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Kälte und Pandemie. Obdachlose brauchen in der aktuellen Situation besondere Unterstützung.
© Annette Riedl/dpa

Corona hat die Situation für Obdachlose verschärft: „Es gab schon vorher viel Gewalt, aber durch Corona ist es schlimmer geworden“

Obdachlose Menschen sind durch die Coronakrise hart getroffen. Die Bundesregierung scheint darüber noch nicht besonders gut informiert zu sein.

Weniger Essens- und Beratungsangebote, weniger Spenden, schlechtere Bedingungen für Flaschensammeln und Betteln: Durch die Coronakrise hat sich die Situation von Obdachlosen in Deutschland noch verschärft. Allein bei der Kältehilfe in Berlin wurden die Betten um die Hälfte reduziert. Betroffene haben den Eindruck, dass in den vergangenen Monaten verstärkt Obdachlose aus den osteuropäischen Ländern nach Berlin gekommen sind. Verifizieren lässt sich das jedoch noch nicht.

Die Bundesregierung ist über die Lage obdachloser Menschen nicht so auf dem Laufenden, wie sie sein sollte– meint jedenfalls die FDP-Fraktion im Bundestag, die eine kleine Anfrage dazu gestellt hat: Darauf antwortete die Bundesregierung, dass es keine statistischen Erhebungen gebe über die Anzahl obdachloser Menschen, die Dauer und die Ursachen von Obdachlosigkeit, häufige Erkrankungen, Todesursachen und die Anzahl von Erfrierungstoden.

Es gibt kaum Statistiken

„Hätte die Bundesregierung die Absicht, obdachlose Menschen zielgerichtet zu unterstützen, dann wüsste sie mehr über Obdachlosigkeit“, meint Pascal Kober, sozialpolitischer Sprecher der FDP. Obdachlose seien eine vulnerable Personengruppe in der Pandemie, mit der Herausforderung diese ausreichend zu schützen, lasse die Bundesregierung Länder und Kommunen allein. „Die Verwirklichung sozialer Rechte scheitert für obdachlose Menschen in Deutschland bereits daran, dass Sozialminister Hubertus Heil nicht richtig hinschaut.“

Im Rahmen einer Zuwendung sei das Vorhaben „Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die Wohnungsnotfallhilfen“ gefördert worden, das bald veröffentlicht werde, heißt es dazu auf Anfrage vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Darüber hinaus habe die Bundesregierung in dieser Legislaturperiode erstmalig mit dem Gesetz zur Einführung einer Wohnungslosenstatistik sowie einer Statistik untergebrachter wohnungsloser Personen die Voraussetzung geschaffen, dass zukünftig eine bundesweite Datenbasis aufgebaut wird.

Die Gewaltkriminalität ist angestiegen

Worüber es eine Statistik gibt, sind die Fälle von Gewaltkriminalität, die gegen obdachlose Menschen seit 2015 immens angestiegen sind. Während in der polizeilichen Kriminalstatistik 2015 deutschlandweit 462 Fälle vermerkt waren, sind es im Jahr 2 019 654 Fälle. Das bedeutet einen Anstieg von rund 42 Prozent.

Rund 150 Menschen kommen regelmäßig, wenn die Obdachlosenhilfe Berlin an drei Tagen in der Woche um 19.30 Uhr mit ihrem kleinen Bus am Alexanderplatz anrollt und warme Mahlzeiten an Bedürftige verteilt. Weitere Stationen sind der Leopoldplatz, das Kottbusser Tor und der Hansaplatz.

"Hier hört man mir zu"

Der 79-jährige Giovanni lebt seit 20 Jahren auf den Straßen Berlins. Ob er gestern auch hier gewesen ist? Daran erinnert er sich nicht, er ist dement. Sorge, sich mit Corona zu infizieren, hat er nicht, aber die Kälte macht ihm zu schaffen, je älter er wird, desto mehr. Giovanni kommt nicht nur wegen des Essens regelmäßig zum Alex. „Ich fühle mich einsam und allein“, sagt er in gebrochenem Deutsch. „Hier hört man mir zu.“

Auch ein Pärchen um die 50 ist regelmäßig hier. Seit etwa einem Jahr leben sie in einem Zelt in Pankow. Er verlor seinen Job als Vorarbeiter in einem Sanitärbetrieb, damit auch die Wohnung, die sein Chef ihm gestellt hatte, es floss immer mehr Alkohol. Eine typische Spirale. Inzwischen trinkt er weniger als früher, hofft, eines Tages wieder eine Wohnung zu bekommen.

