"Berlin - Tag & Nacht": "Zum Abkotzen, diese Scheiße"
Die RTL-2-Fernsehserie "Berlin - Tag & Nacht" verkauft die Großstadt als Proll-City - und hat damit immensen Erfolg. Zeit, sich einem Phänomen zu widmen, das vor allem eins ist: klug konzipiert
Der Mann, der sich Mücke nennt, steht in keinem Reiseführer. Zwei Meter ist er wohl groß, muskelbepackt, solariumgebräunt, im kurzen, dunkelblonden Haar trägt er eine verspiegelte Brille, die jetzt in der Nachmittagssonne leuchtet wie ein schwarzes Diadem. Mit dem federnden Schritt eines Boxers überquert er den Hinterhof an der Stralauer Allee Richtung Spree. "Ich werde verrückt. Da ist er ja", flüstert Conny Cauzzi, die abseits auf den Stufen einer Terrasse sitzt. Sie zieht ihr Handy aus der Tasche, ganz langsam, als ob sie fürchtet, Mücke zu verscheuchen. Doch der bemerkt sie gar nicht, er geht zum Boot, das in der Spree liegt und begrüßt seine Kollegen, die am Kai stehen. "Ach Gott, der ist so knuddelig", sagt Cauzzi, ihre Handykamera macht leise Klick-Geräusche.
Touristen kommen nur wegen der Serie in die Stadt
Für Conny Cauzzi, 42, und ihre Tochter Ramona, 16, gehört der Mann, der sich Mücke nennt, zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten Berlins. Die beiden Frauen, lange Haare, Turnschuhe und Tattoos unterm Pulli, kommen aus Winterthur in der Schweiz, drei Tage wollen sie in der deutschen Hauptstadt verbringen und damit sie nichts verpassen, haben sie sich alle Highlights notiert, die sie an diesem Montag Ende April ansehen wollen: den Club Matrix unter den S-Bahn-Bögen an der Warschauer Straße, das Tattoo- und Piercingstudio im Alexa, die Wohngemeinschaft im Hinterhaus der Schlesischen Straße und eben das Hausboot an der Spree. Vom Reichstag, dem Holocaust-Mahnmal und Unter den Linden ist auf ihrem Zettel nichts zu lesen. Berlin, das ist für Conny Cauzzi und Ramona das, was sie von montags bis freitags im Fernsehen sehen, um 19 Uhr, auf RTL 2 : Die Welt von "Berlin - Tag & Nacht".
Willkommen in Proll-City
Viele Serien im deutschen Fernsehen haben an der Spree gespielt oder spielen noch dort, doch wohl keine bedient sich so intensiv an der Hauptstadt wie "Berlin - Tag & Nacht" - gedreht ausschließlich an Originalschauplätzen, besetzt mit Amateurdarstellern, aufgetrieben in den Untiefen der urbanen Subkultur. Gespielt wird allerdings nicht die ganze Sinfonie einer Großstadt, sondern eher ein Sound, wie er aus den offenen Fenstern eines tiefergelegten Kleinwagens dröhnt: Die Darsteller sind quasi flächendeckend tätowiert, sie haben so viel Metall am Körper wie manch anderer nicht im Werkzeugkasten, die Männer tragen Muskelshirts, die Frauen Pornoschaufeln - Plastiknägel in Überlänge. Die Serienfiguren arbeiten als Türsteher, Tätowierer, Barkeeper und Go-goGirls, sie versuchen sich als Sänger, Hostel-Betreiber oder Shisha-Bar-Besitzer. Sie leben in Wohngemeinschaften in Kreuzberg und Friedrichshain, in denen Graffiti die Wände ziert und die Zimmer nur per Schiebetür verschließbar sind. Sie heißen Peggy, Joe und JJ (sprich: Dschäi dschäi), der "Kackjob" geht ihnen "auf den Keks", "Mann, ey", "Alter", "So eine Scheiße", das ist hier ja alles "zum Abkotzen". Willkommen in Proll-City. Und das soll Berlin sein?!
