Computerspiel-Autorin Rhianna Pratchett: „Ich zerstörte die Disc, um mich zu befreien“
Zu Weihnachten wurden wieder Millionen Computerspiele verschenkt. Rhianna Pratchett über Sucht, Lara Crofts Sexappeal und ahnungslose Eltern.
Rhianna Pratchett, 36, geboren in Somerset/England, hat Journalismus studiert und für Computerspielemagazine wie auch für „Guardian“ und „Sunday Times“ geschrieben. Sie ist Autorin diverser Computerspiele, zuletzt für die aktuelle Version von „Tomb Raider“. Ihr Vater ist Fantasylegende und Buchautor Terry Pratchett
Frau Pratchett, ich habe gestern „Tomb Raider“ gespielt und in nicht einmal zwei Stunden 20 Bösewichte gekillt. Es hat Spaß gemacht, andere Leute zu erledigen. Eigentlich müsste ich allein dafür ein schlechtes Gewissen haben. Sie lachen?
Es ist ein Computerspiel für Erwachsene, und Sie wissen, dass es ein Spiel ist. Außerdem töten Sie die Bösen, die sonst Sie töten. Bei diesem Spiel geht es ums Überleben.
Ich bin durch Blut gewatet.
Das ist nun einmal ein Actionabenteuer. Sie hätten Ihr Spiel auch ein wenig defensiver anlegen und sich in vielen Situationen vorbeischleichen können. Schießen ist nicht das einzige Element. Unsere Lara muss viel Geschicklichkeit beweisen.
Einige Kritiker fanden, die neue Lara Croft, Heldin in „Tomb Raider“, käme einem menschlichen Wesen näher denn je. Sie waren Teil des Erfinderteams ...
... und so eine Gelegenheit kommt nur einmal im Leben. Lara Croft, die kannte ja schon meine Mutter, jeder hat ein Bild von ihr im Kopf.
Riesenbrüste, Hotpants, bis an die Zähne bewaffnet.
Wenn man an die ursprüngliche Lara denkt, fällt einem jemand wie Pamela Anderson ein, ja. Trotzdem, als die Serie losging, war ich Fan, zumal es nicht besonders viele weibliche Charaktere gab.
Das war vor 16 Jahren, endlich konnte man eine weibliche Figur über den Bildschirm bewegen.
Ehrlich gesagt, war mir das ziemlich egal. Ich spiele mit Computern, seit ich sechs bin. Und ich habe alles Mögliche gespielt, Abenteuer, Strategie, Rollenspiele ...
Mit sechs? Spielt man da nicht, wenn überhaupt, so etwas wie „Mein kleiner Ponyhof“?
An Mädchenspielen war ich gar nicht interessiert. Mein erstes Spiel war „Mazogs“ für einen der ersten Home-PCs in England Anfang der 80er, der konnte nur Schwarz-Weiß. Mazogs war eine verpixelte Figur in einem Verlies mit lauter Kreaturen drin, auf die er mit dem Schwert losgegangen ist.
In vielen Familien wird heftig darum gestritten, wie viel Zeit die Kinder vor dem Computer verbringen dürfen. Was haben denn Ihre Eltern dazu gesagt?
Mein Vater hat selbst am Computer gespielt, sich durch irgendwelche Abenteuer gekämpft. Ich saß neben ihm und habe dazu Landkarten gemalt, damit er sich besser zurechtfindet. Ein bisschen später fing ich dann mit „Doom“ an ...
... das war das erste Spiel, das in Deutschland als jugendgefährdend eingestuft wurde ...
... und „Wolfenstein“ ...
... bei dem sich der Spieler den Weg aus einem Nazigefängnis freischießen muss. Das kam 1992, da müssen Sie 15 gewesen sein!
Tatsächlich? Ich habe aber auch Puzzles gespielt und Abenteuer, Sachen wie „Monkey Island“, „Kings Quest“, also eher harmlos.
Was machte die Computerspielerei so attraktiv?
Dass man in eine andere Welt eintaucht, in den Schuhen eines anderen. Dass ich mich in einer Situation bewähre, in die ich in der wirklichen Welt nie kommen und das wohl auch nicht wollen würde. Filme oder Bücher machen ja dasselbe, wenn sie gut sind. Aber da bleibt man passiv. Bei einem Spiel wird man Teil der Geschichte, bringt sie voran. Das ist eine mächtige Erfahrung.
