WDR repariert „Die letzte Instanz“: „Wir haben tiefrote Linien übersehen“
Nach der misslungenen Sendung „Die letzte Instanz“ sendet der WDR am Donnerstag einen Themenabend zu Rassismus. Ein Interview mit Programmdirektor Jörg Schönenborn.
Jörg Schönenborn ist Programmdirektor Information, Fiktion und Unterhaltung beim Westdeutschen Rundfunk in Köln.
Herr Schönenborn, "Die letzte Instanz“ am 29. Januar im WDR-Fernsehen. Der Meinungstalk mit Steffen Hallaschka wollte unter anderem „Das Ende der Zigeunersauce“ diskutieren. Was ist da schiefgegangen?
Wie wir sprechen, welche Worte wir benutzen, wie wir Dinge nennen – das ist ein großes Thema in unserer Gesellschaft. Täglich fühlen sich Menschen durch Worte tief gekränkt, ohne dass die, die es auslösen, das auch nur merken. Dafür zu sensibilisieren, das ist unsere Aufgabe. Denn als öffentlich-rechtlicher Rundfunk führen und halten wir die Gesellschaft zusammen.
Bei der „Letzten Instanz“ sind wir diesem Anspruch absolut nicht gerecht geworden. Eine ganze Gesprächsrunde inklusive der Redaktion hat kollektiv tiefrote Linien übersehen. Sie hat einfach nicht wahrgenommen, wie verletzend Teile der Debatte für Sinti und Roma und People of Color waren. Das darf uns nicht passieren, deshalb haben wir uns sehr schnell entschuldigt und Konsequenzen gezogen.
Derzeit erarbeitet ein divers und hochrangig besetzter Kreis um unsere Integrationsbeauftragte Iva Krtalic, wie wir beim Thema kulturelle Vielfalt noch besser werden. Aber man darf bei aller berechtigten Kritik eines nicht vergessen: Der WDR ist seit vielen Jahren Vorreiter beim Thema Diversität. Gerade deshalb war dieser Fehler auch so schmerzhaft.
Wer sich die Sendung in der Mediathek anschauen will, der wird mit einer Hinweistafel gewarnt. „Die letzte Instanz“ stehe „unter starker Kritik – und das zu Recht“. Der WDR lerne daraus und werde das besser machen. Die inkriminierte Sendung lief am 29. Januar, ihre Aufarbeitung erfolgt nun am 18. März mit dem „Themenschwerpunkt: Gesellschaftliche Vielfalt und Integration“. Warum diese sehr späte Reaktion?
Es gab schnelle Reaktionen in der Woche danach. Ein berührendes Gespräch mit dem Rom Gianni Jovanovic, bissige Satire in den Mitternachtsspitzen, zahlreiche crossmediale Beiträge in unseren Programmen, darunter zum Beispiel eine sehr selbstkritische journalistische Auseinandersetzung in der „Aktuellen Stunde“. Im WDR hat dieses Thema alle Redaktionen beschäftigt, deshalb haben es so viele aufgegriffen.
Diese Woche geht es um mehr. Wir machen einen Programmschwerpunkt in Fernsehen, Radio und der Mediathek, der sensibilisieren soll. Viele Menschen deutscher Herkunft halten Rassismus nicht für ihr Problem, sie befassen sich einfach nicht damit. Oder sie denken nicht darüber nach, mit welchen Denkmustern sie selbst aufgewachsen sind. Aber Zusammenleben kann eben nur gelingen, wenn man sich auch auf die Perspektiven der anderen einlässt.
Dazu laden wir ein, zu einer tiefgründigen Auseinandersetzung mit dem Problem - so wie wir das im letzten Jahr auch nach dem Entstehen der Black-Lives-Matter-Bewegung in vielen Formaten getan haben.
Das Programm am Donnerstag sieht sich nach einem Waschgang an, auf dass der WDR wieder eine weiße Weste tragen kann. Sie wollen alles besser, nämlich richtig machen. Wie geht das?
Natürlich ärgert es uns sehr, dass ausgerechnet uns als WDR das durchgegangen ist. Denn wir haben ein ganz anderes Selbstverständnis. Der WDR ist seit Jahrzehnten ganz vorn, wenn sich unsere Gesellschaft verändert. Angefangen beim fremdsprachigen Programm für die „Gastarbeiter“ in den 60er Jahren, später beim Thema Integration und kulturelle Vielfalt. Heute haben wir einen viel breiteren Diversitätsbegriff. In der Talentwerkstatt „WDR grenzenlos“ haben wir in den vergangenen 15 Jahren über 100 Nachwuchsjournalistinnen fit für die Medienarbeit gemacht.