Keine andere Serie hat auf Facebook mehr Fans
Für die vielen Fans ist es das tatsächlich. 850 000 Menschen in der Altersgruppe der 14- bis 49-Jährigen schauen sich die Serie täglich im Durchschnitt an, das entspricht einem Marktanteil von knapp zwölf Prozent - fast dem Doppelten des Senderschnitts. In der Mediathek des Senders kommen noch einmal mehrere tausend Abrufe je Folge dazu. Fast 2,7 Millionen Fans hat "BTN" auf Facebook - so viele wie keine andere deutsche Serie. Für Jugendliche und junge Erwachsene im ganzen deutschsprachigen Raum vermittelt sich die deutsche Hauptstadt zuvorderst über Peggy, Joe und Co. Im September 2011 ist die Serie gestartet und hat sich seither zum Phänomen entwickelt - auch, weil "Berlin - Tag & Nacht" Fernsehen ist, das wirkt wie echtes Leben, mit der Handkamera gefilmt. JJ, Joe und Mücke, der Zwei-Meter-Mann, sind den Zuschauern quasi so nah wie echte Freunde. Sie kommen abends ins Wohnzimmer, erzählen von der spannenden Hauptstadt, und wenn sie gehen, dann bleibt kein Dreck zurück.
Dass die Serie, an Wochentagen zwischen 19 und 20 Uhr und als Vortagswiederholung ab 13.10 Uhr zu sehen, sich dabei auf ein bestimmtes Milieu konzentriert, scheint nur konsequent - ist das doch der Gegenentwurf zu dem, was es sonst zumeist in diesen Zeitfenstern in Telenovelas und Vorabendserien zu sehen gibt. Wo im Ersten, Zweiten und auf RTL "bigger than life" erzählt wird, rund um Adelsgestüte, Boutiquen oder 5-Sterne-Hotels, geht es bei "Berlin - Tag & Nacht" um "life", blicken die Zuschauer nicht auf zu den Protagonisten, sondern auf sie herab und denken sich: "Ich bekomme in meinem Leben zwar auch nicht alles gebacken, aber immer noch besser als die." Oder: "Ich bin zwar nicht immer gepflegt, aber so schlampig wie die laufe ich dann doch nicht rum." "Das fasziniert, weil es Abneigung und gleichermaßen Zuneigung auslöst", sagt Maya Götz, die sich als Leiterin des Inter nationalen Zentralinstituts für Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) damit beschäftigt, wie Serien auf ihre Zuschauer wirken. Was dieses Konzept noch einmal verstärkt: Die Darsteller sind tatsächlich in gewisser Weise "echt". "Scripted Reality" heißt das Genre, bei dem Schauspiellaien vermeintlich wahres Leben nach Drehbuch spielen.
Können die Zuschauer zwischen Realität und Fiktion unterscheiden?
Die Firma Filmpool, die in Köln und Berlin sitzt, hat sich auf das Genre spezialisiert. Angefangen 1999 mit der Show "Richterin Barbara Salesch" hat sie zahlreiche solche Formate ins deutsche Fernsehen gebracht: "Niedrig und Kuhnt - Kommissare ermitteln", "X-Diaries" und "Familien im Brennpunkt". Aber mit "Berlin - Tag & Nacht" hat Filmpool für RTL 2 noch eins draufgesetzt - denn die Serie heißt nicht nur so, sie begleitet ihre Zuschauer auch tatsächlich Tag und Nacht. Im Fernsehen ist eine Folge nach einer Stunde zu Ende, über Facebook geht sie in die Verlängerung. Videos, Fotos und Kommentare werden vermeintlich von den Serienfiguren, tatsächlich aber von einem RTL-2-Online-Redakteur veröffentlicht. Die Charaktere erzählen darin, wie es ihnen geht, sie lästern über ihre Freunde oder lassen sich bei realen Ereignissen wie dem Karneval der Kulturen ablichten. Die Nachrichten vermischen sich mit denen, die reale Freunde und Bekannte posten. Es wirkt, als gehörten die Serienfiguren zum echten Freundeskreis.
Mehrere zehntausend "Likes" und an die tausend Kommentare bekommen manche Posts. "Die Zuschauer wissen sehr wohl, zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden. Die Serie ist für sie wie ein Rollenspiel, auf das sie sich einlassen", sagt Vittorio Valente, Geschäftsführer von Filmpool. Maya Götz gibt hingegen zu bedenken: "Studien zeigen, dass Zuschauer erst ab 15 Jahren unterscheiden können, dass ein Scripted-Reality-Format gespielt ist." Für die Macher ist das soziale Netzwerk derweil nicht nur ein Weg, um die Handlung ins Internet zu verlängern, sondern auch ein idealer Rückkanal. Hier sehen sie, welche Themen die Fans am meisten bewegen, für welche Charaktere sie schwärmen und wer sie nervt. Der "Berlin - Tag & Nacht" Ableger "Köln 50667" ist im Januar sogar erst auf Facebook gestartet, bevor er ins Fernsehen kam.
