Stadttour mit Piotr Anderszewski: Mein Warschau
Pfannkuchen mit Rosenmarmelade und Mozarts Requiem in der Heilig-Kreuz-Kirche: Der Pianist Piotr Anderszewski über die Spuren längst vergangener Zeiten.
Zu meiner Heimatstadt Warschau habe ich eine sehr emotionale – und recht schwierige Beziehung. Mein Bild ist geprägt von meiner polnischen Großmutter, bei der ich in meiner Kindheit viel Zeit verbracht habe. Eine starke Persönlichkeit aus einer adeligen Familie: stolz und kultiviert, offen und tolerant, gleichzeitig erzkonservativ. Eine komische Mischung. Sie hat mir immer vom Warschau der Vorkriegszeit erzählt, als sie noch ein junges Mädchen war. Geschichten von herrlichen Bällen, wunderbaren Reisen – einer anderen Welt, die dann verschwand. Erst kam der Krieg, dann die stalinistische Ära. Ich bin mit der Nostalgie für das Vorkriegs-Warschau aufgewachsen und war richtig besessen davon, habe mir immer wieder alte Fotos angeschaut. Ich liebe eine Stadt, die es nicht mehr gibt.
Lazienki-Park
Gleich neben dem Park bin ich geboren. Einer der wenigen Orte Warschaus, der nicht zerstört wurde. Wenn Sie ihn betreten, haben Sie das Gefühl, die Zeit sei stehen geblieben, und Sie befinden sich im Warschau der Vorkriegszeit, von dem mir meine Großmutter erzählt hat, in der Sommerfrische der Könige. Eine wunderschöne Anlage aus dem 17., 18. Jahrhundert, ziemlich groß, an einigen Stellen auch ganz schön wild, und das mitten in der Stadt! Man kann dort zauberhaft spazieren gehen, und das zu jeder Jahreszeit. Wobei Warschau im Sommer am schönsten ist. Es ist ja eine sehr grüne Stadt, mit etlichen Parks und ganz vielen jungen Leuten. Die sind im Sommer alle draußen (lazienki-krolewskie.pl/de/poznaj-lazienki).
Unter den historischen Bauten im Lazienki-Park ist ein schönes Holztheater. In meiner Kindheit war es total runtergekommen. Ein netter Hausmeister hat mir damals die Tür zu diesem Hoftheater aus dem 18. Jahrhundert geöffnet, ein Ort, an dem nichts passierte, ich glaube, es gab nicht einmal Strom. Ein wunderbarer Moment, plötzlich entdeckte ich ein Stück Vergangenheit. Als ich neulich dort vorbeilief, klang Musik heraus.
Café Blikle
Die Altstadt zu rekonstruieren – auf jeden Fall die Fassaden –, das war eine mutige Entscheidung nach dem Krieg. Symbolisch eine ganz wichtige Geste. Wobei mir die Entwicklung der vergangenen 15 Jahre nicht gefällt. Die Altstadt entwickelt sich immer mehr zu einer Art Disneyland. An das Café Blikle aber erinnere ich mich noch aus meiner Kindheit, das gab’s schon immer. Na ja, seit ungefähr 150 Jahren. Wenn auch der Bau nicht mehr der alte ist. Es ist einer dieser Orte, die alles überlebt haben, den Zaren, den Ersten Weltkrieg, den Zweiten, den Stalinismus, die ganze turbulente Geschichte der Stadt. Das Café ist berühmt für seine Paczki, Pfannkuchen, gefüllt mit Rosenmarmelade und ein wenig Orangenschale obendrauf. Großartig! Am besten schmecken sie frisch, wenn sie noch warm sind (ul. Nowy Swiat 35, blikle.pl).
Das rechte Weichselufer
Dieses wilde Ufer hat was ganz Eigenes. Die Sandbänke, der unbegradigte Fluss – man hat das Gefühl, weit weg von der Zivilisation zu sein, nicht mitten in einer europäischen Metropole. In Warschau passierte immer alles auf dem linken Ufer der Weichsel. Die rechte Seite war fast wie eine andere Stadt, mit wenigen Verbindungen zwischen den beiden Stadtteilen, selbst die Brücken wurden erst spät gebaut.
Wenn ich mal auf die rechte Seite gehe, fühlt sich das heute noch exotisch an. Von dort hat man einen guten Blick aufs Zentrum. Man steht zwischen den Büschen im Feuchtgebiet, blickt auf diese europäische Hauptstadt und fragt sich fast, ob Warschau überhaupt real ist.
Chopin wollte, dass sein Herz hier ruht
Praga
Durch die schmerzhafte Geschichte und die starke Zerstörung fehlt Warschau das Gefühl für Kontinuität, wie man es aus vielen europäischen Metropolen kennt. Das gibt der Stadt andererseits etwas Leichtes, einen jugendlichen Geist. Hier ist nicht alles so, wie es schon seit Jahrhunderten war, Warschau verändert sich total schnell. Dauernd tauchen plötzlich neue Gebäude auf, wird ein Café eröffnet oder verschwindet wieder.