Einer meiner Kollegen war in den frühen 90ern auf vielen Fantasy- und Computerspielconventions. Eine rein männliche Angelegenheit, wie er sagte. Wurden Sie dort nicht komisch angeguckt?
Ich habe mich auch schon früh für asiatische Kampfkunst interessiert.
Niemand wäre Ihnen zu nahe getreten.
Das auch, aber ich meine, ich habe mich nie daran orientiert, was typisch für Mädchen oder Jungs ist.
Sind Sie damit in der Schule nicht in die Rolle des Außenseiters geraten?
Ja, aber nicht weil ich Computerspiele mochte, sondern weil ich eine Brille mit sehr dicken Gläsern und schiefe Zähne hatte.
Warum Lara Croft mittlerweile anders aussieht
Ihre Lara trägt jetzt keine Hotpants mehr, sondern Cargos. Ihre Brüste sind kleiner geworden, und sie ist verletzlicher. Warum diese Verwandlung?
Es gab bereits acht Spiele dieses Namens. Sie noch einmal genau gleich an den Start zu schicken, hätte nicht funktioniert. James Bond wird auch ab und zu neu erfunden.
Vielleicht hatte man ursprünglich eine bestimmte Zielgruppe im Auge: junge Männer von 14 bis 18.
Die Art, wie Lara vermarktet wurde, hatte wohl damit zu tun. Heute gibt es sehr viel mehr weibliche Gamer – ein Ausdruck, den ich bevorzuge.
Eine übersexualisierte Hotpants-Lara verkauft sich nicht mehr so gut.
Natürlich war die damals nur für Jungs gemacht. Wir wollten eine Protagonistin mit einer richtigen Geschichte kreieren. Die alte Figur wurde ja Teflon-Lara genannt, weil sie nichts berührte. Wir wollten sie menschlicher haben, verletzlicher.
Ihre Lara seufzt sehr viel. Indiana Jones würde das nie machen.
Wir wollten nicht noch einen Stoiker. Sie muss in ihrer Rolle erst wachsen und ist nicht gleich von Anfang an eine Expertin auf jedem Gebiet. Sie ist eine junge Archäologin auf ihrer ersten Expedition. Und es ist egal, ob Sie ein Mann oder eine Frau sind, wenn Sie mit 21 allein auf einer Insel ausgesetzt werden, auf der es bösartige Leute gibt.
Marketingstudien beziffern den Anteil weiblicher Spieler auf fast 50 Prozent. Aber erst, seit es Konsolen zum Mitturnen, Mittanzen gibt und Smartphonespiele, bei denen Haustiere gepflegt werden.
Die Definition, was ein Computerspieler ist, ist ziemlich weitmaschig. Wir gehen jedoch auch bei den Hardcorespielern von 30 Prozent Mädchen und Frauen aus.
Was ist ein Hardcorespieler?
Einer, der nicht nur die Top-20-Bestseller kennt, sondern auch die Independentszene, wo es mehr kleine Spiele gibt, bei denen Überlegung wichtiger ist als Action. So etwas wie „Gone Home“. Sie betreten ein Haus und niemand ist da. Jetzt stöbern Sie in der Geschichte der Leute rum, die dort wohnen.
Da geht es bei „Tomb Raider“ ganz anders zur Sache. Wenn ich nur in die nächste Ebene komme, indem ich mir mit Begeisterung den Weg freischieße, könnte das nicht zum Problem für die Gehirne nicht ganz so erwachsener Spieler werden?
Statt zu ballern, haben Sie da auch raffiniertere Optionen. Aber die Shooter haben mehr Presse.
Und mehr Käufer. Bei „Modern Warfare 2“ muss ich auf dem Moskauer Flughafen einen Terroranschlag verüben. Bei „GTA 5“ werde ich zum Folterer. Beides sind gefeierte Millionenseller.
Bezogen auf die gesamte Spielerszene machen diese Shooter immer noch eine Minderheit aus. Und sie richten sich an ein explizit erwachsenes Publikum. Ich denke, Eltern sollten das wissen, so wie sie wissen, dass nicht jeder Spielfilm für Zwölfjährige geeignet ist. Ich würde aber zustimmen, dass es in der Spieleindustrie eine verbreitete Abhängigkeit von gewalttätigen Kampfszenen gibt. Und ich würde gerne verschiedene Wege sehen, wie Spiele ihr Publikum finden.
