Drei Schwestern vor Gericht: Martyrium entkommen, aber wegen Mordes angeklagt
Sie töten den Vater, der sie jahrelang missbraucht hat. Die Anklage gegen sie löst Kritik aus – auch am russischen System, das häusliche Gewalt verharmlost.
War es eine gemeinsam geplante, heimtückische Tat oder ein Akt purer Verzweiflung? Vor einem Jahr töteten die Schwestern Maria, Angelina und Kristina, damals 17, 18 und 19 Jahre alt, ihren Vater Michail Chatschaturjan, ein Moskauer Geschäftsmann mit kriminellen Verbindungen. 36 Mal sollen sie auf ihn eingestochen haben, als er im Fernsehsessel schlief. Der Fall wird in Russland gerade emotional diskutiert. Nicht allein die Tat schockiert – vielmehr die Umstände, das erwartete Urteil und ebenso die Rolle des Staates.
Über Jahre hatte Chatschaturjan seine Töchter misshandelt. Er sperrte sie ein, verprügelte sie und zwang sie zu sexuellen Handlungen. Selbst die Ermittler haben die Umstände bestätigt. Die jungen Frauen leiden in der Folge unter schweren psychischen Störungen.
Den Vater zu töten, erschien ihnen Ende vergangenen Juli als der einzige Ausweg aus ihrem Martyrium. Der 57-Jährige hatte sie am Tag seines Todes zuvor mit Pfefferspray attackiert, weil ihm das Wohnzimmer nicht sauber genug war. Später griffen die Schwestern zu Küchenmesser und Hammer. Gleich danach stellten sich die Frauen der Polizei.
In Moskau sind die drei Schwestern gerade wegen Verabredung zum Mord angeklagt worden. Der Prozess soll im August starten. Und wer das russische Justizsystem kennt, weiß, dass es für die Angeklagten nicht gut aussieht: Fast 99 Prozent aller Verfahren im Land enden mit einem Schuldspruch. Den beiden älteren Schwestern drohen bis zu 20 Jahre Haft.
Opfer oder Täter?
Für ihre Anwälte sowie für viele Russen, die den Fall verfolgen, handelten die Schwestern aus Notwehr, zur Selbstverteidigung, sind vor allem Opfer statt Täter. Beim ersten Treffen, berichtete ihr Anwalt, habe eine der Schwestern erklärt, sie fühle sich im Gefängnis besser aufgehoben als in ihrer Wohnung mit dem Vater. Die jungen Frauen seien an den Rand des Wahnsinns getrieben geworden. Von klein auf hätten sie gelernt, wie Sklaven zu leben. Die Anwälte forderten, die Mordanklage solle fallen gelassen und stattdessen über Notwehr verhandelt werden.
Außerdem solle posthum ein Verfahren gegen den Vater eröffnet werden. „Es war ihr Leben oder seines – es gab keine anderen Möglichkeiten“, sagte Mari Dawtjan, Leiterin einer Hilfsorganisation für Opfer häuslicher Gewalt, dem Nachrichtenportal „Meduza“. Die Ankläger sehen das bislang anders.
Die Mutter der Schwestern soll Michail Chatschaturjan, genauso wie einen gemeinsamen Sohn, schon vor Jahren aus der Wohnung geworfen haben. Beiden gegenüber soll Chatschaturjan ebenfalls gewalttätig gewesen sein. Die Mutter machte die Polizei vergeblich auf die Situation aufmerksam. Der Vater unterband fortan den Kontakt zwischen Mutter und Töchtern. Das Ausmaß des Martyriums ihrer Kinder habe sie selbst erst erst im vergangenen Jahr, nach der Tat, erfahren, heißt es. Selbst trauten sich die Opfer nicht zur Polizei. Auch die Schule informierte, nachdem die Mädchen häufiger fehlten, offenbar die zuständigen Behörden, ohne dass diese einschritten. Nachbarn berichteten, sie seien von Michail Chatschaturjan bedroht worden. Aus dem Apartment hätten sie häufig die Schreie der Mädchen gehört.
