Pianist Igor Levit im interview: „Meine Witze werden langsam besser!“
Igor Levit spielt gerne, was Beethoven gestrichen hat. Warum er Nachrichten frühstückt und schon mal AfD-Mitglieder beleidigt.
Igor Levit, 29, ist einer der besten jungen Pianisten. Er stammt aus Russland, wuchs in Hannover auf, lebt in Berlin und spielt in den größten Konzertsälen der Welt. Seine jüngste CD versammelt die schwersten Klavierwerke überhaupt. Am 10. Juni tritt er mit der Geigerin Julia Fischer im Kammermusiksaal auf.
Herr Levit, Sie haben immer gesagt, Sie können nicht umziehen wegen Ihres D-Flügels – 2,74 Meter, fast 500 Kilo. Nun haben Sie es doch von Hannover nach Berlin geschafft.
Lulu wurde mit einem Kran über die Bäume hinweg auf meine Terrasse gehievt. Die Türen sind zum Glück groß genug.
Sie nennen das Klavier Lulu? Die Geigerin Patricia Kopatchinskaja sagt, ihre Pressenda sei ihre Seele.
Lulu ist nicht meine Seele. Sie ist mal eine Sie, mal ein Mann, eine Partnerin, ein Freund. Unvollkommen, repetiert schwer, hat so ihre Tage, aber ich lasse nichts auf sie kommen. Als ich sie aussuchte, 2007, standen sieben, acht Flügel zur Wahl. Ich drückte ein paar Tasten, bumm, ich wusste sofort, das ist meins. Diese Ecke hier, wo der Flügel steht, ist mein Fluchtort, mein Zuhause.
Im Konzert spielen Sie auf anderen Instrumenten.
Ich spiele auf allem, was man mir hinstellt, in jedem Saal. Klar, es gibt tolle Instrumente, und es gibt auch Lieblingsorte. Zum Beispiel der „Heidelberger Frühling“, wegen des Intendanten Thorsten Schmidt und des Festivalteams. Und die Londoner Wigmore Hall wegen ihres Chefs John Gilhooly. Konzertsäle sind toll wegen des Vertrauens und der Freundschaft, nicht wegen der Akustik.
Wie das?
Als ich letztes Jahr in Heidelberg zum ersten Mal öffentlich Bachs Goldberg-Variationen spielte, hab’ ich mich eingetütet vor Angst. Bitte nicht lachen, ich werde älter, ich weiß mehr als früher um die Bedeutung eines Werks und einer Aufführung. Thorsten nahm mich in den Arm und sagte: Du bist hier an einem sicheren Ort, du darfst hier auch scheitern.
Der Pianist Ivo Pogorelich beharrt auf seinen zerfledderten Notenausgaben, Keith Jarrett bricht Konzerte ab, wenn es ihm zu unruhig wird. Haben Sie Rituale, Marotten?
Nein, aber ich kann so etwas schon verstehen. Man gibt sein Äußerstes, das musst du irgendwie kompensieren. Warum kommt bei der Hammerklavier-Sonate nach diesem tieftraurigen Adagio diese Gaga-Fuge? Ich hab keine Antwort darauf, aber ich muss es spielen. Wie soll das anders gehen als mit totaler Wut? Und wohin damit?
Sie twittern Ihre politische Empörung in die Welt, erzählen auch mal schlechte Witze.
Meine Witze werden langsam besser! Manchmal nehmen mich Dinge ungeheuer mit. Neulich, als Prince starb…
… twitterten Sie: „Der da oben stellt sich gerade einen verdammt guten Chor zusammen.“
Ist doch wahr, Prince, Bowie, Lemmy Kilmister, Harnoncourt ist der Chorleiter, und Boulez schreibt Stücke für sie. Was für ein Scheißjahr! Gut, ein paar sind noch hier, Paul McCartney, Bob Dylan, Neil Young, Leonard Cohen, die Stones.
In der Kunst endet die Demokratie. Hatten Sie mal Streit wegen einer musikalischen Frage?
Kürzlich hatte ich eine hitzige Diskussion mit einer Künstlerin, sie stellt Liederprogramme zusammen. Sie schlug das Thema Flucht vor, ich war sofort dabei. Aber dann standen Brahms, Strauss, Schumann auf dem Programm. Schon mit thematisch passenden Liedern, bloß fehlte die Musik von heute. Ich fand das denkfaul. Vor allem hadere ich mit mir selber, als Künstler in dieser Welt.
