Forschung in der Provinz: Der Testturmbau zu Rottweil
Warum die höchste Besucherplattform Deutschlands in der schwäbischen Provinz zu finden ist. Thyssen-Krupp testet dort neue Aufzugsmodelle.
Bis vor Kurzem besaß Berlin noch die höchste Aussichtsplattform Deutschlands: Auf dem Fernsehturm am Alexanderplatz können sich Besucher die deutsche Hauptstadt aus einer Höhe von 209 Metern ansehen. Seit Anfang Oktober aber ist dieser Ort auf Platz zwei zurückgefallen, denn nun können Touristen hierzulande auch auf eine 232 Meter hohe Plattform gelangen. Allerdings nicht in Berlin oder Hamburg oder München. Sondern in der schwäbischen Provinzstadt Rottweil.
Bisher war die baden-württembergerische Stadt mit ihren 25000 Einwohnern als Hochburg der schwäbisch-allemannischen Fasnacht oder als Namensgeber für eine Hunderasse bekannt. Doch nun können Besucher in Rottweil auch den Blick auf Schwarzwald und Schwäbische Alb genießen, bei gutem Wetter reicht die Sicht von dem auf 600 Meter Meereshöhe gebauten Turm sogar bis in die Schweizer Alpen mit Eiger, Jungfrau und Mönch. Das 246 Meter hohe Bauwerk ist Baden-Württembergs höchstes Gebäude, der Stuttgarter Fernsehturm misst nur 216,6 Meter. Doch der Turm dient nur in zweiter Linie touristischen Zwecken, er ist vor allem ein Testturm von Thyssen-Krupp.
Die Firma erprobt und erforscht in dem Turm neue Aufzugsmodelle für den weltweiten Markt. Die Aufzugssparte wird angesichts der rasanten Urbanisierung in Asien und im Mittleren Osten immer bedeutsamer für Thyssen-Krupp. Andreas Schierenbeck, Vorstandsvorsitzender von Thyssen-Krupp Elevator, sagt: „Die Menschheit wächst, der öffentliche Raum schrumpft.“ Deshalb, so zitiert er aus Studien, werde schon in naher Zukunft nicht nur die Zahl der Wolkenkratzer sprunghaft steigen, sondern auch deren Höhe. Der 40 Millionen Euro teure Turm soll der Firma dabei helfen, auf diesem wichtigen Markt vorne mitzumischen.
Für Rottweil sprach die flinke Lokalpolitik
Dass Rottweil bei der weltweiten Suche nach einem Standort für den Testturm den Zuschlag erhielt, war eine Mischung aus Zufall und günstigen Standortfaktoren. Zwar leisteten zu Beginn Traditionalisten und Brauchtumshüter in Rottweil teilweise heftigen Widerstand, sie fürchteten um die Wirkung der historischen Stadtsilhouette. Sie fürchteten, der riesige Turm könnte seine Umgebung dominieren. Dennoch erhielt der Bau im Gemeinderat eine Mehrheit – und dann ging alles ganz schnell. Die Stadt mit dem denkmalgeschützten Zentrum und den sieben Kirch- und Wehrtürmen sorgte für eine Baugenehmigung im Rekordtempo und überzeugte auch die Mehrheit der Bürger. Im Oktober 2014 fand der Spatenstich statt und innerhalb von 100 Tagen stand der Rohbau. Im Dezember 2016 startete bereits der Forschungsbetrieb.
Thyssen-Krupp entwickelt in Rottweil den weltweit ersten Aufzug ohne Seile. Er kann sich per Magnetschwebetechnik vertikal und horizontal bewegen. „Das ist eine Revolution“, sagt Vorstandschef Schierenbeck. Seine Premiere soll der neue Aufzug im Jahr 2020 in Berlin feiern. Mit dem Eastside-Tower, einem noch fertigzustellenden 140 Meter hohen Gebäude unweit der Warschauer Straße, soll ein „Leuchtturmprojekt für innovative Gebäude- und Nutzungstechnologien“ entstehen.
Helmut Jahn und Werner Sobek, die Architekten des Rottweiler Testturms, schwärmen von ihrem Bauwerk. Jahn nennt es „Wunderwerk“, Sobek sagt: „Das ist weltweit einzigartig.“ Sie meinen nicht nur die Architektur, sondern auch das Innenleben mit den neun Aufzugschächten. Der Turm beherbergt technische Raffinessen und Innovationen. So etwa den nach Konzernangaben weltweit einzigartigen Schwingungstilger, der neben Auslenkungen, die bei extremem Wind bis zu einem Meter reichen, auch gewollte Schwingungen von bis zu 70 Zentimeter erzeugen kann. In diesem Fall trifft das Wort „Hightech“ mal besonders gut zu.
Am Ende geriet das Projekt allerdings noch in Schwierigkeiten. Die Montage der Außenhülle, einer besonderen Membran, erwies sich zunächst als unmöglich. Das lag vor allem daran, dass es sich um ein ganze besonderes Stück Stoff handelt: ein teflonbeschichtetes Glasfasergewebe, das Schmutz abweist, den Wind bricht, den Betonkern schützt und besondere Lichteffekte erzeugt, je nach Wetter und Tageszeit. Der Turm ist damit auch das höchste Membran-Projekt der Welt.
Die vollständige Installation und damit auch die feierliche Eröffnung war für Mai dieses Jahres geplant, doch zu jenem Zeitpunkt stand der Turm noch nackt in der Landschaft. Die Verantwortlichen tüftelten an einer Lösung und entwickelten eine bewegliche Arbeitsplattform für die Fassade. Das dauerte, und so fand die offizielle Eröffnung der Aussichtsplattform Anfang Oktober mit einem nur halbumhüllten Turm statt.
In diesen Tagen steht das Gesamtkunstwerk unmittelbar vor der Vollendung. Für den Großteil der Mehrkosten muss wohl die beauftragte Spezialfirma aus Bayern aufkommen.
Mittlerweile habe sich auch die meisten einstigen Gegner mit dem Koloss versöhnte, der als einsamer Riese in der Landschaft steht und die städtische Silhouette in gut einem Kilometer Luftlinie Entfernung eher nicht beeinträchtigt. Vielleicht auch deshalb basteln sie in Rottweil schon am nächsten Großprojekt: „Die längste Fußgänger-Hängebrücke der Welt“ mit einer Länge von bis zu 900 Metern soll den Turm über den Neckar mit der historischen Innenstadt verbinden. Ein Unternehmer ist bereit, sechs Millionen Euro zu investieren.
Lothar Häring
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