zum Hauptinhalt
Kerzen vor dem Joseph-König-Gymnasium in Haltern am See.
© AFP

Absturz der Germanwings-Maschine: Öffentlichkeit erregt in Deutschland Skepsis

"Darüber spricht man nicht", "das geht einen nichts an" - bei einem Reporter ist diese Haltung gefährlicher als Neugier. Und Berichterstattung kann auch für Angehörige wichtig sein. Doch beim Absturz von Flug Nummer 4U 9525 wird sie besonders scharf kritisiert. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Ruth Ciesinger

Der für den heutigen Karsamstag angemeldete Trauermarsch in Haltern am See wurde abgesagt. Die Angehörigen der 16 Schüler und zwei Lehrerinnen des Joseph-König-Gymnasiums sollen in Ruhe trauern können. Ruhe und Linderung wünscht jeder den Angehörigen und Freunden der 150 Todesopfer des Absturzes der Germanwings-Maschine. Keine Ruhe aber darf einkehren bei der Recherche nach den Ursachen dieser Katastrophe und der Debatte über die Konsequenzen daraus. Auch wenn es so aussieht, als ob der ein oder andere gerade diese Aufgabe der Medien am liebsten für beendet erklären würde. 

Ob man den Namen des Copiloten Andreas Lubitz nennen und sein Bild zeigen darf, die Frage hat seit der vergangenen Woche zumindest in den sozialen Netzwerken mehr Menschen umgetrieben als die Überlegung, ob die ärztliche Schweigepflicht bei bestimmten Berufen zum Schutz der Allgemeinheit gelockert werden müsste, und warum das Unternehmen Lufthansa mehr wie ein Leidtragender und weniger als Mit-Verantwortlicher behandelt wird. Die Art und Weise der Berichterstattung, nicht deren Ertrag stehen im Fokus.

Als vergangene Woche die Nachricht vom Absturz der Germanwings-Maschine bekannt wurde, griffen innerhalb von Stunden hunderttausende von Lesern auf tagesspiegel.de auf den Live-Ticker zu dem Unglück zu. Sie wollten wissen, was da in den französischen Alpen passiert war. Mit Sicherheit waren sie alle von der Tragödie bewegt, viele hatten das Bedürfnis, sich auszutauschen. Voyeure waren sie deshalb keine.

Und sofort war eine der Fragen, was jetzt geschrieben werden dürfe und was nicht. Einige Leser stellten Mutmaßungen über das Geschehen an, woraufhin sich andere Leser wie "Take-off" "laienhafte Kommentare und Spekulationen“ verbaten und manche forderten, die Kommentarfunktion für Artikel zur Germanwings-Katastrophe ganz zu sperren. Sie empfanden es als unerträglich, dass andere sich ohne echtes Faktenwissen äußerten. Dem Leid der Betroffenen wollten sie Respekt zollen. Potenzielle Angehörige der Opfer sollten davor geschützt werden, verletzt zu werden.

Abgesehen davon, ob Angehörige von Opfern einer solchen Katastrophe die Kommentare unter Artikeln dazu lesen: Der Schutz der Betroffenen sowie die die Überlegung, ob moralische Bedenken so irgendwann eine notwendige journalistische Arbeit einschränken, gehören zum Kern der Debatte über die Berichterstattung zu Flug 4U 9252.

Als der französische Staatsanwalt zwei Tage nach dem Absturz nicht nur den Copiloten für „bewusst verantwortlich“ erklärte, sondern für die zugeschaltete Weltöffentlichkeit auch dessen Name buchstabierte, A-N-D-R-E-A-S L-U-B-I-T-Z, reagierten die deutschen Redaktionen einzigartig. Sollen wir den Namen nennen? Besteht genug Sicherheit? Was für einen Informationsgehalt hat ein, hat dieser Name überhaupt? Beim Tagesspiegel führte vor allem der Gedanke an die Eltern und Familie des jungen Mannes zunächst zur Abkürzung des Namens. Weltweit dagegen war es gar keine Frage, dass der Pilot, der nach Aussagen des ermittelnden Staatsanwaltes für seinen und den Tod von 149 weiteren Menschen verantwortlich war, mit vollem Namen genannt würde.

Der gewaltsame Tod von 150 Menschen betrifft eine Gesellschaft als Ganzes

Im amerikanischen Online Magazin ".Mic" empörte sich ein Kommentator sogar, weshalb Andreas Lubitz nicht seiner Tat gemäß als Terrorist bezeichnet werde. Vielleicht ist das ein Punkt: Nach allem, was man weiß, hatte Andreas Lubitz keine politische Agenda, mit seiner Tat wollte er keinen Systemwandel herbeiführen. Der durch ihn ausgelöste massenhafte Tod bekommt etwas singuläres, einzigartiges. Im gleichen Maße, in dem so die Angst, die Tat könne sich wiederholen, sinkt, scheint jedoch dem Interesse an Tat und Täter etwas voyeurhaftes zugeschrieben zu werden. Sein Verbrechen hat sich nicht gegen die Gesellschaft gerichtet hat, deshalb soll diese jetzt gefälligst auch ihre Nase heraushalten?