Weil ein Klavierkonzert zu wenig mit der Wirklichkeit zu tun hat?
Ich schlage die Programmhefte auf und denke, das ist zu 80 Prozent Autopilot. Die Programme sind überall ähnlich, ab und zu werden neue Locations ausprobiert. Ich hasse das! Ich weiß auch keine Lösung, aber wenn mir ein Opern-Veranstalter sagt, klassische Musik habe kaum etwas mit den Flüchtlingen zu tun, ist das Selbstaufgabe. Auch Künstler sind Bürger, alles andere wäre der Tod der Kunst.
"Wenn ich die Utopie verliere, hänge ich meinen Beruf an den Nagel"
In Hannover haben Sie ein Begegnungskonzert für Flüchtlinge gespielt.
Ich war nur halb glücklich damit, denn es ist eine Einbahnstraße. Ich weiß nicht, wer diese Menschen sind, welche Musik sie selber haben, welche Sprache sie sprechen. Ich präsentiere ihnen unsere Musik, danke, dass ihr da seid, ich spiele jetzt Saint-Saëns. Gut, ein Junge erzählte auf Arabisch die Geschichte zum „Karneval der Tiere“, bloß hinterher steigen sie wieder in den Bus und fahren ins Heim zurück. Ich war kürzlich wieder beim „Heidelberger Frühling“ ...
... Sie leiten dort die Kammermusik-Akademie…
… und der großartige Cellist Isang Enders spielte mit anderen Musikern Olivier Messiaens „Quartett zum Ende der Zeit“, ein unglaubliches Stück. Das Werk ist katholischer als der Papst, Messiaen sagt es selbst. In Zeiten, in denen auch der Islam zu Deutschland gehört, wäre es toll, dieses Werk auseinanderzunehmen, um etwas über Musik und Religion herauszufinden. Im Programmheft steht aber nur, 1900-soundsoviel sagte der Komponist dies oder jenes. So wird die Musik etwas Dekoratives. Das macht mich manchmal ganz krank.
Sie wollen den Konzertbetrieb umkrempeln?
Ahmad Mansour erzählt in seinem Buch „Generation Allah“ vom Hilferuf einer Lehrerin, die mit ihrer Klasse nicht mehr klarkommt, weil 28 von 31 Schülern Türken seien. Mansour stellte dann fest, dass nur zwei türkischstämmig sind, die anderen haben einen libanesischen, palästinensischen oder bosnischen Hintergrund. Er plädiert für Biografiearbeit. Etwas Ähnliches stelle ich mir für den Konzertbetrieb vor: aktives Partizipieren.
Geschieht im Konzert nicht auch ohne verbale Kommunikation ungeheuer viel?
Touché. Das ist meine Utopie: Ich spiele meine Musik mit meiner Biografie, meinen Erlebnissen und Gedanken an eben diesem Tag. Und die Zuhörer hören die Musik genauso auf ihre Weise. Ein enorm intimer Vorgang. Wenn ich die Utopie verliere, dass das Publikum auf Augenhöhe mitinterpretiert, hänge ich den Pianisten-Beruf an den Nagel.
Sie erzeugen manchmal eine derartig große Spannung, dass die Zuhörer sogar zwischen den Werken nicht zu applaudieren wagen. Lust an der Macht?
Nein, einfach nur Freude, dass der Funke überspringt. Wenn es nicht funktioniert, nehme ich das nicht persönlich. In New York habe ich acht Mal Bachs Goldberg-Variationen gespielt. Acht mal 800 Leute, die Stimmung war jedesmal komplett anders. Oder letzten Sommer in der Wigmore Hall, im Saal saß eine Mischung aus irrwitzig jungen Zuhörern und Bürgertum. Hinterher sollte der Komponist Frederic Rzewski auf die Bühne kommen. Das Podium ist nur sehr hoch, und er kannte den Weg nicht. Also sprang ich runter zu ihm, wir standen mitten im Publikum. Aus solchen Momenten speist sich meine Utopie.
Sie sind ein Nimmersatt, was Nachrichten und Kommunikation betrifft. Woher kommt diese Unruhe?
Die wenigsten verstehen, dass es einfach mein Tempo ist, so wie ich den ersten Satz der Hammerklaviersonate eben sehr schnell spiele – es ist übrigens das von Beethoven vorgeschriebene Tempo. Es beruhigt mich, meinen Hunger mit Infos zu stillen. Und dazugelernt habe ich auch, was das Medienecho auf spontane Äußerungen angeht.
