Software-Entwickler im Silicon Valley war, bevor er auf Filmemacher umsattelte und mit der MTV-Serie „Beavis and Butt-Head“ berühmt wurde. Er habe, erzählt Judge am Telefon, als Programmierer nur den Dotcom-Boom der 90er Jahre miterlebt, den zweiten kalifornischen Goldrausch sozusagen. Weil heute, beim dritten, vieles anders laufe, habe er vor Drehbeginn in der Start-up-Szene recherchiert. Der überraschendste Befund? „Dass mit noch mehr Geld herumgeworfen wird, als ich dachte“, sagt Judge. „Ich kann die Milliardäre, die ich inzwischen kenne, gar nicht zählen.“
Auch seien die neuen Internet-Reichen ein ziemlich anderer Menschenschlag als der bisherige amerikanische Geldadel. „Früher waren die Superreichen klassische Alpha-Männer, Typen wie die Rockefellers“, sagt Judge. „Heute trifft man bei den einschlägigen Entwicklerkonferenzen introvertierte Nerds, die vor ihren Auftritten so aussehen, als müssten sie vor Nervosität gleich kotzen. Und bei den großen Tech-Partys stehen oft die Frauen gelangweilt neben der Tanzfläche, während die Typen im Nebenzimmer Videospiele spielen.“
Frauen gibt es ohnehin nicht so viele im Silicon Valley. Eine örtliche Dating-Agentur ließ kürzlich mit einer spendenfinanzierten „Luftbrücke“ Single-Frauen aus New York einfliegen, zur Vermittlung an einsame Männer aus der Technologiebranche. Erfolgreiche Paarungen wurden bisher nicht vermeldet.
Nur 30 Prozent Frauen arbeiten in der kalifornischen Belegschaft von Google, womit der Internet-Gigant im Branchenvergleich noch ganz gut dasteht. Auch die sonstige Personalzusammensetzung, über die Google kürzlich erstmals Daten veröffentlichte, überraschte im Silicon Valley nicht: 61 Prozent Weiße und 30 Prozent Asiaten, dagegen nur zwei Prozent Schwarze und drei Prozent Lateinamerikaner. Groß anders sieht es auch bei den übrigen Konzernen nicht aus, die sich zwischen San Francisco im Norden und San José im Süden dicht an dicht in die Talebene an der Pazifikküste drängen.
Wer mit dem Auto durch die Region fährt, staunt vor allem, wie unspektakulär es hier aussieht. Östlich und westlich des Highway 101 reihen sich einige der höchstbewerteten Unternehmen der Welt, aber über weite Strecken kann man das Silicon Valley mit einem westfälischen Industriegebiet verwechseln. Nur die Straßen sind ein bisschen schlechter, und der mobile Internetempfang nicht so lückenlos, wie man es hier eigentlich erwarten würde.
Google-Busse sind zum Hassobjekt geworden
Erst jenseits des öffentlichen Raums, innerhalb der Firmengelände, offenbart die Gegend ihre Schrullen. Etwa auf dem Google-Campus in Mountain View, wo die Mitarbeiter auf bunten Google-Fahrrädern von Flachbau zu Flachbau strampeln, vorbei an firmeneigenen Beach-Volleyball-Feldern und Fitnesszentren, Saftbars und Spezialitätenkantinen, Meditationsräumen und Massagepraxen – das ganze Gelände sieht im Grunde so aus, als würde hier nie gearbeitet. Dass das Gegenteil wahr ist, merkt man erst auf den Toiletten: Da hängen eng bedruckte Zettel über den Pissoirs, betitelt mit „Learning on the Loo“ oder „Testing on the Toilet“. Die Pinkelsekunden verstreichen hier nicht ungenutzt, man kann sich nebenbei ein paar Kniffe fürs effektivere Programmieren aneignen. Draußen auf dem Campus drehen derweil kleine schwarze Autos ihre Runden, in denen irritierenderweise niemand sitzt. Die Zukunft gehört dem fahrerlosen Google-Car.
In der Gegenwart wird mehr über Google-Busse geredet. Weil viele Tech-Spezialisten zwar im Silicon Valley arbeiten, aber nicht dort wohnen wollen, schiebt sich allmorgendlich eine Flotte von Pendlerbussen durch die Straßen von San Francisco, der 800 000-Einwohner-Metropole am Nordrand des Industriegebiets. Obwohl Google selbst nur einen Teil dieser Firmenfahrzeuge betreibt, werden die Großkarossen mit den abgedunkelten Scheiben in San Francisco unterschiedslos als „Google-Busse“ beschimpft. Erin McElroy hasst ihren Anblick. Die 31-jährige Aktivistin organisiert in San Francisco regelmäßig Proteste gegen die IT-Industrie, die sie für die zunehmende Verdrängung ärmerer Bevölkerungsschichten verantwortlich macht. Die einstige Hippie-Metropole gilt derzeit als die amerikanische Stadt, in der die Wohlstandsniveaus am rapidesten auseinanderdriften. Hatte San Francisco noch während des Dotcom-Booms kaum Berührungspunkte mit dem Silicon Valley, so haben sich inzwischen mehr als 2000 Start-up-Firmen hier niedergelassen, nebst etwa 14 000 gutverdienenden Mitarbeitern von Großkonzernen, die allmorgendlich per Bus an ihre Schreibtische verfrachtet werden.