Die gefeierten Alternativen – das alte „Beyond Good and Evil“ etwa, wo die Protagonistin mit dem Fotoapparat auf die Jagd geht, waren nie so erfolgreich wie „Counterstrike“, das unter Verdacht steht, ausgerechnet von solchen Jugendlichen geschätzt zu werden, die Schulmassaker anrichten.
Leute, die eine Prädisposition zu gewalttätigem Verhalten haben, werden von gewalttätigen Spielen angezogen. Es gibt allerdings keine wissenschaftliche Bestätigung für die Theorie, dass umgekehrt gewalttätige Spiele zu gewalttätigem Verhalten führen.
Bei „Overlord“, einem Spiel, an dem Sie beteiligt waren, werden kleine Babyrobben geprügelt.
Das war nun erkennbar Comedy, eher mit Zeichentrickfilmen vergleichbar. Jede Generation hat so eine Debatte, um irgendetwas, das angeblich jugendliche Gehirne verstört. Da war der sogenannte Schundroman, Rock ’n’ Roll, Punk, die Video Nasties, so nennt man in England die Splatter- und Zombiemovies der 80er. Rückblickend kann man sagen, dass die Jugend nie wirklich verdorben wurde, egal, ob es um laszive Tänze ging oder um No Future. Und immer haben die meisten Älteren die jeweilige Materie gar nicht verstanden, waren aber trotzdem außer sich.
„Counterstrike“ ist so etwas wie Punk?
Punk ist noch einmal etwas anderes, mehr eine Lebenshaltung. Vielleicht kann man es besser mit Rock ’n’ Roll vergleichen. Oder den Frauenromanen, von denen einst viele glaubten, sie würden Frauen von der Hausarbeit abhalten. Für die Generation heute sind es eben Videospiele.
Solche Spiele können einen ganz schön lange allein an den Bildschirm fesseln.
Ja, man muss da eine Balance finden.
Ich habe mal um vier Uhr früh bemerkt, dass ich eigentlich vor drei Stunden ins Bett wollte, vorher aber noch diesen Baum fällen und jenes Haus bauen muss, bis mein virtuelles Reich in Schwung kommt.
Das spricht doch für das Spiel! Und haben Sie noch nie die Erfahrung gemacht, dass Sie über einem guten Buch die Zeit vergessen haben? Oder dass Sie das ganze Wochenende mit dem Anschauen einer kompletten TV-Serie auf DVD verbracht haben?
Pratchett über die schwere Krankheit ihres berühmten Vaters
Hatten Sie jemals das Gefühl, abhängig zu werden?
Ich habe mich ganz gut im Griff. Nur einmal, bei „Age of Mythology“, einem Strategiespiel – das habe ich sehr gern online gespielt. So gern, dass ich die Disc zerstören musste, um mich davon zu befreien. Ich habe sie mir später neu gekauft.
Ihr Vater ist einer der erfolgreichsten Autoren von Fantasybüchern unserer Zeit, nur übertroffen von Harry-Potter-Erfinderin Rowling. Hat der Ihnen nie gesagt, Rhianna, lies doch mal ein Buch von mir?
Der ist doch selbst ein Langzeitspieler. Außerdem habe ich ja auch viel gelesen. Wenn auch nicht gleich seine Bücher, die habe ich zuerst als Hörspiel kennengelernt. Als ich zehn war, gab es in der BBC eine Radioshow mit seinen Büchern.
Er hat einen eigenen Kosmos geschaffen, den er Scheibenwelt taufte. Mark Twains Tochter hat mal gesagt, ein derart kreativer Vater ist eine Last, alle erwarten, man müsse genauso geistreich sein.
Ich würde es nicht Last, sondern eher Herausforderung nennen. Weshalb ich ziemlich früh meinen eigenen Weg gegangen bin.
Sie schreiben, und die Titel, bei denen Sie mitgewirkt haben, „Prince of Persia“ oder „Overlord“, kommen aus dem Bereich Fantasy.
Ich wäre auch gern Sängerin geworden, doch dafür reichte mein Talent nicht.
