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Hochküche. In der aktuellen Michelin-Ausgabe 2016 finden sich 290 ausgezeichnete Restaurants.
© dpa

50 Jahre Guide Michelin: Deutsche Restaurants ernten so viele Sterne wie noch nie

Seit 50 Jahren vergibt der Guide Michelin seine Sterne auch in Deutschland – und es werden immer mehr.

1966 war für die Firma Michelin ein interessantes Jahr. Alain Zick, der Küchenchef des Pariser „Relais des Porquerolles“, erschoss sich, nachdem sein Zwei-Sterne-Restaurant aus dem Führer abrupt gestrichen worden war. Und in Deutschland vergab der Guide Michelin zum ersten Mal überhaupt Sterne – was aber selbst in der Branche kein nennenswertes Aufsehen erregte.

Seitdem sind fünfzig Jahre vergangen, und die Aufmerksamkeit für gutes Essen hat sich in beiden Ländern praktisch angeglichen. Das bedeutet, dass die Aufregung unmittelbar vor der Veröffentlichung der neuen Ausgaben groß ist, ja, sie scheint, beflügelt vom Internet, sogar immer noch zuzunehmen. Das archaische Prinzip „Stern oder nicht Stern“ ohne Begründung bewegt die kulinarisch interessierte Öffentlichkeit und stachelt die Profis zum Kampf an – das ist wohl das simple Geheimnis, das den Guide Michelin von Konkurrenten wie dem Gault&Millau unterscheidet, die komplizierte Bewertungssysteme pflegen und sich durch kritische Beschreibungen angreifbar machen.

Die erste deutsche Michelin-Ausgabe erschien schon 1964, aber erst zwei Jahre später wurden erstmals 66 Sterne für gute Küche vergeben, vom „Haus Cockerill“ in Aachen bis zum „Blauen Fasan“ in Wiesmoor. Ein einziges Restaurant hat seitdem diesen Stern ununterbrochen verteidigt: der „Adler“ in Häusern im Schwarzwald. In der aktuellen Ausgabe 2016 gibt es 290 ausgezeichnete Betriebe, trotz sehr vieler Schließungen so viel wie noch nie. Abwertungen wegen Qualitätsabfalls kommen eigenartigerweise praktisch nicht mehr vor.

Eckhart Witzigmann prägte die Szene lange

Drei Sterne wurden in Deutschland erstmals 1980 vergeben, und zwar an Eckart Witzigmanns „Aubergine“ in München. Dies war gewissermaßen das Eingeständnis der größten aller kulinarischen Nationen, dass Weltklasse am Herd auch außerhalb von Frankreich (und Belgien) möglich sei. Heute gibt es in Deutschland zehn Drei-Sterne-Köche, in Europa der zweite Platz nach Frankreich.

In Berlin trugen 1966 vier Restaurants einen Stern: „Aben“, die „Börsenstuben“, „Ritz“ und das auch heute noch in der Erinnerung haftende „Maitre“. In Ermangelung anderer Hochküchen wurden dort fast ausschließlich französische Gerichte serviert: Im „Maitre“ gab es Bouillabaisse und „Junge Ente Drei Musketiere“, im „Ritz“ die unvermeidliche Tomatensuppe mit Gin; zwei Jahre später konnte immerhin das „Alexander“ am Ku´damm mit „Aal grün Berliner Art“ punkten.

Vier Jahre später, im Jahr 1970, war die Zahl der besternten Restaurants im Deutschland-Guide bereits auf 189 gestiegen. Sie lagen zumeist natürlich im Süden und Südwesten der Republik – dieses Prinzip hat sich, von den Großstädten abgesehen, bis heute erhalten. In den Siebzigern löste die „Nouvelle Cuisine“ von Frankreich her die traditionelle Küche langsam ab und etablierte den Koch als kreativen Macher, der die alten Rezepte radikal modernisierte oder verächtlich in die Ecke warf.

In Deutschland ist diese Phase mit dem Namen Witzigmann verbunden: Der gebürtige Österreicher mit Erfahrungen in Frankreich und den USA war auch unter den sieben Chefs, die 1974 erstmal in Deutschland in die Zwei-Sterne-Kategorie aufstiegen. Henry Levy vom Berliner „Maitre“ gehörte ebenfalls dazu. Während (West-)Berlin dann aber kulinarisch auf der Stelle trat und Levy 1982 sein „Maitre“ resigniert schloss, stieg die Zahl der Sterne-Restaurants im Bundesgebiet weiter an. Es waren vor allem Witzigmann-Schüler wie Wohlfahrt, Lafer oder Schubeck, die die Lehren der guten Küche im Land verbreiteten; heute ist diese Rolle Harald Wohlfahrt zugefallen. Parallel zum Können der Köche verbesserte sich auch die Qualität der Grundprodukte, die früher durchweg aus Frankreich importiert worden waren. Hochwertige heimische Produkte etablierten sich in den Neunzigern, und mit ihnen auch die Idee eigenständiger Regionalküche.

Fünfstellige Umsatzzuwächse

Der Michelin war immer dabei, wenn sich neue Stilistiken entwickelten. Nach dem Abflauen der Nouvelle Cuisine erhob der Drei-Sterne-Chef Alain Ducasse die mediterrane Küche zum Weltstandard, später wurde mit fernöstlichen Aromen experimentiert, bis nach der Jahrtausendwende ein spanischer Überflieger, Ferran Adria, die gesamte etablierte Kochtechnik zertrümmerte und dafür ebenfalls mit drei Sternen geehrt wurde. All das schwappte auch nach Deutschland über und fand seinen Niederschlag bei den ehrgeizigen Küchenchefs.

Aktuell gibt die neue skandinavische Küche mit ihrem Prinzip der radikalen Selbstfindung der Region den Ton an. Mit ihr hat sich der Michelin bislang schwer getan: Das Kopenhagener „Noma“, das einflussreichste und meistdiskutierte Restaurant der vergangenen Jahre, ist nie über den zweiten Stern hinausgekommen. Insofern liest sich die Bereitschaft, ähnlich wagemutige Konzepte wie beim Berliner „Nobelhart und Schmutzig“ sofort zu honorieren, ein wenig nach dem Versuch, das Versäumte zumindest in Deutschland nachzuholen.

Alle besternten Köche stellen sich, wenn der Rausch vorüber ist, die gleiche Frage: Was bringt mir das wirtschaftlich? Oft ist von fünfstelligen Umsatzzuwächsen die Rede, die aber ganz unterschiedlich ausfallen können. In Berlin, sagt Tim Raue, sei der zweite Stern enorm wichtig, weil hier erst mit ihm die internationale Beachtung einsetze. Aber das alles, so fügt er hinzu, sei nichts gegen die Resonanz, die ein Platz unter den „Top100“ der Pellegrino-Liste einbringe. Auch der Michelin ist also keineswegs konkurrenzlos; erschießen wird sich seinetwegen heute kein Koch mehr.

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