Das junge europäische Kulturradio COSMO und das Angebot „WDRforyou“ für Flüchtlinge sind noch immer Besonderheiten in der deutschen Medienlandschaft. Von den aktuellen WDR-Programmvolontären haben 50 Prozent eine Zuwanderungsgeschichte. Eine Untersuchung der Neuen Deutschen Medienmacher im vergangenen Jahr ist zu dem Schluss gekommen, dass der WDR hier ganz vorne liegt in Deutschland. Da stand allerdings auch drin, dass international viele doch weiter sind. Also ist es unser Ziel, noch besser zu werden.
Wann nimmt im WDR eine Sprach-, Sprech- und Denkpolizei ihren Dienst auf?
Die Frage kann man sich stellen, wenn man alle Posts und Äußerungen im Netz wörtlich nimmt, die nach der Ausstrahlung verbreitet wurden. Das las sich oft so, als ob es tatsächlich nur eine Wahrheit gäbe. Es war teilweise aggressiv und beleidigend. Das zeigt, wie radikal die Debatte geworden ist. Und ja, jeder darf seine Meinung sagen, keiner ist zum Diskurs verpflichtet. Aber wenn wir die Empörungskultur weiter pflegen, fliegt uns die Gesellschaft auseinander. Dabei können wir in Deutschland stolz sein auf die große Integrationsleistung der letzten Jahrzehnte.
„Spiegel“-Gründer Rudolf Augstein hat immer gefordert: „Sagen was ist“. Der WDR fordert: Sagen, was sein sollte?
Wir hatten bei einer digitalen Veranstaltung eine große Programmdebatte zu dem Thema. Ein Kollege hat es so formuliert: „Ich möchte keine einseitigen politischen Statements im WDR-Programm, die den Menschen zeigen, wie weit wir ihnen politisch oder kulturell oder sprachlich voraus sind.“ Das sehen viele in den Redaktionen ähnlich. Wir müssen Probleme und Chancen gleichermaßen beim Namen nennen.
Oma-Gate, „Die letzte Instanz“, Karnevals-TV mit Warnhinweisen: Was läuft im WDR schief, dass der Sender per definitionem zum Abstand zwischen zwei Fettnäpfchen geworden ist?
Jetzt gehen Sie nach dem Eintopf-Prinzip vor. Sie gucken, was im Kühlschrank ist und werfen es einfach in den Topf. Ja, wir machen Fehler. Aber wir arbeiten jeden Tag hart daran, sie zu vermeiden oder, wenn sie denn passieren, aus ihnen zu lernen. Nun gibt es aber auch keinen anderen Sender in der Bundesrepublik, der so viel produziert und veröffentlicht.
Das sind täglich hunderte Meldungen, Beiträge, Sendungen mit zig Millionen Kontakten. Allein in der ARD-Mediathek finden Sie aktuell über 10.000 Videos des WDR – und es werden täglich mehr, für die wir in jedem Moment die volle Verantwortung haben.
Bei jedem einzelnen Beitrag könnten wir theoretisch etwas übersehen haben. In einem älteren Beitrag könnte ein Bild anstößig sein, das zum Zeitpunkt der Produktion anders wahrgenommen wurde. Wir müssen einfach viel mehr im Blick behalten. Und wir schauen auch diesmal, wie wir unsere Kontroll-Mechanismen verbessern können.
Jede Woche ein neues digitales Format
Das alles kann nur ein Teil der Zukunft sein. Was steht im Pflichtenheft für die nächsten Jahre?
Der WDR hat sich in den letzten fünf Jahren stärker verändert als in Jahrzehnten davor. Fast jede Woche entsteht ein neues digitales Angebot. Nicht alles entsteht durch Synergien, manches im linearen Radio oder Fernsehen können wir dann nicht mehr fortführen. Wir haben ja nicht mehr Geld, sondern nachweislich weniger.
Dabei ist immer das Ziel, dass uns unser Publikum ins Netz folgt oder wir dort die ansprechen, die uns gerade nicht nutzen. „nicetoknow“ ist ein gutes Beispiel: ein Info-Kanal mit Schülern für Schüler*innen bei TikTok, der sich an die 14- bis 16jährige richtet und gerade gestartet ist. Ich denke an den Doku-Kanal bei Youtube mit 570.000 überwiegend jungen Followern. Manche Filme, die im Fernsehen ein paar 100.000 Zuschauer erreicht haben, zählen hier Millionen Videostarts.
