Europawahl: „Die Anti-Europäer sind sich uneins“
Parteien, die Europa ablehnen, könnten bei der Wahl deutlich zulegen. Tanja Börzel und Miriam Hartlapp plädieren dafür, deren Arbeit zu untersuchen.
Die Europawahl vom 23. bis 26. Mai dieses Jahres könnte eine Richtungsentscheidung werden. Einerseits waren einer Erhebung der Europäischen Kommission zufolge im vergangenen Jahr 68 Prozent der Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union der Ansicht, die Mitgliedschaft in der Union sei gut für ihr Land – so viele wie noch nie. Andererseits haben sich in zahlreichen Mitgliedsstaaten rechtspopulistische Parteien etabliert, die einen dezidiert antieuropäischen Kurs fahren. In mehreren in der jüngeren Vergangenheit veröffentlichten Studien wird davor gewarnt, dass diese Kräfte im Mai deutlich an Stimmen zulegen könnten. Es wächst die Sorge, dass im Europäischen Parlament ein starker antieuropäischer Block entsteht, der die Institution sabotiert.
Tanja Börzel, Jean-Monnet-Professorin für Europäische Integration am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin, glaubt nicht, dass sich Rechtspopulisten auf europäischer Ebene zu einer einheitlichen Kraft zusammenschließen können. „Bisherige Versuche, im Europäischen Parlament einen europafeindlichen Block zu etablieren, sind stets gescheitert“, sagt sie. „Die einzelnen Parteien gehen in wesentlichen Punkten zu weit auseinander.“ Um herauszufinden, welchen Einfluss antieuropäische Kräfte auf die Arbeit des EU-Parlaments nehmen, dürfe man nicht von einer homogenen Bewegung ausgehen, die bei Entscheidungen kohärent abstimme. Man müsse die Arbeit rechtspopulistischer Parteien mit all ihren Gegensätzen in den Blick nehmen. Große Differenzen gebe es sowohl bei einzelnen Politikfeldern, zum Beispiel der Wirtschafts- und Sozialpolitik, als auch bei der ideologischen Ausrichtung.
„Die ungarische Jobbik-Partei etwa zeigt ihren Antisemitismus und ihre Homophobie ganz offen“, sagt Tanja Börzel. „Davon hat sich aber beispielsweise das französische Rassemblement National, die Partei von Marine Le Pen, verabschiedet.“ Und während die Partei, der frühere Front National, eine Art chauvinistisch-nationalen Wohlfahrtsstaat propagiere, könne die Partei Alternative für Deutschland (AfD) gut mit einem neoliberalen europäischen Binnenmarkt leben. Eine übergreifende Zusammenarbeit werde außerdem durch gegensätzliche nationale Interessen in Fragen der europäischen Geldpolitik und der Steuerung von Migration verhindert.
Wie verhalten sich antieuropäische Kräfte im EU-Parlament?
Gemeinsam mit Miriam Hartlapp, ebenfalls Professorin für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut, hat Tanja Börzel nun im Rahmen des im September bewilligten Exzellenzclusters „Contestations of the Liberal Script“ ein neues Forschungsprojekt initiiert. In den kommenden zehn Monaten wollen die beiden Wissenschaftlerinnen untersuchen, wie sich antieuropäische Kräfte im EU-Parlament verhalten. Dazu werden sie Sitzungsprotokolle und Abstimmungsergebnisse vergangener Legislaturperioden auswerten.
„Bisherige Studien basieren meist auf der Analyse von Wahlprogrammen und Meinungsumfragen“, sagt Miriam Hartlapp. „Die Art und Weise, wie Abgeordnete sich tatsächlich verhalten, ist aber deutlich komplexer.“ Um im Parlament handlungsfähig zu sein, müssen sich Abgeordnete mit ihren Fraktionskolleginnen und -kollegen aus den anderen Parteien arrangieren. Sie geraten dabei in Zwiespälte zwischen Parteiprogramm und Fraktionswillen, europäischer Politik und nationalem Interesse. Wie und aus welchen Motiven heraus abgestimmt wird, habe dann am Ende oft wenig mit dem einstigen Wahlprogramm zu tun. „Wenn wir herausfinden können, wo und wie antieuropäische Parteien in der Praxis trotz aller Unterschiede zusammenfinden, dann ist es uns auch möglich, die Politikfelder zu identifizieren, in denen sie den stärksten Einfluss ausüben können“, sagt Miriam Hartlapp.
Neben dem Abstimmungsverhalten wollen Tanja Börzel und Miriam Hartlapp auch die Parlamentsdebatten untersuchen. Es gehe etwa darum herauszufinden, bei welchen Themen die Europafeinde eine besonders aggressive Sprache verwenden, wann sie Ordnungsrufe oder sogar Saalverweise in Kauf nehmen. Gleichzeitig werden die Strategien der anderen Parteien untersucht, mit diesen Provokationen umzugehen. Miriam Hartlapp verweist etwa auf eine Änderung der Geschäftsordnung, die das Europäische Parlament im Januar verabschiedet hat. „Dort wurde eine verschärfte Handhabe gegen Abgeordnete beschlossen, die das Parlament als Bühne für Hassrede missbrauchen“, sagt sie. „Es gibt eine Gegenbewegung, das darf man nicht vergessen.“ Extreme Parteien hätten ihre Wählerinnen und Wähler in den vergangenen Jahren viel erfolgreicher mobilisiert als bürgerliche, erläutert Tanja Börzel. „Was nützt es, wenn die Mehrheit der Bevölkerung die Europäische Union für eine gute Sache hält – aber von dieser nur wenige wählen gehen?“
Dennis Yücel