Baku vor dem ESC: Das Öl ist Aserbaidschans Fluch und Segen
Aserbaidschan ist Gastgeberland des Eurovision Song Contest – ein Land mit liberaler Tradition und einer autokratischen Regierung.
Hunderte holz verkleidete Ölfördertürme, dicht an dicht, so weit das Auge reicht. Dazu ohrenbetäubender Lärm, kreischend, schreiend, dröhnend, und ein ölig-rußiger Gestank, der der Hölle hätte entstammen können. Bei dem Reisenden, der Ende des 19. Jahrhunderts in Baku landete, muss sich ein Gefühl der Verstörung eingestellt haben beim Anblick dieser überirdisch wirkenden Symbole der industriellen Moderne. „Die Öltürme, die sich zu Hunderten neben Baku erheben, sind ein phantastisches, ein unvergessliches Bild“, schrieb Essad Bey 1929. Bey ist ein Pseudonym des russischen Juden Lew Nussimbaum, der 1905 in Baku als Kind eines wohlhabenden georgisch-jüdischen Ölunternehmers geboren, von einer deutschsprachigen Erzieherin aufgezogen wurde und später zum Islam konvertierte. Seine abenteuerliche Biografie, die ihn im Zuge der Russischen Revolution nach Paris und Berlin führte, steht stellvertretend für das multikulturelle Baku zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Juden, Christen und Muslime lebten miteinander. Das gab Baku sein vielfältiges architektonisches und kulturelles Bild.
Am 26. Mai wird in Baku der Eurovision Song Contest (ESC) stattfinden. Dank dieses musikalisch eher fragwürdigen Ereignisses rückt das Land im Süden des Kaukasus wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit. 1990 hat sich Aserbaidschan von der Sowjetunion losgesagt, und es hat ein entscheidendes Problem: eine autokratische Regierung unter dem Präsidenten Ilham Alijew, der die Machtfülle, die er von seinem Vater Hejdar 2003 erbte, sogar noch ausbauen konnte und damit auch gutes Geld verdient. Der Alijew-Clan kontrolliert wichtige Unternehmen im Land.
Aserbaidschan ist Mitglied des Europarates, seine Diplomaten bekennen sich mit großen Worten gern zu Europa und dem Westen, halten Demokratie und Menschenrechte aber für eher unwichtig. Teilweise erklärt sich das aus der Geschichte als häufig fremd beherrschtes Land, das in vielen Kriegen um Unabhängigkeit und Selbstbehauptung gekämpft hat. Ein Land, dessen demokratische Entwicklung als erste muslimische parlamentarische Demokratie zwischen 1918 und 1920 angestoßen wurde, aber nie zur völligen Entfaltung kam.
Der weiter ungelöste Konflikt um Bergkarabach festigt die Macht Alijews. Vor allem die immer noch von Armenien besetzten Gebiete (rund 16 Prozent des aserbaidschanischen Territoriums) schmerzen die Aserbaidschaner. Bis heute gibt es hunderttausende Flüchtlinge, die unter ärmlichen Bedingungen leben. „Dieser Konflikt hemmt eine demokratische und zivilgesellschaftliche Entwicklung des Landes“, urteilt der Aktivist Emin Milli, der wegen eines satirischen Videos siebzehn Monate in Haft war. Wie viele Aktivisten ist er gegen einen Boykott des ESC. Milli wirbt dafür, nach Aserbaidschan zu reisen, sich das Land anzuschauen und vor den negativen Seiten nicht die Augen zu verschließen. „Es ist die einzigartige Chance für Europäer, an unserem Friedensprozess aktiv beteiligt zu sein.“ Armenien hat allerdings bereits angekündigt, am Song Contest nicht teilzunehmen.
Das Wohl und Wehe Aserbaidschans hängt allein an den Rohstoffen
Fluch und Segen Aserbaidschans ist das Öl. Zur Zeit der Sowjetunion wurde der Ölarbeiter in Operetten besungen. Das Öl beschert Aserbaidschan riesige Einnahmen, die allerdings kaum in den Ausbau der Infrastruktur oder eine Diversifizierung der Wirtschaft für die Zeit nach dem Ölboom investiert werden. Stattdessen wachsen die Armee und monumentale Glas-Stahlbauten in Baku. Die Hauptstadt soll das „Dubai des Kaukasus“ werden. Es ist ein fragiles neues Selbstbewusstsein. Wer durchs Land oder an die Ränder Bakus reist, wird feststellen, dass der Glanz des neuen Baku nicht sonderlich weit reicht. Zudem hat die rücksichtslose Ausbeutung des Öls die Apscheron-Halbinsel, auf der Baku liegt, in vielen Teilen in eine tote, giftige Ödnis verwandelt.
Im 18. Jahrhundert war die Stadt noch ein Provinznest mit etwa 7000 Einwohnern. Händler und Handwerker wohnten in den engen Gassen der Icheri Schecher, der sogenannten Inneren Stadt, zwischen typischen Flachdach-Häusern, Bauten, die an die arabische, mongolisch-türkische und persische Zeit des Landes erinnerten, zwischen unzähligen Moscheen, Badehäusern, Karawansereien und dem Schirwanschah-Palast. Baku, die Stadt der Winde, wie der gesamte aserbaidschanische Norden kamen Anfang des 19. Jahrhunderts endgültig unter russische Herrschaft, der Süden wurde dem Iran zugesprochen und einige westliche Chanate dem Osmanischen Reich. In diesen Grenzen besteht Aserbaidschan bis heute. Es grenzt an Georgien, Armenien, Russland und den Iran – eine geostrategisch brisante Lage.
Mit dem schwarzen Gold beginnt schließlich die Geschichte des modernen Aserbaidschans. Baku erblüht. Ölunternehmer bauen neogotische und -klassizistische Herrenhäuser, die Baku heute ihren Charme verleihen und die den polnischen Reporter Ryszard Kapuscinski einst von der weltschönsten Stadt schwärmen ließen. Wenn man durch Bakus alte Ölstadt spaziert, der warme, subtropische Wind die Nase streichelt, hat man nicht das Gefühl, im Kaukasus oder an der Seidenstraße zu sein, sondern in einem Teil von Paris oder Madrid.
Muslimische Ölbarone wie Hadji Zejnalabadin Tagijew investierten damals ihr Geld in eine säkulare Bildung, Aufklärung und Kultur und legten so den Grundstein für das aserbaidschanische Selbstbewusstsein und den Nationalismus, der 1918 in der Gründung der kurzlebigen Demokratischen Republik Aserbaidschan gipfelt. Dutzende von aserbaidschanisch-sprachigen Zeitungen und Zeitschriften entstehen, darunter auch die sehr fortschrittliche Satirezeitschrift Molla Nazdreddin, die gesellschaftliche, politische und religiöse Zustände anprangert.
Die Sowjetunion brachte die aserbaidschanische Kultur zurück auf die autokratische Bahn. Die heutige Machtelite ist ein Relikt des sowjetisch-technokratischen Aserbaidschans wie übrigens auch in weiten Teilen die parteipolitische Opposition. In den schwierigen Neunzigern sind große Teile der aufgeklärten Bildungselite ausgewandert. Aber in Baku gibt es dennoch eine junge, urbane Elite, die zwar noch nicht politisch organisiert ist, die sich aber mutig gegen die alten Kader stellt. Der demokratische Geist, der Anfang des 20. Jahrhunderts mithilfe des Öls geboren wurde, meint Emin Milli optimistisch, sei immer lebendig gewesen. „Irgendwann wird er sich durchsetzen.“
Ingo Petz
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