Wohl besser nicht. Das gewaltsame Sterben von so vielen Menschen betrifft eine Gesellschaft als Ganzes. Vor allem dann, wenn es durch einen Flugzeugpiloten während der Ausübung seines Berufes bewusst herbeigeführt wurde, in einer Situation, in der sich täglich Millionen von Menschen befinden. Schon deshalb haben sie ein Recht darauf, mehr über die Katastrophe zu wissen, um sich sicherer zu fühlen, und um sicher zu sein, dass alles mögliche getan wird, dass sich so etwas nicht wiederholt.

Deshalb ist die psychische Erkrankung von Andreas Lubitz auch keine Privatsache. Niemand Ernstzunehmendes hat gefordert, depressive Menschen künftig in ihrer Berufswahl einzuschränken, da sie eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellen würden. Trotzdem wird allenthalben vor einer Stigmatisierung von Depressiven gewarnt. Weniger hinterfragt wird, ob Verantwortliche bei der Lufthansa, die ja ihre Piloten-Bewerber schon jetzt strengen psychologischen Tests unterzieht (und dafür wird das Unternehmen ja einen Grund haben) möglicherweise hätten früher etwas merken können. Wenn nun im Vorfeld hätten Schritte unternommen werden können, um die Katastrophe abzuwenden, müsste das Konsequenzen nach sich ziehen. Ganz ohne öffentlichen Druck?

Vielleicht führt auch die Hilflosigkeit angesichts eines solchen Unglücks zu dem Wunsch, wenigstens moralisch alles richtig zu machen. Doch warum treibt diese Sorge nicht französische, britische, amerikanische Journalisten um? Warum sähen beispielsweise Reporter der "New York Times" es sogar als grobe Verletzung ihrer Pflicht an, nicht möglichst umfassend über alle bekannten Fakten zu berichten, eingeschlossen der vollen Namen der Opfer des Absturzes? Wohl nicht, weil sie allesamt skrupel- und herzlose Leichenfledderer sind. 

Öffentlichkeit ist auch für die Betroffenen wichtig

Sicher macht die "New York Times" auch nicht alles gut, und dass Öffentlichkeit und Privates in Deutschland aufgrund der Erfahrungen mit Nazi-Diktatur und Stasi-Regime anders gewertet werden, ist wichtig. Doch wenn Öffentlichkeit und öffentliches Interesse präventiv als negativ behandelt werden, entsteht eine Unwucht. 

Weinende Angehörigen zu verfolgen liegt nicht im öffentlichen Interesse. Aber wenn in Haltern am See ein Trauergottesdienst stattfindet, zu dem die Bewohner der Stadt gehen, tun sie das, um zu zeigen: Wir sind eine Gemeinschaft, ihr - die Angehörigen - seid nicht allein, wir wollen symbolisch Euer Leid teilen. Ohne Öffentlichkeit gäbe es diese Möglichkeit der Anteilnahme gar nicht. Warum werden dann diese Menschen in einer Nachrichtensendung verpixelt gezeigt? Was für eine Botschaft soll damit verbreitet werden?

Man muss niemanden ins Scheinwerferlicht zerren, der das nicht möchte. Wenn die BBC aber den Vater eines auf Flug Nummer 4U 9525 verstorbenen jungen Mannes interviewt, und dieser sagt, er sei nicht wütend, aber „die Eltern des Copiloten“ täten ihm besonders leid, dann ist das kein Voyeurismus sondern ein Dokument menschlicher Größe in einer absoluten Ausnahmesituation. 

Und Öffentlichkeit ist für die Betroffenen wichtig. Zum Beispiel wenn es darum geht, ob die Versprechen, die im ersten Moment des Schocks gemacht werden, auch eingehalten werden, von Seiten des Unternehmens, aber auch von der Politik. Den Bedürfnissen, den Ansprüchen der Angehörigen eine Stimme zu verleihen, auch das kann Öffentlichkeit. Wie sonst will man zum Beispiel später der Frage nachgehen, ob die angekündigte Soforthilfe tatsächlich ausgezahlt wird und wie mit Schadensersatzforderungen umgegangen wird? 

"Darüber spricht man nicht", "das geht einen nichts an" - bei einem Reporter ist diese doch arg paternalistische Haltung eine größere Gefahr als zu großes Interesse. Und manche Dinge gehen durch Verschweigen auch nicht mehr weg, auch wenn man es sich wünschen würde. Der Absturz der Germanwings-Maschine, so einzigartig er hoffentlich bleiben mag, wird uns als Gesellschaft prägen, ist jetzt schon Teil unseres kollektiven Bewusstseins. Jeder Fluggast wird in den nächsten Monaten einen Moment an Flug Nummer 4U 9525 denken, wenn er seine Maschine besteigt, oder wenn er ins Cockpit blickt.

Zur Startseite