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Demonstration gegen Rassismus und zum Gedenken der Opfer von Hanau.
© Manfred Thomas

Die Schattenseite der Moderne: Warum der Rassismus in unserer Mitte keimt

Rassismus? Bei uns doch nicht! Liberale Gesellschaften vergewissern sich lieber ihrer Fortschrittlichkeit. Dabei wäre Selbstkritik nötig. Ein Essay

Glaubt man den öffentlichen Bekundungen in Deutschland, haben wir schon lange kein wirkliches Problem mehr mit Rassismus. Wo Menschen darauf hingewiesen werden, dass sie Teil des Problems sein könnten, wiegeln sie beleidigt oder beschämt ab.

In einer Sendung des WDR-Moderators Steffen Hallaschka hatten die Talkgäste kürzlich verblüffend naiv diskriminierende Bezeichnungen für Schnitzel oder Schokoküsse verteidigt. Thomas Gottschalk plauderte darüber, dass er als Jimi Hendrix verkleidet das erste Mal erlebt habe, wie sich ein Schwarzer unter Weißen fühle. Hallaschka entschuldigte sich später auf Facebook: „Ich muss schmerzlich erkennen, wie viele Menschen unseren Talk ‚Die letzte Instanz‘ als massiv verletzend und rassistisch diskriminierend erlebt haben. Das bestürzt mich, weil ich Rassismus abgrundtief verachte.“

Aber trotzdem, so betonte er, könne er bei keinem seiner Gäste „offen beleidigende Absicht“ erkennen. Wer Rassismus ausdrücklich ablehnt und nicht beleidigt, kann also nicht rassistisch sein?

Jeder Dritte sieht "zu viele Ausländer in Deutschland"

In Deutschland wird menschenfeindliches Denken allzu gern historisiert: Die Nazis, ja das waren damals wirklich Rassisten. Und es mag schon sein, dass am rechten Rand noch heute ein solch krankhaftes und abnormales Denken gepflegt wird. Die bürgerliche Mitte gilt hingegen als stabiles demokratisches Fundament.

Kommende Woche jährt sich der Terroranschlag von Hanau das erste Mal. Am 19. Februar 2020 hat Tobias R. neun Menschen aus rassistischen Motiven erschossen. Nicht wenige versuchten die Morde danach auf das Delikt eines rechten Einzeltäters zu reduzieren, der die mörderischen Ideologien in einer abgeschotteten Ecke seines kranken Hirns ausgebrütet hatte. Um der Relativierung und Verharmlosung entgegenzutreten, sagte SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil mit Verweis auf die AfD: „Es war einer, der in Hanau geschossen hat, aber es waren viele, die ihn munitioniert haben“.

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Jeder achte Wähler hat bei der Bundestagswahl 2017 sein Kreuz bei den Rechtspopulisten gemacht. Doch laut der Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung stimmt jede zweite befragte Person in Deutschland negativen Meinungen gegenüber Asylsuchenden zu. Jeder Dritte bejaht die Aussage „Es leben zu viele Ausländer in Deutschland“. Beinahe gleich viele Menschen „hätten Probleme damit, wenn sich Sinti und Roma in meiner Gegend aufhalten“. Fast jeder Fünfte stimmt der Forderung zu, dass „Muslimen, die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden“ soll. Jeder Zehnte vertritt einen biologisch begründeten Rassismus. Und das sind bloß die Antworten auf explizite Fragen.

Unbewusste Vorverurteilungen und Normen

Sozialpsychologen an der Universität Havard entwickelten den „Implizite Assoziationstest“, in dem mittels Bewertung von Bildern und Begriffen latent rassistische Einstellungen erfasst werden. Er ist im Netz frei verfügbar. 50000 Teilnehmer aus Deutschland absolvierten ihn bereits. Ein Großteil davon gab zuvor an, keinerlei Vorurteile zu haben. Doch bei 80 Prozent der Weißen wies der Test hierzulande rassistische Denkstrukturen nach. Wohlgemerkt: bei denjenigen, die sich freiwillig darauf einließen.

In den meisten von uns schlummern offensichtlich unbewusste Vorverurteilungen und Normen, die auf erlernten Kategorien und Stereotypen beruhen. So kann die harmlose Frage „Wo kommst Du ursprünglich her?“ zwar höflich interessiert gemeint sein, aber bei Betroffenen durchaus als „Du gehörst hier nicht hin!“ gewertet werden.

Da mag die Selbstreflexion über Macht- und Herrschaftsmechanismen, wie sie im Ansatz der Kritischen Weißseinsforschung verfolgt wird, ein Stück weit sensibilisieren. Doch der intellektuellen Bewusstwerdung von Privilegien folgt nicht zwingend ein aufgeklärteres Handeln. Zumal die ausgestellte Selbstreflexion stets zum Lippenbekenntnis zu verkommen droht.

