Neuer Antisemitismus: Der deutsche Hafen ist nicht mehr sicher
Nach dem Ende der Sowjetunion kamen viele Juden nach Deutschland. Nun schwindet die Erinnerung an den Holocaust. Und mit den muslimischen Migranten wächst der Antisemitismus – auch auf deutscher Seite. Ein Gastbeitrag.
Vor 25 Jahren hat die deutsche Regierung beschlossen, Juden und Menschen mit jüdischen Vorfahren aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion als Kontingentflüchtlinge im Rahmen einer humanitären Hilfsaktion nach Deutschland einreisen zu lassen. Dieses Refugium zeigt heute Risse. Angesichts der anhaltenden Fluchtwelle aus arabischen Staaten und des damit importierten Antisemitismus fühlen sich Juden nicht mehr sicher. Manche machen sich Gedanken über eine Auswanderung, diesmal aus Deutschland.
Deutschland war nicht das einzige Land, das nach dem Ende des Kalten Krieges Juden offenstand. Sie konnten mühelos nach Israel, aber auch in die USA ziehen, die sie seit den 70er Jahren bevorzugt aufnahmen. Die Vorstellung, dass Juden nun ins „Land der Täter“ zurückkehren wollten, sorgte in Israel und in den zionistischen Organisationen weltweit für Empörung.
Doch sowohl beim Zentralrat der Juden als auch in der deutschen Öffentlichkeit überwog der Wille, Juden aus der ehemaligen Sowjetunion unbedingt ins Land zu holen. In der philosemitischen Atmosphäre der 80er und 90er Jahre wurde das Judentum unabhängig von Einzelschicksalen und den spezifischen historischen Umständen zum zeitlosen Opferkollektiv erklärt.
Dabei waren Juden nicht immer und nicht überall nur noch Opfer. Spätestens seit der Oktoberrevolution fanden sich nicht wenige von ihnen unter aktiven Akteuren und Profiteuren der Geschichte. Sie hatten am Aufbau des totalitären Regimes auf führenden Posten, auch in den Straforganen – beim Geheimdienst und im Gulag – mitgewirkt, und wäre es zur Aufarbeitung der Geschichte des Sowjettotalitarismus gekommen, hätten auch sie ihren Beitrag dazu leisten müssen.
Doch das Gebot der Differenzierung wurde in der Bundesrepublik mit Antisemitismus gleichgesetzt. Das schuf mitunter groteske Situationen. Während zum Beispiel ehemalige Stasi-Mitarbeiter und hochrangige SED-Mitglieder an den Pranger gestellt wurden, durfte der eine oder andere KGB-Mitarbeiter jüdischer Herkunft als Opfer historischer Ungerechtigkeit ungehindert einreisen.
Es wäre nach der Wende ohne das Bild vom kollektiven Opfer nicht so einfach gewesen, Juden nach dem Zerfall der Sowjetunion als Flüchtlinge einzustufen. Wie gefährlich war ihre Lage damals wirklich? Bei allem Antisemitismus, der im Chaos der Auflösung und bei den wirtschaftlichen Verwerfungen offener in Erscheinung trat, waren Juden in den 90er Jahren nicht stärker bedroht als andere Bevölkerungsgruppen. Der Wegfall des Staatsantisemitismus schuf ungeahnte Möglichkeiten für den Aufstieg und die unternehmerische Tätigkeit der Juden. In der Mitte der 90er Jahre waren in Russland sechs von sieben sogenannten Oligarchen Juden.
Israel flog alle Juden aus Tadschikistan aus
In der Ukraine ist das gleiche Phänomen zu beobachten. Gewiss waren auch Juden Leidtragende des Zerfalls der Sowjetunion, der „größten geopolitischen Katastrophe“ (Wladimir Putin), in deren Folge einige Nachfolgestaaten der Sowjetunion wie Georgien Anfang der 90er Jahre von Sezessions- und Bürgerkriegen heimgesucht wurden. 1992 hat die israelische Regierung alle in Tadschikistan verbliebenen Juden mit Genehmigung der Regierung ausgeflogen. Das weckte damals Erinnerungen an die „Operation Moses“ von 1984/85, als 4000 äthiopische Falaschen über eine Luftbrücke gerettet wurden. Dieses Privileg genossen andere bedrohte Minderheiten, unter ihnen die Russen, nicht.
Im Durchschnitt war die wirtschaftliche und soziale Lage der Juden im postsowjetischen Raum besser als die der Bevölkerungsmehrheit. Die Angst vor dem Antisemitismus diente deshalb eher als eine moralische Rechtfertigung der Ausreise. Doch warum ausgerechnet nach Deutschland, ins „Land der Täter“? Es gab natürlich etliche, die auf die Bringschuld Deutschlands pochten und eine Vorzugsbehandlung erwarteten. Doch in der Regel waren die Beweggründe viel einfacher.