Sie meinen den Shitstorm, als Sie ein AfD-Mitglied „widerwärtigen Drecksack“ nannten? Nachdem der im Fernsehen fälschlicherweise von einer Vergewaltigung in einer Asylunterkunft gefaselt hatte, schrieben Sie, solche Leute hätten ihr Menschsein verwirkt.
Ich wusste, was ich sage, habe dazu auch das Video mit dem TV-Ausschnitt hochgeladen. Ich würde es wieder schreiben. Gut, ich bin vielleicht der Pianist, der das Maul zu weit aufreißt, und man kann mich dafür schlagen. Was der AfD-Mann gesagt hat, ist dagegen echt gefährlich. Man sieht es ja, Flüchtlingsunterkünfte brennen in Deutschland.
Sie sind selber ein Kontingentflüchtling, Ihre Familie kam 1995 von Nischni Nowgorod nach Hannover. Da waren Sie acht.
Wir kamen offiziell, mit dem Flugzeug. Für Juden aus Osteuropa waren die Türen damals weit geöffnet. Die Sprache habe ich in meinem üblichen Tempo gelernt, schnell. Meine ganze Familie ist sehr wissbegierig, wir sind alle so Aufsauger. Meine Eltern sagten: Die Kinder müssen auf die deutsche Schule, Punkt. Meine Schwester wurde gerade 14, sie ging aufs Gymnasium in die neunte Klasse, anfangs ohne Deutsch. Drei Jahre später machte sie Abi, mit 2,0. Ich erinnere mich, wie meine Mutter mit ihr in der Wohnung auf dem Boden saß und die zwei mit einem Langenscheidt-Wörterbuch Geschichtshausaufgaben machten.
Keine Ausgrenzungserfahrung als Kind?
Nicht in Hannover-Roderbruch. Erst später, hin und wieder. Antisemitische Sprüche, oder dass jemand nach dem Film „Unsere Mütter, unsere Väter“ sagte: Es ist gut, dass Ihr – Fingerzeig auf mich – keine Deutungshoheit über die deutsche Geschichte mehr habt. Viel stärker ist jedoch, dass ich diesem Land und der Idee Europa verbunden bin. Deshalb macht es mir so zu schaffen, dass Europa sich jetzt abschottet.
"Beim Spielen sehe ich Menschen ganz klar vor mir"
Wenn Sie sich so viel informieren und kommunizieren, wie kommen Sie noch zum Üben?
Ich stehe brutal früh auf, lese auf dem Tablet Mails, Nachrichten, E-Papers und im Café gegenüber die Papier-Zeitungen. Ich steige im Fitnesscenter aufs Laufband, dann ist es vielleicht neun. Dann arbeite ich am Klavier, zwischen zehn Minuten und elf Stunden ist alles drin. Abends treffe ich Freunde. Wenn ich kein Konzert habe, packe ich auch manchmal meinen Rucksack und fahre weg.
Spontan?
Wenn irgendwo eine interessante Aufführung ist, will ich unbedingt hin. Die Charlotte-Salomon-Oper zum Beispiel, 2014 in Salzburg. Davon las ich morgens um vier, es war mal wieder so eine „Igor kann nicht schlafen“-Nacht. Um 5.26 Uhr stieg ich in den Zug. Ich hatte kein Ticket für die Aufführung, bei Neuer Musik gibt es zum Glück immer noch was, selbst bei den Salzburger Festspielen. Am nächsten Tag fuhr ich von dort nach Mecklenburg-Vorpommern, weil ich einen Liederabend zu spielen hatte. Ich habe Angst, etwas zu verpassen.
Die drei Musikstücke, die Sie mit auf die berühmte Insel nehmen würden?
Drei? Ich würde gucken, dass es WLan gibt. Ich liebe Streamingdienste, streite mich darüber oft mit Kollegen. Ich höre fast alles, im Moment gerade rauf und runter „Underground“ von Thelonious Monk. Übrigens ist dieser Kopfhörer-Fetischismus Unsinn. Es ist wie bei den Konzertsälen: Auf den Sound kommt es nicht an. Ich besitze zwei Super-Kopfhörer, beides Geschenke, sie sind viel besser als ein kleiner Knopf im Ohr. Ich brauche aber die Freisprechanlage fürs Telefonieren! Also doch lieber Knopf. Außerdem, liebe Kopfhörer-Fabrikanten, eure Geräte haben einen Riesennachteil: Diese großen Dinger sitzen auf dem Hinterkopf, und wenn ich sie nach einer Stunde abnehme, kommen die ersten Ansätze meiner Glatze zum Vorschein. Inakzeptabel!