Auf dem Hanauer Marktplatz wird an die Opfer des rassistisch motivierten Anschlags vom 19. Februar erinnert.
Auf dem Hanauer Marktplatz wird an die Opfer des rassistisch motivierten Anschlags vom 19. Februar erinnert.
© Christine Schultze/dpa

Kolonialismus, Ausbeutung und Sklaverei

Mit der Entwicklung der Psychoanalyse wurde der Mensch mit der Erkenntnis konfrontiert, dass sich ein beträchtlicher Teil seines Seelenlebens der Herrschaft des bewussten Willens entziehe. Wenn wir aber nicht, wie Sigmund Freud es einmal ausdrückte, „Herr im eigenen Haus“ sind, wie lässt sich dann der Dämon des Rassismus vor die Tür setzen? Vielleicht wäre schon etwas gewonnen, wenn wir mutiger analysierten, was ihm immer wieder die Tür öffnet.

Die Forschung wertet die Entstehung des rassistischen Denkens heute meist als nachträgliche Legitimation kolonialistischer Gräueltaten. Nur durch eine entmenschlichende Klassifikation von vermeintlich unterlegenen „Rassen“ ließen sich die barbarischen Taten der Europäer in Afrika und Südamerika moralisch „rechtfertigen“. Auf den ersten Blick mag es widersprüchlich erscheinen, dass krude Rassetheorien ausgerechnet in der Zeit der europäischen Aufklärung entstanden.

Schließlich war es jene geschichtliche Phase, die das politische Versprechen von Freiheit, Gleichheit und Solidarität hervorbrachte. Doch die ökonomischen Folgen des Liberalismus bedeuteten für weite Teile der Welt Kolonialismus, Ausbeutung und Sklaverei.

Personifizierung ökonomischer Missstände

Dieses Verständnis einer Dialektik der Moderne ist auch heute erhellend, wenn man nachvollziehen möchte, warum liberale Gesellschaften den Nährboden für menschenfeindliches Denken bereiten. Folgt man den Argumenten von Theodor W. Adorno, so ließen sich rassistische Ideologien auch „als Wundmale, als die Narben einer Demokratie bezeichnen, die ihrem eigenen Begriff eben doch bis heute noch nicht voll gerecht wird“. Denn noch immer gilt: Das bürgerliche Glücksversprechen wird in modernen Gesellschaften ökonomisch untergraben.

Es ist die fortschreitende Vernichtung mittelständischer Betriebe durch die Macht global agierender Konzerne, zumal in einer Pandemie, die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich, die permanente Bedrohung des sozialen Abstiegs für große Teile der Bevölkerung. Der daraus resultierende Verlust menschlicher Würde birgt ein hohes soziales Risiko. Längst ist es kein Geheimnis mehr, dass Menschen mit Abstiegsangst sich politisch radikalisieren. Und nach Schuldigen suchen.

Ohnmachtserfahrungen und narzisstische Kränkungen führen zu Aggressionen. Die Geschichte hat hinlänglich bewiesen, dass diese sich selten gegen undurchschaubare Marktmechanismen richten. Eine naheliegende Ableitung ist die Personifizierung in als „fremd“ und schutzlos wahrgenommenen Mitmenschen. Halt gewinnt das fragile Selbstbild des rassistischen Individuums dabei aus der Glorifizierung der eigenen imaginierten Volksgemeinschaft.

Rassismus als Schattenseite der Moderne

„Die permanente Beschwörung der ’rassischen’ oder kulturellen Höherwertigkeit gewährt Sicherheit und emotionalen Schutz, wo moderne Vergesellschaftung beständig Wunden in die Psyche durch die gescheiterten Selbsterhaltungsbestrebungen reißt“, schreibt die Soziologin Ulrike Marz. Rassismus ist demnach nicht bloß die Antithese zum liberalen Denken, sondern ein Ausweis der Janusköpfigkeit des Fortschritts. Die Schattenseite einer Moderne, die ihren eigenen Ansprüchen noch immer nicht gerecht geworden ist.

Als Produkt dieser geschichtlichen Entwicklung liegt es in liberalen Gesellschaften auch am Einzelnen, sein Denken und Handeln kritisch zu reflektieren. Und eben nicht bei der bequemen Tautologie „Wir sind gut, weil wir gut sein wollen“ stehen zu bleiben. Politik und Gesellschaft schulden den Betroffenen die Bereitschaft zur Selbstkritik. Denn Rassismus ist keine Naturkatastrophe. Und keine Pandemie, die auf uns übergesprungen ist. Moderne Menschen waren seine Erschaffer und sie sind es, die ihn tagtäglich an vielen Orten reproduzieren.

Hannes Soltau

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