Kreuzberg, Hinterhof Schlesische Straße 38, hier befindet sich die Wohngemeinschaft, die WG, Dreh- und Angelpunkt der Serie. Ein loftartiger Raum, große offene Küche, ein langer Tisch, in der Ecke stehen Sessel, auf denen man besser lümmeln als sitzen kann, an einer Wand hängen Konzertplakate, an die andere ist ein Graffiti von einem Berliner-U-Bahn-Wagen gesprüht. Alles ist also ein bisschen so, wie sich jemand eine coole Berliner WG vorstellt, der noch nie in Berlin gewesen ist."
Für uns stand von Anfang an fest, dass wir die Serie hier machen wollen. Berlin ist der Sehnsuchtsort für viele junge Menschen. Die wollen den Spirit der Stadt fühlen", sagt Vittorio Valente, Geschäftsführer von Filmpool. Die Serie spielt zum großen Teil in Kreuzberg und Neukölln, ein eigenes Team von Locationscouts sucht jeden Tag nach neuen Drehorten, denn auf Studiodrehs, wie sie beispielsweise bei "Gute Zeiten, Schlechte Zeiten" oder "Verbotene Liebe" üblich sind, wird aus Prinzip verzichtet. Das Hausboot liegt tatsächlich in der Spree, der Tattoo-Laden ist tatsächlich ein Tattoo-Laden, und im Club Matrix wird bei laufendem Betrieb gedreht. Das spart nicht nur die Kosten für die Komparsen, sondern wirkt auch echter, als wenn eine Menge auf Kommando feiern soll. Wenn die Kamera dabei wackelt oder das Licht nicht perfekt ist, umso besser.
Die Fans pilgern zu den Drehorten
Die Fans tauschen sich im Netz darüber aus, wo welche Location liegt, ein Youtube-Video zeigt den Weg von der WG in der Schlesischen Straße bis zum Hausboot, das alle paar Tage neu gestrichen werden muss, weil Fans dort ihre Sprüche draufgekritzelt haben. Im Kreuzberger WG-Hinterhof und vorm Hausboot steht ein Sicherheitsmann, der sie auf Abstand hält. Auch beim Berlin-Vermarkter Visit Berlin gehen regelmäßig Anrufe von Zuschauern ein. "Oft scheint denen allerdings gar nicht bewusst zu sein, dass es sich um ein Scripted-Reality-Format handelt, das Berlin als Kulisse nutzt", sagt Pressesprecherin Katharina Dreger. Auch Conny Cauzzi und ihre Tochter sind nur wegen der Serie nach Berlin gekommen. "Wir wollten mal wissen, wie das hier so ist. Das sieht immer alles so cool aus."
Was den Machern der Serie gelingt, ist, der rohen Optik der Spielszenen ikonographische Bilder entgegenzusetzen, die die einzelnen Szeneblöcke voneinander trennen: Friedrichstraße, Fernsehturm, fahrende U-Bahnen, Touristen auf der Oranienburger Straße, Cafés in Prenzlauer Berg, Graffitis in Schöneberg und Street-Art an Kreuzberger Häuserwänden, schnell hintereinander geschnitten, unterlegt mit Hip-Hop, House und Pop. Es sind Bilder einer Stadt, die immer in Bewegung ist, die für alle einen Platz zu haben scheint, in der Träume Wahrheit werden. "We are young, we are strong, we’re not looking for where we belong", singt Mika in dem Titelsong der Serie - was freilich nicht stimmt. Serienfiguren wie Zuschauer suchen nichts anderes, als nach ihrem Platz im Leben. Und das gelingt beiden mal mehr, mal weniger gut. JJ, Joe und Mücke aber machen Mut. "Die Serienfiguren kommen aus dem Unterschichtsmilieu, sind aber stolz auf das, was sie tun, was ihnen gelingt und vor allem auch darauf, wie sie aussehen. Sie haben keine Maße 90-60-90, sagen mit ihren Tätowierungen und Piercings aber: ,Schaut mich an, ich sehe gut aus’", sagt Götz.