Deutschland war für sowjetische Juden als Auswanderungsland attraktiv
Sowjetische Juden hatten ihr Judentum nicht gelebt. Mit Israel konnten viele von ihnen wenig anfangen. Deutschland war europäisch, nah an der alten Heimat und lockte mit seiner sozialen Fürsorge. Den Deutschen bot der Zerfall der Sowjetunion nicht nur die Gelegenheit, die historische Schuld abzutragen, sondern – so hofften wohl nicht wenige – dass die neuen Zuwanderer der von den Nazis ausgelöschten jüdischen Kultur zu neuem Glanz verhelfen würden.
Vor zwanzig Jahren mutete die jüdische Einwanderung wie ein Exodus an. In Wirklichkeit war sie vergleichsweise bescheiden. Heute leben in der Bundesrepublik ungefähr 250 000 Juden, von ihnen sind nur 90 000 in den Jüdischen Gemeinden organisiert. In der gleichen Zeit wanderten 1,5 Millionen Russlanddeutsche und eine halbe Million Kriegsflüchtlinge aus Jugoslawien ein. Nun scheint der Zuzug der Migranten aus dem Nahen Osten alle bisherigen Einwanderungsbewegungen zahlenmäßig in den Schatten zu stellen.
Das Verhältnis zu den Juden schien sich in den letzten Jahrzehnten zu entspannen
Das intellektuelle Potenzial der ersten Generation emigrierter Juden – überwiegend Akademiker - blieb weitgehend ungenutzt und ging für Deutschland verloren. Die zweite Generation ist indes gut integriert. Es gibt nicht wenige bundesweit bekannte Künstler und Schriftsteller wie Wladimir Kaminer und Olga Grjasnowa. Marina Weisband aus der Ukraine hat sich bei der Piraten-Partei einen Namen gemacht. Im transnationalen kulturellen Gefüge, zu dem Deutschtürken, Jugoslawen oder Ungarn gehören, nehmen jüdische Migranten einen ebenbürtigen Platz ein. Doch der Traum, in Deutschland das jüdische Erbteil der Moderne wiederbeleben zu können, musste enttäuscht werden.
Im letzten Jahrzehnt schien eine Normalisierung, eine Entspannung im Verhältnis zu Juden eingetreten zu sein. Die Fixierung auf die Juden als ultimative Opfer, der schuldbeladene Philosemitismus der Deutschen, ist weitgehend verblasst. Auch die Erinnerung an den Holocaust schwindet immer mehr schon aus objektiven Gründen: Nach dem Abtreten der Zeitzeugen und mit wachsendendem Abstand lässt sich die starke Empathie nicht automatisch über Generationen hinweg aufrechterhalten. Aktuelle Schrecken überlagern die historische Erinnerung.
Parallel zum importieren Antisemitismus steigt der einheimische
Doch diese gelassene Normalisierung läuft Gefahr, einer neuen Anspannung weichen zu müssen. Das hat mit dem demografischen Wandel in Deutschland zu tun. Je größer der Anteil der Einwandererkinder in der Schule ist, umso stärker gerät die Erinnerungskultur der Bundesrepublik unter Druck. Die islamische Meistererzählung, die sich vom Nahost-Konflikt ableitet und über die arabischen Medien in jede Wohnstube kommt, stellt ihn infrage. Ein Teil der Heranwachsenden aus islamischen Familien lehnt nicht nur den deutschen Rechtsstaat, sondern auch das Existenzrecht Israels ab. Entsprechend wird von ihnen die Judenvernichtung durch Hitler mehr oder weniger gutgeheißen. In der Haut der Lehrer möchte man dabei nicht stecken.
Der Hass auf Israel und der importierte arabische Antisemitismus sind bedrohlicher als alles, wovor Juden seit Anfang der 1990er Jahre in den sicheren Hafen Deutschland geflohen waren. Viele Symptome sprechen dafür, dass parallel mit dem Anstieg der muslimischen Einwanderung auch der bodenständige deutsche Antisemitismus von links bis rechts wieder sein Haupt erhebt. Atmosphärisch fühlt sich das ein wenig an wie in „Cabaret“ mit Liza Minnelli, wo inmitten des brummenden Festes braune Zeichen des kommenden Unheils auftauchen. Für Juden markiert diese Entwicklung einen tiefen historischen Einschnitt. Hofften sie doch, in Deutschland eine neue Geschichte beginnen zu können. Nun werden sie von den alten Gespenstern eingeholt.
Sonja Margolina, geboren in Moskau, ist Biologin, Schriftstellerin und Publizistin. Seit 1986 lebt sie in Berlin. 2013 erschien von ihr „Kaltzeit – Ein Klimaroman“.
Sonja Margolina
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