Gespaltenes Europa: Wie wir Vertrauen zurückgewinnen
Flüchtlinge können den Deutschen zeigen, dass sie keine Angst vor Zuwanderern haben müssen. Und auch nicht um die Zukunft Europas. Ein persönlicher Appell.
Es war ein Moment, der Eingang in die Geschichtsbücher finden wird: als Europa im Herbst 2015 seine Grenzen öffnete für Menschen, die aufgrund von Kriegen, Katastrophen und Folter aus ihrem eigenen Land geflohen waren; als Tausende Freiwillige die Flüchtlinge mit Essen und Blumen begrüßten; als Menschen von Österreich bis Schweden ihre Häuser für Flüchtlinge öffneten und ihre Willkommenskultur demonstrierten.
Doch nur wenige Monate später veränderte sich die Stimmung eines Teils der Menschen, die zuvor noch die Flüchtlinge begrüßt hatten. Ein Wendepunkt war die Silvesternacht 2015/16 in Köln, als einige Flüchtlinge Frauen sexuell belästigten. Diese massiven Angriffe wurden von rechtsradikalen Gruppen benutzt, um die Meinung der Menschen in Europa zu beeinflussen.
Kurz darauf folgten Terroranschläge radikaler Muslime in verschiedenen Städten Europas – mit der Folge, dass die Angst vor Flüchtlingen in Deutschland zunahm. Die Stimmen der Rechten wurden lauter und stärker. Die Hassbotschaft erreichte ihr Ziel immer schneller.
Es ist verständlich, dass viele Angst vor Flüchtlinge haben
Ein Sprichwort sagt: "Eine faule Tomate verdirbt die ganze Schüssel Tomatensalat." So konnten die AfD und andere europäische Rechtspopulisten viele normale Bürger, die mit rechten und radikalen Parolen wenig bis gar nichts zu tun haben, auf ihre Seite ziehen. Viele Wähler der Rechtspopulisten sind jedoch keine überzeugten Anhänger dieser Parteien. Sie haben einfach Angst um die Zukunft ihres Landes. Und das ist völlig verständlich, wenn sie plötzlich Millionen von Fremden in ihrem Land sehen und nicht wissen, was für Menschen das sind.
Einander verstehen, statt übereinander zu reden
Inzwischen sind fast vier Jahre vergangen seit der Ankunft der Flüchtlinge. Wie es weitergeht? Das liegt jetzt bei uns, der Ball liegt in unserem Spielfeld! Wir, die Flüchtlinge, müssen den Bürgern zeigen, dass sie keine Angst vor uns und unseretwegen auch keine Angst um die Zukunft Europas haben sollten. Aber die Frage ist: wie?
Die Antwort lautet: indem wir, die Flüchtlinge, uns in die Gesellschaft integrieren; indem wir die Gesetze respektieren und die Sprache lernen; indem wir mit unseren Nachbarn reden und versuchen, einander zu verstehen, anstatt übereinander zu reden; indem wir die Meinungen anderer Menschen respektieren; indem wir nicht vergessen, wo wir herkommen und warum wir in Europa sind; indem wir weder Rassismus noch Extremismus akzeptieren; indem wir arbeiten gehen und mithelfen, das Land besser zu machen; indem wir nicht auf Kosten anderer Menschen oder in Parallelgesellschaften leben.
Vertrauen wiedergewinnen
Es ist klar, dass es immer Menschen geben wird, die ohne Grund Hass auf Ausländer haben. Aber diese radikalen Bürger sollten für Flüchtlinge keine Ausrede sein, um zu sagen: "Warum sollen wir uns Mühe geben und uns integrieren, wenn es Menschen gibt, die uns sowieso hassen?" Denn vor allem lernt man für sich selbst; man arbeitet für sich selbst; man versucht für sich selbst, andere Menschen und ihre Kulturen zu verstehen. Den Rest sollen die normalen Menschen entscheiden, die nichts mit Radikalen zu tun haben.
Wenn wir das tun, dann besteht die berechtigte Hoffnung, dass wir das Vertrauen der Menschen, die damals Flüchtlinge mit Blumen begrüßt haben, wiedergewinnen. Und dann besteht Hoffnung, dass es für die Rechten, die Europa durch ihren Hass auf Ausländer spalten wollen, keinen dauerhaften Platz bei uns gibt.
Dieser Text ist im Rahmen des Exiljournalistenprojekts #jetztschreibenwir entstanden. Das mehrfach preisgekrönte Tagesspiegel-Projekt, das von der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und der Robert Bosch Stiftung unterstützt wird, begann im Herbst 2016 mit einer ganzen Tagesspiegel-Ausgabe mit Texten von Exiljournalisten. Nach "Wir wählen die Freiheit" (September 2017) und "Heimaten" (Juni 2018) erscheint mit "Wir in Europa" (Mai 2019) die dritte Beilage, die von Exiljournalisten gestaltet wurde.