ZDF-Dreiteiler "Ku'damm 56": Zwischen Rock ’n’ Roll und Knigge
Rebellion und Konvention: Im ZDF-Dreiteiler „Ku’damm 56“ werden die 50er Jahre als Geschichte starker Frauenfiguren erzählt.
Das traditionelle Erzählfernsehen lebt. Und wie es lebt! Mit dem „Tatort“ im Ersten und „Ku’damm 56“ im Zweiten zeigt das linear arbeitende Medium an diesem Sonntag, dass es den Kampf um die Aufmerksamkeit der Zuschauer keineswegs aufgegeben hat. Und beide Formate belegen, dass die horizontal erzählte Blockbuster-Serie weder im öffentlich-rechtlichen Free-TV von ARD und ZDF noch im privaten Free-TV von RTL und Sat 1 angesiedelt sein muss.
„House of Cards“, „The Walking Dead“, „Deutschland ’83“ haben hier nichts verloren. Der Fernsehzuschauer, der „Tagesschau“-Einschalter um 20 Uhr will in spätestens 90 Minuten wissen, ob er seinen Abend mit dem Medium gewinn- oder verlustbringend verbracht hat. Beim „Tatort“ ist die Sache für bis zu zehn Millionen Zuschauer entschieden: Der ARD-Krimi ist die eine überzeugende Antwort auf die Herausforderung der Streaming-Serien.
Die andere Antwort sind die Unikatsproduktionen, der Nicht-Krimi und die von Herz und Schmerz befreiten Langläufer. Drei Titel drängen sich auf: „Weissensee“ im Ersten, „Unsere Mütter, unsere Väter“ im Zweiten und jetzt „Ku’damm 56“. Drei Fernsehfilme, die übers Fernsehen hinausragen. Deutsche Geschichte, aufgelöst in Geschichten, in begreifbare wie greifbare, in anziehende wie abstoßende Familiengeschichten.
„Ku’damm 56“ schaut an drei ZDF-Abenden ins Jahr 1956, in die Tanzschule „Galant“ am Kurfürstendamm 56 in Berlin. Die Tanzschule, das ist das Leben und das Werk von Caterina Schöllack (Claudia Michelsen). Sie ist wie das Programm: konservativ bis zur Verkrampfung, nur Standardtänze werden angeboten, jeder Tanzkurs ist ein Benimmkurs. Etikette gibt dem Leben, wo schon keinen Sinn, so doch Struktur und Halt.
Caterina Schöllack ist alleinerziehende Mutter: Der Mann und Vater der drei Töchter, Gerd Schöllack, wird seit 1944 vermisst. Von Helga (Maria Ehrich), Eva (Emilia Schüle) und Monika (Sonja Gerhardt) verlangt sie, dass sie sich durch vorteilhafte Heiraten bestmöglich in die Gesellschaft einfügen. Die Geschlechterrollen sitzen dann perfekt, wenn sie natürlich erscheinen.
Annette Hess, seit „Weissensee“ längst unter den Prädikats-Autoren, nimmt sich die Freiheit, „Ku’damm 56“ als Geschichte starker Frauenfiguren zu erzählen. Damals, als junge Männer in Filmen wie „Die Halbstarken“ (1956) oder „... denn sie wissen nicht, was sie tun“ (1955) gegen die Konventionen von Zeit und Eltern rebellierten, waren Gegenwart und Zukunft der Frauen fest umrissen: „Kinder werden Leute, Mädchen werden Bräute.“ Unterordnung bedeutete, dass Frauen nicht gestattet war, ohne die Erlaubnis ihres Mannes ihren Führerschein zu machen, ihr Vermögen selbst zu verwalten. Bis zum Gleichberechtigungsgesetz von 1958 konnte der Ehemann ohne die Zustimmung seiner Ehefrau deren Arbeitsverhältnis kündigen.
Mit Elektroschocks gegen Homosexualität
Vor diesem Zeithorizont, personifiziert in Caterina Schöllack, suchen die Töchter ihren Weg. Es gilt dabei das Tolstoi’sche Diktum: „Alle glücklichen Familien gleichen einander. Jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich.“ Helga, die Älteste und unglücklich? Ihre Hochzeit mit dem angehenden Staatsanwalt Wolfgang von Boost (August Wittgenstein) steht unmittelbar bevor, als beste aller Ehefrauen will sie sich ins Passepartout der Mutter einfügen.
Was aber nach Perfektion ausschaut, ist Konfektion und Konvention. Der Ehemann ist schwul, eine sexuelle Orientierung, die Paragraf 175 Bürgerliches Gesetzbuch verbietet. Wolfgang verschweigt das seiner Frau, die Konflikte brechen auf, der Jurist sucht Trost und Tat bei Professor Jürgen Fassbender (Heino Ferch). Der Psychiater und Nervenarzt gilt als Spezialist für die „Elektrokrampftherapie“, eine Art Allheilmittel gegen psychische Erkrankungen. Fassbender hat diese qualvolle, quälende Methode der Elektroschocks schon als williger NS-Mediziner entwickelt und getestet, eine camouflierte Tatsache, die Wolfgang von Boost jederzeit unter dem Teppich hervorziehen kann.
