"Tatort" aus Dortmund: Wahnsinn mit Methode
Jörg Hartmann begibt sich im Dortmunder „Tatort“ als Kommissar Faber auf eine gefährliche Gratwanderung. Das hat Methode - und steuert auf eine Entscheidung hin. Der Mordfall wird dabei fast zur Nebensache.
Allein für diese Aktion in der Tiefgarage des Dortmunder Polizeipräsidiums hätte Peter Faber (Jörg Hartmann) ein Disziplinarverfahren verdient. Der Kommissar drückt seine Kollegin Martina Bönisch (Anna Schudt) im Auto über die Vordersitze, bis sie schmerzverzerrt das Gesicht verzieht. „Wenn du dich wehrst, tut es umso mehr weh“, sagt Faber mit gepresster Stimme. Dass er ihr nur eine Theorie demonstrieren will, ist für Außenstehende nur schwer zu erkenne, denn Faber geht mit aller Gewalt gegen die Kommissarin vor. Zum Glück für Faber bleibt Bönisch ruhig. „Rein dienstlich“, sagt sie zu zwei uniformierten Polizisten, die sich besorgt dem Fahrzeug genähert haben.
„Jetzt machen Sie mal nicht den Aktennazi“
Jörg Hartmann lotet als Dortmunder Hauptkommissar Peter Faber den schmalen Grat zwischen nachvollziehbarer Verzweiflung über den Unfalltod von Frau und Tochter und dem psychopathischen Wahnsinn eines Amokläufers aus. „Jetzt machen Sie mal nicht den Aktennazi“, herrscht er einen Kollegen an, weil der ihm eine Auskunft verweigert. Dessen Antwort hört man nicht, doch bevor Faber auflegt, schreit er noch ins Telefon „Ja, Sie mich auch“. Seinen ersten Schreibtisch hat Faber bereits zerdeppert, in der neuen Folge „Eine andere Welt“ gewinnt seine zerstörerische Seite zunehmend Überhand. Die herausragende schauspielerische Leistung von Hartmann, aber auch das Drehbuch von Jürgen Werner geben dem Zuschauer jedoch die Chance, Fabers Verhalten nicht nur nachzuvollziehen, sondern zu verstehen. So macht der Kommissar bei einem Besuch der Unfallstelle eine schreckliche Entdeckung, die viele Menschen an ihre Grenzen bringen würde. Für einige seiner Kollegen muss es jedoch so wirken, als ob Faber für sich und andere zur unberechenbaren Gefahr wird. Denn der in ihm aufgebaute Druck braucht immer wieder ein Ventil, damit der Kessel nicht doch explodiert.
Der Wahnsinn im „Tatort“ hat durchaus Methode
Der Wahnsinn im „Tatort“ hat durchaus Methode. Und das bezieht sich nicht nur auf das ungleiche Münsteraner Team mit dem versnobten Rechtsmediziner Boerne (Jan Josef Liefers) und dem mürrischen Kommissar Thiel (Axel Prahl). Devid Striesow als Saarbrücker Ermittler Jens Stellbrink fällt ebenfalls durch permanent irrationales Verhalten auf. Allerdings sind es bei ihm vor allem seine Alleingänge sowie der Hang zur Nonkonformität, die ihm Probleme mit seiner Kollegen und Vorgesetzten bescheren. Das Verhalten seines Rostocker "Polizeiruf"-Kollegen Alexander Buckow (Charly Hübner), der reichlich rüde mit seinen Kollegen umgeht, passt hingegen mehr zu seiner kriminellen Vergangenheit als zu einem korrekten Kommissar.
Eine 16-Jährige wird tot aufgefunden
Bei allem Wahnsinn ist es doch Faber, der in entscheidenden Momenten die Ruhe und den Überblick behält. Seinem Team fehlt allerdings der klare Mittelpunkt, solange Faber nicht mit sich selbst im Klaren ist. Der Großteil der täglichen Verantwortung lastet auf Martina Bönisch. Dass Faber und nicht sie zum Chef gemacht wurde, hat sie offenbar akzeptiert. Sogar seine recht rüden Methoden erträgt sie beinahe stoisch. Vielleicht hat das etwas mit der Mentalität der Menschen und ihrem harten und entbehrungsreichen Leben im Ruhrpott zu tun.
Womit eine direkte Brücke zum Fall geschlagen wäre. Eine 16-Jährige wird tot im Dortmunder Phoenixsee gefunden. An der Stelle, wo jetzt Eigenheime direkt am Wasser stehen, stand einst ein großes Stahlwerk. Die junge Frau Nadine stammt hingegen aus einfachen Verhältnissen. Die Mutter ist vom Leben überfordert, der Vater schlägt sich als Sicherheitsmann durch. Ihr Stiefbruder Marcel nimmt es Nadine übel, dass sie sich neue Freunde in der Dortmunder Schickeria gesucht hat – dort, wo die Dortmunder nun die Bratwurst mit Messer und Gabel essen, wie Kommissarin Bönisch lästert. Statt mit Kleindealern hängt Nadine hier nun mit Richtersöhnen in einer Szenedisko ab. Das gibt Regisseur Andreas Herzog zugleich die Gelegenheit, etwas Dortmunder Lokalkolorit in den Film einzubauen. Das „Century“ – tatsächlich heißt es „View“ – befindet sich ganz oben im Dortmunder U, dem ehemaligen Sitz der Union-Brauerei.
Das Alter des Opfers prädestiniert die beiden jungen Mitglieder des Ermittlerteams für Sondereinsätze. Vor allem die junge Oberkommissarin Nora Dalay (Aylin Tezel), heimlich liiert mit ihrem Kollegen Daniel Kossik (Stefan Konarske), ist nur zu gerne bereit, riskante Herausforderungen anzunehmen. Das verwickelte Beziehungsgeflecht im Dortmunder „Tatort“-Team und die beiden Ermittlergenerationen, die hier aufeinander treffen, sind zugleich eine gute Voraussetzung, damit die Binnenspannung dieses „Tatort“ auch dann noch anhalten kann, wenn sich Fabers Kampf mit dem Wahnsinn entschieden haben wird. Und so wie der Fall jetzt liegt, wird sich dies nicht lange hinauszögern lassen.
Kurt Sagatz