Doch wer ist das nun eigentlich, der da spricht? Das ist gar nicht so leicht herauszufinden - RTL2 gibt die "richtigen" Namen der Darsteller nicht bekannt: "Das ist Teil des Kommunikationskonzeptes von ,Berlin - Tag & Nacht’", teilt der Sender mit - und eben das Prinzip, dass die Fiktion wie Realität wirken soll. Geben die Darsteller beispielsweise der "Bravo" ein Interview, dann als Ole oder Hanna und nicht als Falko Ochsenknecht und Anne Wünsche, wie sie tatsächlich heißen, was man - für einige Anhänger scheinen Realität und Fiktion durchaus noch unterscheidbar - in Fanforen nachlesen kann. Doch auch wenn außer Tätowierer Daniel Krause in der Serie keiner der Protagonisten unter seinem bürgerlichen Namen auftritt: Patrick Günther, der den Graffitikünstler Marcel spielt, ist tatsächlich Graffitikünstler, JJ inszeniert sich privat als "JJ sexy" in Fetisch-Outfits, und Mücke war früher als Thai-Boxer aktiv. "Ich bin in echt genau so wie in der Serie. Da muss ich gar nicht viel spielen. Ich heiße ja sogar Mücke", sagt der Zwei-Meter-Mann. Er ist an diesem Montag nicht zum Dreh zum Hausboot gekommen, sondern hat in den Büros von Filmpool zu tun, die gleich im Gebäude gegenüber liegen. Umso besser für Conny Cauzzi und ihre Tochter Ramona, sie fragen Mücke um ein Autogramm. Und bitte, noch ein Foto dazu. Mücke macht mit, grinst, schäkert. "Ach, der ist genau so wie im Fernsehen", schwärmt Cauzzi.
"SBSA": Sex bahnt sich an
Warum die Serie anders auch kaum funktionieren würde, zeigt der Dreh, der parallel in der WG stattfindet. Patrick Günther liegt auf dem Bett und macht ein Nickerchen, während seine Kollegen vor der Kamera stehen und zum vierten Mal dieselbe Szene wiederholen. "Fabrizio, konzentrier dich auf das, was Joe sagt. Nicht auf das, was du schon weißt", ermahnt der sogenannte "Realisator" Thomas Kiesbuy Fernando Jose della Vega. Die Darsteller werden mit ihrem Serien-Namen angesprochen, Realität und Fiktion, die Grenzen verwischen auch am Set. Vega hat kurz zuvor einen Blick ins Drehbuch geworfen, in dem nicht die einzelnen Dialoge aufgeführt, sondern lediglich die Szenen beschrieben werden, die zu spielen sind. Steht darin "SBSA", heißt das: Sex bahnt sich an. Wie sie die Szenen umsetzen, bleibt den Darstellern überlassen und deshalb kommt am Ende meistens etwas heraus, das an Improvisationstheater erinnert. Die Darsteller schauspielern nicht, sie verhalten sich - und zwar so, wie es nach ihrer Ansicht eben passend ist für die jeweilige Situation und Rolle. "Alter! Scheiße! Was machst du denn?!", fährt Fabrizio Joe (Lutz Schweigel) an, der zur Tür reinkommt und etwas beichtet, das seiner Freundin Peggy nicht gefallen wird. Die Mitbewohner Alina (Saskia Beecks) und Ole (Falko Ochsenknecht) schauen bedröppelt drein, die Kamera hält drauf. Kurzer Check im Abspielgerät, Kiesbuy ist zufrieden. Nächste Szene.
"Wir verpassen keine Folge", sagt Conny Cauzzi. Auch jetzt, während sie in Berlin seien, laufe abends in der Schweiz ihr Videorekorder. "Mir gefällt die Serie so gut, weil alle so normal sind. Gut, manchmal rege ich mich auch auf, wie man nur so doof sein kann, denn ganz normal sind die dann ja alle doch nicht", sagt Cauzzi, tippt sich mit dem Zeigefinger an den Kopf und muss lachen. "Ich weiß, ist alles nur gespielt, aber man kann sich da so schön reinsteigern." Mücke ist vom Hausboot zurück ins Büro gegangen, Mutter und Tochter wollen weiterziehen. Zur nächsten Sehenswürdigkeit, die Berlin zu bieten hat: Daniel Krauses Tattoostudio im Alexa.
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