Amokfahrt in Münster: Horror in der westfälischen Provinz
Kaum ein anderer Ort vermittelt so gutbürgerliche Gemütlichkeit wie der Platz vor dem Kiepenkerl. Am Samstag wurde er zum Ziel einer Amokfahrt.
Es ist ein bewegendes Bild. Mitarbeiter der Gaststätte „Großer Kiepenkerl“ legen am Sonntag Blumen nieder und stellen eine Kerze auf. Einige weinen und nehmen sich in den Arm. Neben ihnen ragt der bronzene Kiepenkerl auf, ein Wahrzeichen Münsters. Seit diesem Samstag steht die Figur des fahrenden Händlers mit Tragekorb, Pfeife und Stock nicht mehr nur für westfälische Folklore, sondern auch für eine tödliche Amokfahrt. Unmittelbar vor dem Standbild hat ein Mann einen Campingbus in eine Menschenmenge gesteuert. Der Täter hat sich anschließend erschossen.
Wenn man einen Ort auswählen müsste, der die Essenz gutbürgerlicher deutscher Gemütlichkeit vermittelt, dann könnte das der Platz am Kiepenkerl sein. Wie an einer Perlenkette reihen sich hier die Giebelhäuser auf. Etwas weiter geht die Straße in den Prinzipalmarkt über: „Münsters gute Stube“. Wenn der erste deutsche Bundespräsident Theodor Heuss eine deutsche Stadt besuchte und dann gefragt wurde, wie es ihm gefalle, pflegte er zu antworten, es sei gewiss die zweitschönste Stadt Deutschlands. „Die schönste Stadt ist Münster.“
Es ist der erste richtig warme Frühlingstag
Rückblende: Der Platz vor dem Kiepenkerl-Standbild am Samstagnachmittag. Wer draußen noch einen Platz ergattert hat, kann sich glücklich schätzen. Es ist der erste richtig warme Frühlingstag, alle wollen in der Sonne sitzen. Die Uhr zeigt 15.27 Uhr – Kaffee-und-Kuchen-Zeit – als es passiert.
Handy-Fotos vom Tatort: Der silberfarbene Campingbus steht zwischen Stühlen und Tischen, Menschen helfen sich vom Boden auf. Der Horror in der guten Stube. „Erste Bilder und Nachrichten aus Münster brechen mir das Herz“, twittert Jan Josef Liefers, der Professor Boerne aus dem Münster-„Tatort“. Die Stadt sei „einer der friedlichsten und freundlichsten Orte“, die er kenne.
Die Polizisten sperren immer größere Teile der Altstadt ab. Der Prinzipalmarkt und der Platz vor dem Dom, wo am Mittag noch reges Markttreiben geherrscht hat, sind jetzt menschenleer. Abgesperrt sind auch einige Straßenzüge zwei Kilometer vom Tatort entfernt. Hier soll der Täter gelebt haben. Kurz nach 21 Uhr ist ein Knall zu hören, die Ermittler haben die Wohnungstür aufgesprengt. Sie finden eine unbrauchbar gemachte Maschinenpistole und Knallkörper.
Unmittelbar nach der Tat denken viele an einen islamistischen Terroranschlag. Die Bilder aus Nizza, Berlin und London haben sich eingebrannt. Dort und an anderen Orten waren islamistische Attentäter mit Fahrzeugen in Menschenmengen gerast. Wenn es einem Terroristen darum ginge, das Grundvertrauen der Deutschen möglichst stark zu erschüttern, dann müsste er ein Ziel wie den Platz am Kiepenkerl auswählen. Der Faktor der Verunsicherung wäre vielleicht sogar noch größer als beim Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt, weil es sich hier eben nicht um die Hauptstadt handelt, sondern um die Provinz. Die Botschaft, die davon ausgeht, ist: Es kann jeden treffen.
Der Täter ist ein 48-jähriger gebürtiger Sauerländer
Noch im Verlauf des Samstagnachmittags wird aber deutlich, dass es sich bei dem Täter wohl nicht um einen Terroristen handelt, sondern eher um einen Amokfahrer. Es geht um einen 48 Jahre alten gebürtigen Sauerländer, der in Münster gewohnt hat. Er soll psychische Probleme gehabt haben. Was ihn angetrieben hat, können Polizei und Staatsanwaltschaft noch nicht sagen.
Es hat etwas Verstörendes, dass jemand nur ein schweres Verbrechen begehen muss, und schon ist ihm binnen Minuten weltweite Aufmerksamkeit sicher. Eben darum, so sagen Psychologen, gehe es manchen Menschen, die einen „erweiterten Suizid“ begehen. Sie wollen andere mit in den Tod reißen, um ihr Leben nicht dort zu beenden, wo sie es geführt haben: am Rand der Gesellschaft.
Münster ist am Samstag jedenfalls schlagartig Top News. Donald Trump bete für die Opfer, teilt das Weiße Haus mit. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan nutzt den Vorfall für einen verbalen Angriff auf Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron, der zuvor Vertreter einer syrischen Kurdenmiliz empfangen hat: „Da, Ihr seht doch, was die Terroristen in Deutschland machen, oder?“
Viele wollen in der Uniklinik Blut spenden
Erschütterung, Trauer und Fassungslosigkeit sind die vorherrschenden Gefühle nach der Tat. Münster, so erzählt ein Student, sei im Grunde ein Dorf. Niemals habe er geglaubt, dass hier so etwas geschehen könne. Dabei war das Thema Sicherheit in letzter Zeit durchaus präsent: Im Mai ist die 300.000-Einwohner-Stadt Schauplatz des Katholikentags mit vielen tausend Besuchern. Der Schlossplatz, auf dem die Großveranstaltungen stattfinden, soll dafür mit Pollern gegen Lastwagen geschützt werden. Für die engen Altstadtgassen allerdings gibt es keine solchen Planungen.
Aus Münster kommen an diesem Wochenende aber auch Bilder der Mitmenschlichkeit. Vor der Uniklinik steht eine lange Schlange wartender Menschen. Sie alle folgen einem Aufruf zum Blutspenden. „Beispiellos“, sagt eine Kliniksprecherin. Auch die Polizei lobt: „Alle haben sich vorbildlich verhalten.“
Wie kann eine Stadt einen solchen Schock verkraften? Vielleicht am Besten, indem sie still gedenkt und dann genauso weiterlebt wie vorher. „Münster, bleib wie Du warst“, schreibt „Tatort“-Kommissar Axel Prahl auf Facebook, „und wie wir Dich lieben: offen, friedlich, freundlich, stark und stolz“. (dpa)
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