Ihr Vater hat seine schwere Krankheit öffentlich gemacht. Er leidet an einer seltenen Alzheimervariante und sagte, wenn er nicht mehr könne, würden Sie seine Scheibenwelt vollenden.
Mein Vater arbeitet bis heute. Er kann keine Tastatur mehr bedienen, weshalb er ein Programm verwendet, das Sprache in Text verwandelt. Ich glaube, er ist falsch verstanden worden. Tatsächlich hat er gesagt, ich würde im Falle seines Todes verantwortlich werden für die Scheibenwelt. Das heißt, ich würde sein literarisches Erbe verwalten.
Im Abspann von „Tomb Raider“ stehen die Autoren weit hinten, lange nach den Programmierern.
Das muss nichts heißen. Wenn Sie nach meinem Anteil fragen, ich wurde geholt, um dem Team zu helfen, eine Geschichte und die Figur Laras zu entwickeln. Ihre Beziehung zu den anderen, ihre Reise durch das Spiel. Das Gerüst stand da bereits, ich hatte keinen Einfluss auf den Spielemechanismus.
Sie haben sich selbst einmal als Geschichtennotärztin beschrieben.
Das bezieht sich auf eine Rolle, die ich vor ein paar Jahren hatte. Ich meinte jemanden, der sehr spät geholt wird, um ein Script aufzupolieren, das nicht von einem professionellen Autor geschrieben wurde und fürchterliche Brüche aufweist. Inzwischen hat sich die Szene professionalisiert.
Kürzlich sind Sie bei der Frankfurter Biennale des bewegten Bildes als Gastrednerin aufgetreten. Leute aus der Spielebranche werden nicht oft wie Filmemacher als Künstler wahrgenommen.
Von den Gamern wird das Computerspiel sehr wohl als Kunstform akzeptiert. Und die Akzeptanz wird größer und weitreichender. Aber es ist immer noch ein Medium, das viele Leute einfach nicht verstehen. Nur, brauchen wir diese Akzeptanz als Kunstform? Mir reicht es schon, wenn Spiele interessant und gut gemacht sind.
Wann ist ein Spiel interessant und gut gemacht?
Es kommen gerade in der Independentszene eine Menge Spiele heraus, die nichts mit Gewalt zu tun haben oder in denen Gewalt nicht nur der Spielmechanik dient. Schauen Sie sich „The Last of Us“ an, einen meiner Favoriten, oder „The Walking Dead“. Die kommen nicht ohne Gewalt aus, die Figuren sind jedoch so stark, der Spieler wird herausgefordert, auf die Handlung Einfluss zu nehmen durch seine Entscheidung, das macht es interessant.
Das Spiel „GTA 5“ war mit 260 Millionen Dollar Produktionskosten so teuer wie der Film „Avatar“ und hat sehr viel schneller mehr Geld eingebracht. Wer sind die Großverdiener in dieser Branche?
Wie beim Film sind es nicht die Scriptschreiber. Es ist bei Computerspielen nicht einmal üblich, dass der Drehbuchautor eine Erfolgsbeteiligung erhält, jedenfalls nicht, wo ich dabei war.
Wenn die Etats für Spielentwicklungen dreistellige Millionenhöhe erreichen, haben wir bald das gleiche Phänomen wie bei den Hollywoodblockbustern. Schon fließt das Geld in immer neue Fortsetzungen einiger weniger Erfolgstitel.
Die Szene der Unabhängigen floriert ja auch, und neue Crowdfundingmodelle, bei denen sehr viele Privatleute Geld anlegen, ermöglichen ihnen neue Produktionen. Ken Schafer hat für sein „Broken Age“-Projekt mithilfe der Kreativplattform Kickstarter 3,3 Millionen Dollar eingesammelt. Das ist nicht viel im Vergleich zu den Summen, die bei den Blockbustern aufgerufen werden, aber ich bin sicher, die Spieleszene wird auch in Zukunft Wege finden, ihre Projekte zu realisieren.
Haben Sie heute schon gespielt?
Dafür hatte ich keine Zeit. Aber wenn ich nachher im Flugzeug zurück nach London sitze, werde ich ein bisschen „Pflanzen gegen Zombies 2“ spielen. Kennen Sie nicht? Kann ich wirklich empfehlen!
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