Das Ergebnis ist eine Mietenexplosion, die sich insbesondere rund um die Haltestellen der Firmenbusse bemerkbar macht: Allein zwischen 2010 und 2012, rechnet Erin McElroy vor, seien die Durchschnittsmieten in solchen Straßenzügen um gut 20 Prozent gestiegen. „Wer das nicht zahlen kann, wird rausgeklagt oder vergrault.“ McElroy kann sich regelrecht in Rage reden über die Tech-Konzerne, denen aus ihrer Sicht jedes öffentliche Verantwortungsgefühl fehle. Überhaupt, sagt sie, sei ihr selten ein uncouragierterer Haufen Menschen begegnet als die jungen Computerspezialisten, die morgens an den Bushaltestellen stehen. „Wenn du sie ansprichst, verstecken sie sich hinter ihren Smartphones, sie trauen sich nicht, dir ins Gesicht zu sehen. Aber nach jeder Protestaktion überschwemmen sie meinen Posteingang mit anonymen Hass-Mails.“
Ein Manager verglich die Proteste mit der Judenverfolgung
Es ist eine Auseinandersetzung, die in den letzten Monaten zunehmend eskalierte. Nachdem einzelne Google-Busse mit Steinen beworfen wurden, ging der Unternehmer und Milliardär Tom Perkins so weit, die Proteste in einem Kommentar für das „Wall Street Journal“ mit der Judenverfolgung durch die Nazis zu vergleichen. Gemäßigtere Vertreter der Web-Industrie argumentieren, San Francisco erlebe durch die Ansiedlung von Start-up-Firmen einen fühlbaren Aufschwung, die Arbeitslosigkeit habe sich fast halbiert, von zehn auf fünf Prozent.
Tom Kelley kann beide Seiten verstehen. Der Manager, der gemeinsam mit seinem Bruder David die Innovationsberatung Ideo leitet, arbeitet seit den 80er Jahren im Silicon Valley, er kann einiges darüber erzählen, wie sich die hiesige Industrie gewandelt hat – nämlich auf sehr ähnliche Art wie die Arbeit der Kelleys. Ideo begann als Designunternehmen, für Apple gestalteten die Brüder die erste Computermaus, für Palm das erste Tablet. Das war zu einer Zeit, als das Silicon Valley seinen Namen noch zu Recht trug, weil Silizium der Stoff war, aus dem hier greifbare Produkte geschmiedet wurden.
Seit in der Region weniger Handfestes hergestellt wird, seit das große Geld nicht mehr im Silizium, sondern im Netz steckt, hat auch Ideo seinen Geschäftsbereich ausgeweitet. Die Kelleys beraten heute Unternehmen bei so ziemlich allem, was sich auf die eine oder andere Art kreativer gestalten lässt: Arbeitsabläufe, Schulmahlzeiten, Transplantationsverfahren, der Staat Singapur bat die Firma gar, das ganze Land innovativer zu machen. Gemeinsam schrieben die Brüder zuletzt das Ratgeberbuch „Kreativität und Selbstvertrauen“, in dem sie argumentieren, dass Gestaltungsfähigkeit kein gottgegebenes Talent sei, sondern ein Muskel, der sich trainieren lässt. Die ganze Welt kann so kreativ sein wie das Silicon Valley!
Zeiten des Erfolgs, sagt Tom Kelley über den neuen Goldrausch, seien manchmal genauso schwer zu bewältigen wie Zeiten wirtschaftlicher Härten. „Ich erinnere mich noch gut an die Hochphase des Dotcom-Booms, als ich Anrufe von Headhuntern bekam, die mir einredeten, ich könne unmöglich mehr als zwölf Jahre für dieselbe Firma arbeiten – das sehe schlecht im Lebenslauf aus.“ Inzwischen sind es 27 Jahre, Kelley ist immer noch bei Ideo, und er weiß, dass seine Mitarbeiter heute ähnliche Anrufe bekommen. „In solchen Zeiten muss man die Menschen manchmal daran erinnern, was wirklich wichtig im Leben ist.“
Doch auch für die Gegner des Goldrauschs hat Kelley eine Geschichte parat. Er komme ursprünglich aus Ohio, erzählt er. „In meiner Heimatstadt wurden früher 100 Prozent aller Autoreifen hergestellt, die in Amerika verbaut wurden. Als ich wegzog, um aufs College zu gehen, war diese Zahl auf null gesunken, und die Stadt verlor jede wirtschaftliche Perspektive.“ Die Sorgen von Aktivisten wie Erin McElroy könne er zwar verstehen, sagt Kelley. „Trotzdem lebe ich lieber in einer Stadt wie San Francisco, die das Potenzial hat, sich wirtschaftlich zu erneuern.“