Campingplatz in Nordrhein-Westfalen: Missbrauchsfall in Lügde bekommt größere Dimension
Im Fall massenhaften Kindesmissbrauchs auf einem Campingplatz in Lügde gibt es mehr Verdächtige. NRW-Innenminister Reul ist bestürzt über das Ausmaß.
Neue Verdachtsfälle, neue Ermittlungen und neue personelle Konsequenzen: Der Skandal um den massenhaften Kindesmissbrauch auf einem Campingplatz in Nordrhein-Westfalen nimmt immer größere Dimensionen an. „Es sieht aus, dass es noch schlimmer ist, als ich befürchtet habe“, sagte NRW-Landesinnenminister Herbert Reul (CDU) am Dienstag.
Die Zahl der Beschuldigten, gegen die die Staatsanwaltschaft in Zusammenhang mit dem Missbrauch im lippischen Lügde ermittle, sei von sechs auf sieben gestiegen, berichtete Reul in einer Sondersitzung des Düsseldorfer Landtags. Dabei handle es sich um einen 16-Jährigen, der kinderpornografisches Material besessen haben soll. Auch ältere Verdachtsfälle von Sexualstraftaten auf dem Campingplatz an der Grenze von Nordrhein-Westfalen zu Niedersachsen würden neu aufgerollt, sagte Reul. Am Mittwoch wurde zudem erneut der Campingplatz von der Polizei nach weiteren Hinweisen durchsucht, wobei auch ein Spürhund zum Einsatz kam. Dieser fand einen versteckten USB-Stick.
Polizeidirektor wird versetzt
Eine der schockierendsten Erkenntnisse sei, dass der heute 56-jährige arbeitslose Hauptverdächtige schon vor 17 Jahren verdächtigt geworden sei, eine Achtjährige missbraucht zu haben, berichtete der Minister. „Im Moment sieht es nicht so aus, dass ein Verfahren eingeleitet wurde. Der innenpolitische Sprecher der SPD-Opposition, Hartmut Ganzke, stellte fest, dass der Beschuldigte die späteren Taten nicht hätte begehen können, wenn aufgeklärt worden wäre. Am Dienstagabend wurde eine weitere einschneidende Konsequenz für die zuständige Kreispolizei bekannt: Auf Anweisung des NRW-Innenministeriums werde der Polizeidirektor an das Landesamt für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten versetzt, teilte Landrat Axel Lehmann (SPD) mit. Den Posten übernimmt kommissarisch bis Mai 2019 eine Beamtin aus dem Landeskriminalamt. Der Landrat hatte bereits vorige Woche einen anderen Beamten, den Leiter der Direktion Kriminalität, von seinen Aufgaben entbunden.
Der von Reul eingesetzte Sonderermittler, Kriminaldirektor Ingo Wünsch, skizzierte zuvor eine beispiellose Kette des Versagens in der Kreispolizeibehörde Lippe. „Im Ergebnis gab es schwere handwerkliche Fehler, die sich potenziert haben“, bilanzierte er. „Verantwortliche Führung ist nicht erkennbar.“ So sei der eigentlich zu sichernde Asservatenraum meistens offen geblieben. Mit der Sichtung von 155 Datenträgern, die auf dem Campingplatz und in der Wohnung des Hauptverdächtigen gefunden wurden, sei ein Polizeianwärter beauftragt worden, der alles in fünf Stunden gesichtet haben will. Dies sei unmöglich. Wer den Studenten beauftragt habe, sei nicht zu klären. Die Durchsuchungsberichte der Polizeibehörde seien „oberflächlich“, die Dokumentation schlecht gewesen. Das Polizeipräsidium Bielefeld, das den Fall übertragen bekommen hat, habe bei einer erneuten Tatortbesichtigung in der vergangenen Woche weiteres Beweismaterial im Wohnwagen des Hauptverdächtigen gesichtet, darunter 131 CDs.
Dauercamper soll eine 15-Jährige vergewaltigt haben
Auf dem Campingplatz sollen über Jahre mindestens 31 Opfer missbraucht und dabei gefilmt worden sein – die meisten Kinder zwischen 4 und 13 Jahren. Drei Verdächtige sitzen bereits in Untersuchungshaft. Ermittelt wird zudem gegen zwei weitere Beschuldigte wegen Beihilfe und gegen eine Person wegen Strafvereitelung. Bei dem neuen Verdachtsfall handelt es sich nach Angaben des Detmolder Oberstaatsanwalts Ralf Vetter um einen 16-Jährigen aus der Region, der kinderpornografisches Material besaß, das auf dem Campingplatz entstanden sein soll. Der Jugendliche sei am Montag vernommen worden, befinde sich aber wieder auf freiem Fuß. Die Ermittler seien durch die Auswertung sichergestellter Daten auf ihn gestoßen.
Reul berichtete darüber hinaus über einen weiteren Missbrauchsverdacht: Ein Dauercamper soll im vergangenen Frühjahr eine 15-jährige Jugendliche in Lügde vergewaltigt haben. Derzeit werde geprüft, ob dieser Fall zum Tatkomplex gehöre.
Inzwischen seien allein 60 Ermittler mit der Aufarbeitung von über 1000 Missbrauchsfällen beschäftigt. Zudem werde unter anderem wegen Strafvereitelung im Amt und Verletzung der Fürsorgepflicht gegen 14 Beschuldigte bei Behörden ermittelt. Darunter seien zwei Polizisten und acht Jugendamtsmitarbeiter. Künftig will Reul den Kampf gegen den Kindesmissbrauch mit einer neuen Stabsstelle im Innenministerium professionalisieren. An der Spitze soll ein erfahrener Kriminalbeamter stehen. „Die Schwächsten brauchen die stärksten Beschützer, und das muss die Polizei sein“, sagte der Minister.
Die Grünen-Abgeordnete Verena Schäffer warf Reul vor, den Landtag nicht früh genug über den Vergewaltigungsfall in Lügde informiert zu haben. Zudem zweifelte sie an, dass der Minister tatsächlich erst kürzlich über die Dimension des Missbrauchs informiert worden sei, da er schon früh von Behördenversagen gesprochen habe. (dpa)
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