Eva Schöllack arbeitet in der Nervenklinik als Schwester. Sie sieht sich als Frau Professor Fassbender, egal, dass der Mediziner vier Jahrzehnte älter ist. Dann trifft sie Rudi Hauer (Steve Windolf), einen viel versprechenden Fußballer aus dem Ostteil der Stadt. Der ist verheiratet. Mutter Schöllacks größtes Sorgenkind aber ist Monika. Sie wurde wegen ungebührlichen Benehmens der Hauswirtschaftsschule verwiesen. Beschämt kommt sie nach Berlin zurück. Die Mutter schäumt, sie fürchtet den Ruin des gesellschaftlichen Rufs der Familie, jetzt gilt es mit Haltung und Härte die einzig mögliche Lösung des Monika-Problems anzusteuern: eine Heirat nach oben.
Der Fabrikantensohn Joachim Franck (Sabin Tambrea) bietet sich an. Haltlos ist er, eine zügellose James-Dean-Variante, ein Tunichtgut im Alles-wird-besser-Wunderland. Joachim und Monika fügen sich gegenseitig böse Traumata zu, miteinander können sie nicht, ohne einander wollen sie nicht. Oder doch? Freddy Donath (Trystan Pütter) zupft den Kontrabass in der Tanzschulen-Combo. Das ist Gebrauchsmusik, die wahre Leidenschaft ist der raue Rock ’n’ Roll, wie er im Schuppen von „Mutter Brause“ gespielt und getanzt wird.
Die entscheidenden Fragen jener Zeit
„Ku'damm 56“ stellt in seinen entscheidenden Figuren die entscheidenden Fragen jener Zeit – und recht eigentlich die entscheidende Frage über jene Zeitläufte hinaus: Wer willst du sein, versuchst du die/der zu sein, die/der du wirklich bist? Und: Bist du größer als deine Probleme? Die Figuren sind stark gezeichnete Individuen, ja Individualisten, zugleich trägt die ältere, die Elterngeneration einen Zeitbuckel. Gehört die Tanzschule „Galant“ den Schöllacks gar nicht seit Generationen, wie Mutter Caterina stets und stetig behauptet? Bis 1936 hatte die Tanzschule einen anderen Besitzer, wie Monika herausfindet. Professor Fassbenders Vergangenheit ist nicht weniger nazi-braun. Der Dreiteiler wird darüber nicht zum Zeit-Prozess, und doch gehört es zu seinen prägenden Stärken, dass die Familiengeschichte parallel auf dem Parkettboden und auf dem schlammigen Grund der jüngsten Vergangenheit spielt.
Eine Fernsehproduktion, die das heutige Publikum ins 56er Jahr beamen will, muss alle Sinne gefangen nehmen. Der Dreiteiler bietet das ganze Bild: das Drehbuch besonderer Güte von Annette Hesse, ein herausragendes Ensemble, die konsistente Inszenierung von Sven Bohse, die Bilder auf allen Erzählebenen beredt macht, die narrative Kamera von Michael Schreitel, und dann das beeindruckende Zusammenspiel der Gewerke. „Ku’damm 56“ funktioniert als Musikfilm (Maurus Ronner), über’s Kostüm (Maria Schicker), im Szenenbild (Lars Lange). Ufa Fiction hat überzeugend produziert.
Alles hat seinen Platz, alle sind an ihrem Platz. Klar, die Figuren sind fiktiv, sie sind „gebaut“, und darum braucht es einen Cast, der glaubwürdige Figuren für Sinnbilder und nicht für Abbilder schafft. Claudia Michelsen als Zentralgestirn Caterina Schöllack geht voran: Sie ist das, was heute eine „Tiger Mom“ genannt würde. Das Kreuz wird in jeder Lebenslage durchgedrückt, die entschlossene Körperlichkeit zeigt den Willen zur gesellschaftlichen Akzeptanz. Die Michelsen, längst unter den führenden Schauspielerinnen im Land, ist von beinharter Präsenz.
Was „Ku’damm 56“ als wesentliches Stück Fernsehen ausmacht, das ist die Kraft und die Kapazität der Sechser-Bande: Sonja Gerhardt, Maria Ehrich und Emilia Schüle als das Töchter-Trio, Sabin Tambrea, Trystan Pütter und August Wittgenstein als Jungmänner. Sie alle zusammen verkörpern den Willen und die Überzeugung, dass „Ku’damm 56“ jede Anstrengung lohnt. Und jede Aufmerksamkeit des Zuschauers verdient.
„Ku’damm 56“, ZDF, Sonntag, Montag, Mittwoch, jeweils 20 Uhr 15