Rituale der #MeToo-Debatte: Die Rückkehr der Selbstkritik
Die öffentliche Selbstkritik, inklusive Vernichtung und Wiederaufbau, ist keine neue Kunstform. Sie ist in Wahrheit eine ganz alte. Ein Kommentar.
Seitdem „MeToo“ täglich neue Gründe für Entschuldigungen liefert, werden wir Zeugen einer neuen Kunstform, die in Wahrheit eine ganz alte ist: die öffentliche Selbstkritik, inklusive Vernichtung und Wiederaufbau, bekannt als Ritual für Abweichler in der Kommunistischen Partei. So viele „mea culpas“ für sexuelle Zumutungen sind inzwischen ausgesprochen, dass sich mehr oder weniger erfolgreiche Formen dafür gebildet haben. Die ersten Beschuldigten machten sich mit ihrer Reaktion noch gleichzeitig über die Anklägerinnen lustig. Die wurden quasi ausgebuht.
Dustin Hoffman wurde von John Oliver, Anchorman von „Last Week Tonight“ auf einer Bühne gegrillt: Hoffmans Antwort fühle sich nicht „in dem Maße selbstreflexiv an, wie es die Ereignisse von damals verlangen“. In der vergangenen Woche machte Brendan Cox dann alles richtig.
Der Ehemann der britischen Abgeordneten Jo Cox, die eine Woche vor dem Brexit-Referendum auf offener Straße erstochen wurde, hat seitdem zwei Charity-Organisationen geleitet, die ihr politisches Erbe weitertragen sollen. Plötzlich hieß es, er habe bei einem früheren Job bei „Save the Children“ eine Kollegin sexuell bedrängt, außerdem tauchte eine später eingestellte Anzeige wegen einer Belästigung aus den USA auf. Da wählte Cox für sich selbst die höchste Strafe: Rücktritt von allen Funktionen, öffentliche Selbstgeißelung unter Tränen und ein Gelöbnis für die Zukunft.
Brendan Cox mag schuldig sein oder nicht – interessant ist die Totalität seiner Kapitulation. Gerade noch hieß es, dass bis zu einem Beweis von Unschuld auszugehen sei, da sehen wir andererseits, wie die Gewaltenteilung in einer einzigen Person aufgehoben wird: erstaunlicherweise im Täter selbst. Cox ist sein Staatsanwalt, Richter und Vollstrecker in Personalunion. Er serviert der Öffentlichkeit Strafe und Resozialisierungsprognose ohne Gerichtsverfahren. All das in nur zwei Tweets.
Der Mann mit den alten Werten kann nur zugleich der neue sein, wenn der Zusammenbruch glaubwürdig ist. Möglich, dass Cox, der Fuchs, einfach weiß, wie Öffentlichkeit funktioniert und so einen Prozess, der sonst Jahre dauert, in Sekunden hinter sich bringt. Schließlich ist er ein politischer „Campaigner“, der berufsmäßig öffentliche Meinung beeinflusst.
Cox’ Schwägerin schrieb, die Familie erkenne den Versuch an, das Richtige zu tun. Fast ist es so, als hätte er seine Strafe schon verbüßt.
Deike Diening