Praga, ein altes Arbeiter- und Industrieviertel, liegt am rechten Ufer der Weichsel, war jedoch nicht so schlimm zerstört wie andere Stadtteile. Hier haben mehr historische Gebäude überlebt. Im vergangenen Jahr habe ich einen kleinen Filmessay über Warschau gedreht, eine Meditation über meine Gefühle zur Stadt, um diese enge Bindung besser zu verstehen und mich auch ein Stück weit davon zu befreien. Dafür habe ich etliche Szenen in Praga gefilmt, ich fand es so pittoresk: Höfe und Gebäude, die seit 70 oder 80 Jahren nicht angerührt wurden, viele Wohnungen verfallen. So nah am Zentrum fühlt man sich wie auf einem anderen Planeten.
Seit einigen Jahren ist die Gegend angesagt, es gibt Cafés, kleine Manufakturen, in den Fabriken aus dem 19. Jahrhundert wie der Fabryka Schichta oder Soho Factory hat sich eine alternative Szene entwickelt. Und am Ufer sind Bars entstanden sowie neue Wege für Radfahrer und Spaziergänger.
Die Philharmonie
Seit 13 Jahren mache ich dort all meine Aufnahmen. Mir gefällt die Akustik in der Philharmonie, sie hat einen warmen, natürlichen Klang. Wenn man auf der Bühne sitzt, kann man sich selbst gut hören. Ich habe ein wunderbares Team dort, es kennt den Saal wie seine eigene Westentasche und hat den Klang gut im Griff. Und nach den Aufnahmen können wir sie im Schneideraum gleich bearbeiten. Manchmal gebe ich in der Philharmonie auch Konzerte. Es herrscht dort eine besondere Atmosphäre, das Publikum ist wahnsinnig herzlich und enthusiastisch. Ich habe das Gefühl, dass die Leute, die dorthin gehen, wirklich Ahnung von Musik haben, sie lieben (Jasna5, filharmonia.pl).
Der alte Bau der Philharmonie wurde zerbombt im Krieg und 1955 mit dem fünften Chopin-Wettbewerb wiedereröffnet. Der war in meiner Kindheit wichtiger als Fußball, alle redeten darüber. Man kam meist gar nicht rein, höchstens mit Tricks. Als ich klein war, musste ich manchmal den Pförtner bestechen, um durch den Hintereingang und eine Toilette reinzugelangen.
Die Heilig-Kreuz-Kirche
Chopin ist in Paris gestorben, aber es war sein Wunsch, dass sein Herz nach Warschau zurückkehrt. Bei seiner Beerdigung wurde Mozarts Requiem gespielt, auch das hatte er sich gewünscht. Beim Chopin-Klavierwettbewerb wurde es dann zur Tradition, das Requiem in der Heilig-Kreuz-Kirche aufzuführen. Mit 15, 16 habe ich es dort gehört – eine Offenbarung! Diese unglaublich schöne Musik von Mozart in dieser Kirche! Das hat mich viel mehr interessiert als der Wettbewerb. Ich wusste, dass dies der Weg ist, den ich nehmen will. Ein ganz starkes Gefühl (Krakowskie Przedmiescie 3).
Mozart ist vielleicht die Liebe meines Lebens. Chopin liebe ich auch, aber nur in kleinen Dosen. Bei zu viel Wiederholung wird er banal. In Warschau, das ihm auch ein Museum gewidmet hat, ist er ja so allgegenwärtig wie Kafka in Prag. Schrecklich! Ich saß mal in der Altstadt auf einer Bank – und plötzlich ertönte seine Musik aus irgendwelchen unsichtbaren Lautsprechern. Selbst der Flughafen wurde nach ihm benannt. Eine Schande, einem Komponisten so delikater Musik so etwas anzutun, Chopin liebte das Intime. Er wäre wahrscheinlich entsetzt.
Museum der Geschichte der polnischen Juden
Die Architektur (von einem finnischen Team, Lahdelma & Mahlamäki) finde ich umwerfend, das Konzept des Museums, das vor vier Jahren eröffnet wurde, ist ziemlich modern. Normalerweise erwartet man ja Objekte. Doch hier ist: nichts. Absolut nichts. Das ist erst mal schockierend. Aber es ist nichts übrig geblieben an originalen Gegenständen. Die Geschichte der polnischen Juden wird mit Texten und Filmen erzählt.
Durch meine ungarische Mutter habe ich jüdische Wurzeln, bei meiner Großmutter in Budapest haben wir immer die Sommer verbracht. Warschau war mal die größte jüdische Stadt Europas, ich glaube, 30 Prozent der Bevölkerung waren Juden. Diese Menschen sind im Prinzip verschwunden. Erst wurden sie ins Ghetto gesteckt, dann ausgerottet. Diese jüdische Vergangenheit Warschaus ist so ein schmerzlicher Aspekt der Stadt. Seit Hunderten und Hunderten von Jahren gab es Juden dort – und plötzlich ist nichts mehr übrig. Und dieses neue Museumsgebäude neben dem Denkmal der Helden des Warschauer Ghettos symbolisiert das. Warschau ist eine Stadt voller Symbole.