„Aber gerade geht wegen Corona alles drunter und drüber, hat meine Sozialarbeiterin gesagt.“

Weniger Schlafplätze in den Unterkünften

Sie würden mindestens zweimal die Woche bei der Caritas in der Hamburger Straße duschen und desinfizieren sich so oft wie möglich die Hände, übersetzt er für seine polnische Freundin. „Ich habe keine Angst vor Corona, ich habe schon ganz andere Sachen durch“, sagt der Mann zwar, in einer Notunterkunft würde er dieser Tage aber dennoch nicht übernachten. „Das sind zu viele Menschen auf einem Haufen. Da haben wir schon Sorge, uns anzustecken. Außerdem wird da geklaut wie verrückt, die Leute sind aggressiv.“ Er versteht nicht, warum der Bund die geschlossenen Hotels nicht für die Obdachlosen zur Verfügung stellt. „Es wird ja immer wieder darüber geredet, aber ich glaube nicht mehr daran.“

Jörg Richert, der Gründer der Berliner Sozialgenossenschaft Karuna, plädiert für ein Bundesprogramm für die Kommunen, dass die Unterbringung in Hotels gewährleistet. „Die Kommunen sind rechtlich verpflichtet, unfreiwillig obdachlosen Menschen eine Unterbringung zu gewähren“, heißt es dazu vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Es gebe eine eindeutige Zuständigkeit. Jedoch stärke der Bund aufgrund der Covid-19-Pandemie die Finanzlage der Kommunen nachhaltig durch Maßnahmen des „Gesetzes zur finanziellen Entlastung der Kommunen und der neuen Länder“, das der Bundestag und der Bundesrat im September beschlossen haben.

Überforderte Kommunen

Werena Rosenke, Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft für Wohnungshilfe, reicht das nicht. „Die Bundesregierung hat die durch die Corona-Pandemie immer prekärer werdende Lebenslage wohnungsloser Menschen nicht genug auf dem Schirm“, sagt sie. „Wir benötigen sofort zusätzliche Räumlichkeiten für Beratungen, Tagesaufenthalte, Essensausgaben, medizinische Versorgungsangebote, ebenso wie Schnelltests.“

Mit Tests allein sei es nicht getan, sagt Susanne Gerull, Armutsforscherin und Professorin für soziale Arbeit. „Ich weiß von Einrichtungen, die sich zweimal überlegen, ob sie die Tests abends durchführen. Denn bei einem positiven Testergebnis müssen sie die Menschen krank in die Kälte schicken.“ Ihres Erachtens hätte längst eine nationale Strategie erarbeitet werden müssen. „Wir fordern das seit Jahrzehnten. Jetzt in der Krise manifestiert sich, was schiefläuft.“

"Die Stimmung ist anders"

21.30 Uhr. Am Kotti geht die Essensausgabe weiter, einige bekannte Gesichter vom Alex sind wieder mit dabei. Auch wenn die Menschen jetzt satt sind, ihr Hunger nach Begegnungen und Gesprächen ist noch nicht gestillt. Wie bei Matze. Er isst Suppe, weil er noch keine feste Nahrung zu sich nehmen darf. Vier Wochen war er im Krankenhaus, weil ihn unter der Brücke am Alex nachts drei Jugendliche im Schlaf zusammengeschlagen haben. Gebrochener Unterkiefer, vier Operationen, eine fünfte wird folgen. „Es gab schon vorher viel Gewalt, aber durch Corona ist es noch schlimmer geworden“, ist sich der 44-jährige gebürtige Neuköllner sicher. „Die Stimmung ist anders, da staut sich eine Menge auf und wird an uns ausgelassen.“

Platte macht er nicht mehr, seit er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, jetzt lebt er im Aufnahmewohnheim Lahnstraße, wegen seiner besonderen Situation sogar in einem Einzelzimmer. Seit sieben Wochen ist er trocken. „Im alkoholisierten Zustand war es mir immer peinlich, um Hilfe zu bitten. Aber jetzt will ich es schaffen, gesund werden und eine Wohnung bekommen.“ Sein Datenvolumen auf dem Smartphone spart er so gut es geht auf, um online an Selbsthilfegruppen teilzunehmen. „Ich hoffe sehr, dass Corona bald weg ist, damit es reale Treffen gibt.“

Lea Schulze

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