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„Berlin – Tag & Nacht“ auf RTL2.
© RTl2

Scripted-Reality: Was fasziniert an „Berlin – Tag & Nacht“?

„Berlin – Tag & Nacht“, die Scripted-Reality-Serie auf RTL 2, bietet ein synthetisches Proletariat – und eine Aufgabe für ARD und ZDF.

Unsere Freundin Johanna G. ist Ärztin. Ihr Mann ist Anwalt. Mit ihren drei Kindern leben sie im Grunewald, wo sie ein schönes Haus erworben haben. Das Milieu ist bürgerlich, die Kinder zeigen sich musikalisch begabt: Blockflöte, Klavier, Geige. Da Johanna nur halbtags arbeitet, hat sie Zeit. Weil auch das Haus bezahlt sein will, hält Johanna die Augen auf. In der Zeitung las sie von dieser Komparsenrolle: Gesucht wurde jemand für die Rolle einer Juweliersgattin. Unsere Freundin, eine wirklich schöne Frau, hat durchaus eine Edelstein-Ausstrahlung. Und einen Traum: Einmal im „Tatort“ eine Nebenrolle spielen.

Johanna rief an. Sie wurde genommen. Halber Drehtag. Zwei Sätze. Wo sie da mitspielt, war ihr nicht wirklich klar. „Berlin – Tag & Nacht“, nein, diese Scripted-Reality-Serie auf RTL 2 hatte sie noch nie gesehen. Aus Neugier hat sie dann den Fernseher eingeschaltet. Sie erstarrte: Menschen mit starker Pornofilmanmutung bevölkerten den Schirm, überall Tattoos, Piercings, Geschrei, Gesöff, unartikuliertes Gesülze.

Johanna versank vor Scham im Fischgrätparkett ihres Wohnzimmers. Wie sollte sie das ihrem Mann, ihren Kollegen erklären? Sie schwieg, stritt ab und als die Arzthelferin sie begeistert in der Praxis empfing, verdonnerte sie sie zur strikten Geheimhaltung. Johanna fürchtete um ihr bürgerliches Leben, denn nichts fürchtet der Bürger so sehr wie den Killervirus der Proletarisierung. So reagierte auch die Presse reflexhaft abwehrend, als „Berlin – Tag & Nacht" im September 2011 auf Sendung ging: „Trash-TV“, „Unterschichtsfernsehen“. Geplant waren 120 Folgen, doch mittlerweile sind rund 470 Folgen ausgestrahlt, die Quote ist vor allem in der werbelevanten Zielgruppe bestens. Inzwischen gibt es mit „Köln 50667“ einen sehr erfolgreichen Ableger.

Die geilste WG Deutschlands

Was ist das Geheimnis des Erfolgs? Mittlerweile recken mehr als 2,7 Millionen Fans auf der Facebook-Seite der „geilsten WG Deutschlands“ den Daumen hoch. Ist das schlimm? Verfallszeichen? Gab es in Berlin nicht mal die „Kommune 1“, jene legendäre 68er-WG, die den Spießbürger das Fürchten lehrte? Und gab es in der ARD nicht mal jene preisgekrönte Vorabendserie namens „Berlin, Berlin“ (2002 bis 2005) um eine jugendbewegte WG in Berlin, die Qualität und gute Quote ablieferte? Vorbei, vorbei! Heute regiert Papa Joe seine notgeile Spaß-WG, in der es auf den ersten Blick immer nur um Sex-, Alkohol- und Spaßanbahnung geht.

Doch der flüchtige Blick täuscht. Selten werden die Bedürfnisse der acht WG-Bewohner wirklich befriedigt. Man könnte sagen, die Serie funktioniere nach einer Coitus-Reservatus- Dramaturgie. Den Höhepunkt suchen alle, finden dürfen sie ihn nie. Kurz vor dem erlösenden Erguss verhindert irgendeine Widrigkeit des Lebens die Triebbefriedigung, und so suchen unsere Helden weiter.