Träumen Sie Musik?
Neulich habe ich geträumt, dass ich mit Karl-Heinz Rummenigge am Telefon über Beethoven reden muss. Ich habe geweint, denn ich wusste nicht, warum. Ich war im Traum auch mal ein Papagei, der auf einer Liane schwingt und gleichzeitig ein Superheld ist. Musik? Nein.
Und denken Sie an etwas, wenn Sie im Konzert am Flügel sitzen?
Vor allem sehe ich etwas, vor meinem inneren Auge. Menschen, Vertraute, auch Unbekannte, Begegnungen, Gespräche. Keine Farben oder Landschaften, immer Menschen, immer total klar. Manchmal teile ich dem- oder derjenigen das hinterher sogar mit.
Als Kind waren Sie ein Notenfresser und wühlten sich durch den Notenschrank Ihrer Eltern. Keine Lust, draußen zu spielen?
Doch, natürlich. Mama unterrichtete Klavier am Konservatorium und war Korrepetitorin, begleitete Dirigenten und Orchester in den Proben. Oft übte sie gemeinsam mit ihrer Freundin. Zwei Mords-Pianistinnen saßen im Konservatorium an zwei Flügeln und spielten das ganze Repertoire. Ich nahm dann die Noten aus dem Schrank und versuchte es auch, so gut es halt ging. Das ist toll am Klavier: Du drückst auf die Taste und der Ton ist sofort da. Außerdem habe ich Spaß am Anblick der Noten. Zum Beispiel die Diabelli-Variationen (holt aus dem Regal einen Faksimile-Band): Auf der Seite hier hat Beethoven fast alles durchgestrichen. Ich versuche, auch das Durchgestrichene zu spielen und merke, er ist wütend geworden, er schreibt plötzlich mit einer Sauklaue.
Letzten Herbst haben Sie die Diabelli-Variationen mit den Goldberg-Variationen und Frederic Rzewskis Zyklus über das chilenische Revolutionslied „The People United Will Never Be Defeated“ eingespielt. Drei der längsten, schwersten Klavierwerke auf einer CD, verrückt.
Seitdem ich mit Rzewski befreundet bin, verstehe ich Beethoven noch besser. Die beiden sind mir die nächsten Komponisten, es ist die lebendigste, gegenwärtigste Musik von allen. Und ich betrachte ein Problem gerne bis zur Erschöpfung. Die ist essentiell, denn dann geschieht das Unvorhersehbare. T. S. Eliot schrieb in den „Vier Quartetten“: „Wir werden nicht nachlassen in unserem Kundschaften/ und das Ende unseres Kundschaftens/Wird es sein, am Ausgangspunkt anzukommen/Und den Ort zum ersten Mal zu erkennen“. Das ist für mich die Essenz von Musikmachen.
Sie sind jetzt 29, haben sich nicht zu früh vermarkten lassen. Können Sie Jüngeren einen Rat geben für die Karriereplanung?
Ich weiß nicht. Wir brauchen eine andere Art von Erzählung, Musiker müssen persönlicher werden, vielleicht das. Was heißt es tatsächlich, dieses Crescendo von Takt 10 bis Takt 20 im Unterschied zu dem danach? Und ich bin es, der das Crescendo spielt: Wenn das nicht vorkommt, taugt es nichts.
Sie sind eine Zeitlang eingesprungen, wenn berühmtere Kollegen kurzfristig ausfielen, Hélène Grimaud zum Beispiel. Was war das Kurzfristigste?
Für Maurizio Pollini in Wien, sechs Stunden. Ich aß gerade Pfirsichkuchen in meinem Lieblingscafé in Hannover, es war früher Nachmittag, da kam der Anruf. Ich stellte zwei Bedingungen: Erstens, ich spiele „The People United...“, im altehrwürdigen Musikverein! Zweitens, besorgt mir eine schwarze Selbstbindeschleife, ich hatte meine verloren. Eine halbe Stunde vor Konzertbeginn war ich da.
Und gibt es Musik, an der Sie verzweifeln?
Hier stehen keine Chopin-Noten. Ich liebe Chopin, Rafal Blechacz spielt ihn göttlich. Ich hörte ihn im Konzert, setzte mich danach zu Hause hin, es klang sofort wieder blöd. Chopin und ich, wir kommen nicht zusammen. Noch nicht.
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