Häusliche Gewalt gilt als Familiensache
Sie unternahmen wohl auch deshalb nichts, weil sie es als familiäre Angelegenheit betrachteten. Eine Sicht, die in Russland weitverbreitet ist. Ein Problem – bei Weitem nicht nur im Fall Chatschaturjan. Häusliche Gewalt wird zu selten verfolgt. Deshalb ist die Debatte über die Geschehnisse diesmal besonders lautstark. Der Staat, so lautet die Kritik, schütze seine Bürger nicht genug.
Erst im Frühjahr 2017 hat Russland ein neues Gesetz in Sachen häuslicher Gewalt verabschiedet – das bedeutete eine Strafmilderung für die Täter. Gewalttaten in der Familie werden seitdem lediglich als Ordnungswidrigkeit behandelt und mit Bußgeld von durchschnittlich umgerechnet 70 Euro bestraft. Zuvor drohten bis zu zwei Jahre Haft. Überhaupt ist häusliche Gewalt nur noch strafbar, wenn das Opfer sichtbare Schäden erleidet oder mehr als einmal im Jahr verprügelt wird. Ein russisches Sprichwort lautet: „Er schlägt mich, also liebt er mich“.
Die Befürworter der Gesetzesänderung erklärten Schläge damals zu einem adäquaten Mittel der Erziehung. „Wir wollen nicht, dass man zwei Jahre im Gefängnis sitzt, nur weil es einmal einen Klaps gegeben hat“, erklärte Jelena Misulina, Vorsitzende des Familienausschusses der Duma. Das führe zur Verschlechterung des Familienklimas und sei deshalb aus ihrer Sicht ein familienfeindlicher Zustand.
Demonstrationen für die Schwestern
Fast 36.000 Frauen leiden offiziellen Angaben zufolge jeden Tag unter den Schlägen ihrer Männer, 26.000 Kinder werden täglich von ihren Eltern misshandelt. Knapp alle 40 Minuten kommt eine Frau durch häusliche Gewalt ums Leben, insgesamt sterben pro Jahr in Russland etwa 12.000 Frauen an den Folgen der Gewalt. Fast 80 Prozent aller wegen Mordes verurteilten Frauen in Russland seien zuvor von gewalttätigen Partnern misshandelt worden, berichtete die alternative Nachrichtenseite „Mediazona“.
Gesprochen wird über die Gewalt in aller Regel nicht. Doch seitdem Anklage gegen die Schwestern erhoben ist, kommt es wiederholt zu Protest. Mitte Juni zogen Demonstranten vor den Moskauer Sitz der Ermittlungsbehörde. „Die Chatschaturjan-Schwestern brauchen Rehabilitation, kein Gefängnis“, stand auf einem Schild, „Selbstverteidigung gegen einen häuslichen Tyrannen ist kein Verbrechen“ und „Schluss mit der Beschuldigung der Opfer“ auf anderen.
Viele beklagen, dass Opfern häuslicher Gewalt in Russland nur zwei Optionen bleibe: durch die Gewalt in den eigenen vier Wänden zu sterben oder vor Gericht und im Gefängnis zu landen. Protestaktionen gab es auch vor russischen Botschaften im Ausland. Eine Internetpetition für die Einstellung des Gerichtsverfahrens gegen die Chatschaturjan-Schwestern unterstützen bislang mehr als 230.000 Menschen. Für Ende Juli ist in Moskau eine größere Demonstration geplant.
„Es ist sehr bedauerlich, aber der Fall zeigt die Situation, in der wir leben“, sagte Anna Riwina, Leiterin einer Organisation, die sich für die Opfer häuslicher Gewalt einsetzt. „Wenn Frauen oder in diesem Fall Kinder jahrelang Gewalt ausgesetzt sind, ist niemand bereit, ihnen zu helfen.“ Richter und Polizisten glaubten bis heute, dass häusliche Gewalt eine Familienangelegenheit sei, sagt sie. „Aber das Problem gehört der Gesellschaft als Ganzes, nicht einer einzelnen Familie.“
An diesem Montag veröffentlichte das UN-Büro für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) in Wien einen Bericht, nachdem im Jahr 2017 rund 50.000 Frauen von ihrem Partner oder von Familienangehörigen getötet worden sind.