Was aber suchen sie? Und was suchen die Produzenten? Was suchen die Zuschauer? Sie alle suchen Authentizität! Das ist der abgelutschte Begriff der digitalen Postmoderne. Authentisch soll es sein. Echt! Aufrichtig! Keine andere Redewendung taucht im Mund der Laiendarsteller häufiger auf als jenes mit Nachdruck ausgestoßene „Ganz ehrlich!“, das wahlweise mit Ausrufe- oder Fragezeichen versehen wird. Die tätowierten Körper sind auf Selbstbedeutungssuche, sie wünschen sich echte, bleibende Gefühle. Die Tattoonadel ist daher hier nicht bloß modisches Requisit, sondern eher Kompassnadel der Identität und emotionaler Seismograf. Das taube Empfinden muss besiegt werden: mit der Farbnadel, mit gepiercter Lippe oder Brustwarze.

Das „Ganz ehrlich!?“ ist nichts anderes als ein verbales Piercing im Fluss unserer Rede und dieses unaufhörliche Quatschen, Reden, Bekennen, Aussprechen, Auskotzen und Vor-sich-hin-Funken ist die lebendig improvisierte Gegenrede gegen die kunstvoll erstarrten Dialoge, die uns ARD oder ZDF in ihren meist musealen Vorabendserien präsentieren.

Legt man den Bürger in sich mal zu Bett und betrachtet die Serie gelassen, muss man nicht nur zugeben, dass sie funktioniert, nein, sie unterhält mitunter auch, weil die Geschichten einen Sog entwickeln. Und das tun sie, weil sie Figuren nerven, faszinieren, weil sie berühren und weil sie „lebendig“ wirken: die stets traumverlorene Sofie, Ceylan, Queen of Hysterie, Papa Joe mit schwer erziehbarer Tochter, Krätze, diese irrsinnige Nervensäge, oder Ole, dieser schmerzhaft blöde Clown. Ja, sie können einen in den Wahnsinn treiben, aber diese Typen gibt es, ihre Art, zu sprechen, es fängt das straßennahe, das unzensierte Sprechen ein und die Mentalitäten, die hier aufscheinen, spiegeln kollektive Gemütslagen wieder. Sie alle suchen Aufrichtigkeit, aber sie sehen aus, als seien sie eingesperrt in einen endlosen Pornofilm, der nie zur Sache kommen darf. Dieses Authentizitätsdrama, dieses Empfinden, sich stets selbst zu verpassen, sich sprechend, handelnd und fühlend nie im Einklang zu befinden, sondern in tausend Identitätsbausteine zu zerfallen, ist ein Drama, das dieses synthetische Proletariat mit dem Bürger teilt.

Hasst der Bürger dieses Format vielleicht deshalb, weil ihm die entfesselten Proleten gar nicht so unähnlich sind? Warum eigentlich artikulieren die öffentlich-rechtlichen Sender so eine Abscheu vor diesen Scripted-Formaten? Sollten sie nicht selbst auf experimentellen Wirklichkeitsfang gehen? Ist wirklich die ganze Welt ein Tattoo? Gibt es in dieser Stadt nicht auch eine WG, die nicht nur aus Vollpfosten besteht? Die Laiendarsteller von „Berlin – Tag und Nacht“, deren Biografien dicht an den Biografien ihrer Figuren siedeln, sind Authentizitätstransporteure, dafür werden sie von den Zuschauern geschätzt. Mit ihnen lassen sich Gefühlsdramen proben, Wertekonflikte verhandeln und Wünsche nach Wahrhaftigkeit artikulieren. Ältere Konsumenten wissen, dass das alles inszeniert ist, aber können wir sicher sein, dass die Zuschauer unter 16 Jahren das nicht für ein getreues Wirklichkeitsabbild halten?

Es wäre an der Zeit, dass ARD und ZDF den Vorabend nicht nur mit onkelhaften Krimiserien bespielen, sondern selbst Formate entwickeln, mit denen Geschichten aus anderen Wirklichkeiten, aus anderen Schichten und Milieus erfasst werden könnten. Ich würde mich auch selbst spielen. Ganz, ganz ehrlich!

„Berlin – Tag & Nacht“, Montag bis Freitag, RTL 2, 19 Uhr

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