Schritt für Schritt entwickeln wir Virtual Reality weiter – gerade jetzt kann man in 3D durch den Braunkohletagebau fahren und die beeindruckende Dimension von Technik und Landschaftszerstörung am Tablet oder Smartphone hautnah erleben.
Der WDR erweitert sprunghaft seine Präsenz im Netz – wo bleiben da die Anstrengungen in Radio und Fernsehen?
Das Eine schließt das Andere doch nicht aus. Aber auch Bewährtes entwickelt sich weiter. Im Mai startet eine neue Staffel der Kebekus-Show, und „Mord mit Aussicht“ geht in neuer Besetzung weiter. Technisch entwickeln sich Medien rasend schnell weiter, inhaltlich liebt das Publikum Tradition und vertraute alte Bekannte. Beispiel Sport.
Ende des Monats feiern wir nach dem „Tatort“-Jubiläum und dem „Maus“-Geburtstag, der uns einen wunderbaren „Candy-Storm“ gebracht hat, das nächste große Jubiläum: „50 Jahre Tor des Monats“ in der Sportschau. Tolle Erinnerungen.
Und gleichzeitig wird alles anders: wir liefern den Fans zur neuen Fußball-Bundesliga Saison per Audio 90-minütige Live-Reportagen aller Spiele. Dazu wird die „Sportschau“-App komplett auf den Kopf gestellt und erneuert. Obendrein bauen wir sportschau.de zur Plattform für regionalen Sport-Inhalte in der ARD aus. Damit die Nutzerinnen und Nutzer alles an einem Platz finden. Ganz selbstverständlich wird Klassisches digital.
Neue Fiktion in der Mediathek
Was passiert in der Mediathek?
Unsere WDR Mediathek ist seit dem Herbst Teil der großen ARD Mediathek, und da bieten wir als WDR vor allem bei Dokus und Fiktion enorm viel. Stichwort „Serienoffensive“, mit deren Hilfe sich die Nutzung der Mediathek im Jahresverlauf glatt verdoppelt hat!
Nächstes Highlight wird „Bonn“ sein. Ein Familienthriller, der im Jahr 1954 spielt, vor dem Hintergrund des Ringens zwischen den neuen demokratischen Kräften und den rückwärtsgewandten Seilschaften aus der Nazizeit– also Fiktion mit sehr aktuellen Bezügen. Bei den Dokus ist eine Webserie zum Merkel-Abgang eines unserer nächsten Projekte.
Ihnen ist es um die Akzeptanz des WDR gar nicht bange?
Unser Ziel ist es, viele Menschen zu erreichen. Die Fernsehnutzung der unter 30-jährigen hat sich in den letzten zehn Jahren halbiert, deshalb ist es gut, dass wir heute schon dort sind, wo diese Zielgruppe jetzt unterwegs ist – im Netz. Gerade die Jüngeren sind ausgesprochen kritisch, wollen verlässliche Quellen, fragen, wo die Informationen herkommen.
Nach meinem Eindruck gehen viele von ihnen mit den sozialen Medien sogar besonders kritisch um, einfach, weil sie von klein auf mit ihnen leben. Deshalb bin ich zuversichtlich, dass unsere Informationen, unsere fiktionalen Produktionen oder unsere Angebote in der Unterhaltung und im Sport gerade bei den Jüngeren auch in Zukunft gefragt sein werden – auf den unterschiedlichen Verbreitungswegen.
Themenabend im WDR-Fernsehen
Das WDR-Fernsehen widmet sich am Donnerstag einen Abend lang dem Thema „Rassismus in Deutschland“ unter dem Titel „Freiheit, Gleichheit, Hautfarbe! – Warum hat Rassismus mit uns allen zu tun?“. Es gehe um die Frage, wie sich die Ursachen von strukturellem und verdecktem Rassismus erkennen und bekämpfen lassen, teilte der WDR. Der Sender hat den Programmschwerpunkt als Reaktion auf eine umstrittene Folge der Talkshow „Die letzte Instanz“ geschaffen.
Beim Themenabend, der um 20 Uhr 15 startet, sind eine Diskussionsrunde sowie eine Reportage geplant, in der Betroffene schildern, wie sehr sie jeden Tag mit Rassismus konfrontiert werden. Der WDR wird „Rassismus und Integration“ zudem in der Mediathek einen Schwerpunkt widmen und die Thematik auch im Hörfunk aufgreifen. (jbh)
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