zum Hauptinhalt
Kommunikator. Marcus da Gloria Martins wurde in Hürth geboren. Nach dem Abitur absolvierte er ein Studium an der Polizeihochschule in Münster und arbeitete als Polizist in Köln, ehe er nach München wechselte. Seit 2015 leitet der 43-Jährige die Polizeipressestelle.Foto: dpa
© picture alliance / dpa

Münchens Polizeisprecher da Gloria Martins: "Viele empfinden Freude, wenn sie Angst verbreiten"

Nach dem Amoklauf in München wurde der Polizeisprecher Marcus da Gloria Martins viel für seine Pressearbeit gelobt. Im Interview spricht er über Nutzen und Schaden sozialer Medien im Krisenfall.

Herr da Gloria Martins, warum ist die Polizei München in den sozialen Medien?

Weil die Mehrheit der internetnutzenden deutschen Bevölkerung dort ist. Die Möglichkeit, die wir in diesen Medien als Polizei haben – mitreden zu können – überwiegt das Risiko bei Weitem, das durch falsche Informationen in diesem Bereich besteht. Wenn wir das verpassen, weil wir nicht mit der Zeit gehen, verlieren wir diese Menschen. Die sind bereits all jenen falschen Informationen ausgesetzt, die sie im Internet finden: Wenn wir da kein Korrektiv bilden, dann ist das der erste Eindruck, den sie haben.

Welche Bilanz zieht die Münchener Polizei aus der Amok-Nacht vom 22. Juli 2016?

Wir führen bis heute eine intensive, in diesem Maße noch nie dagewesene Nachbereitung durch. Im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit stellen wir fest: Der Weg, den wir beschritten haben, ist der richtige. Schnell zu sein, sich ansprechbar zu zeigen und auch Widerspruch zu üben; in dem Moment, wo eine Falschinformation umgeht, Kante zu zeigen und auch mal zur Ordnung zu rufen – das ist eine Rolle, die in diesem Moment offensichtlich besetzt werden musste. Es ist sonst keiner da, der das für Sie macht.

Was ist die wichtigste Lektion?

Ich hatte fünf Leute im Social-Media-Team. Ich hätte 20 gebrauchen können. Aber die haben Sie in so einer Situation nicht, denn wenn die Krise kommt, gibt es immer etwas, das nicht passt. Sie sollten klare Regeln haben, nach denen Sie vorgehen. Wenn Sie diese Regeln mit zehn Mann im Social-Media-Team erfüllen können: toll. Aber zur Not sollten Sie auch mit zwei Mann handlungsfähig sein, indem Sie für sich die Frage klären: Welche Mindeststandards kann ich auch mit einer schwachen Besatzung erfüllen?

Müssen die Menschen lernen, mit Twitter und Co. umzugehen?

Ich würde da gerne etwas glattziehen: Ich glaube nicht, dass es die eine zentrale Ursache dafür gab, dass die Gerüchte so komplett außer Rand und Band geraten sind. Es ist ein Ursachenmix, den Sie an drei Aspekten festmachen können. Erstens, an der Nachrichtenlage. Es ist ein neues Phänomen, dass Medien in ihrer Sprache sehr genau sein müssen – auch in der Verwendung des Konjunktivs. Sehr viele Medien haben sich sehr korrekt verhalten: Sie haben versucht, den Spekulationsgrad einer Nachricht in wohlfeile Worte zu packen. Das versteht aber der Nutzer nicht mehr, wenn er in einer Krisensituation so eine Nachricht liest. „Könnte“, „Hätte“, „Eventuell“, überliest er. Und dann wird aus: „Meldungen berichten von Schüssen am Stachus“ im Verständnis „Schüsse am Stachus“. Zweiter Aspekt: Verunsicherung durch Wahrnehmung. Ihre persönliche Wahrnehmung, wenn Sie in der Stadt unterwegs sind und Dinge sehen, die überhaupt nicht zu dem passen, was Sie im Alltag sonst wahrnehmen. Und, der dritte Aspekt, die sozialen Medien: Ich bin überzeugt, dass der überwiegende Teil derer, die heute soziale Medien benutzen, und damit meine ich auch Messaging-Dienste, für dieses Medium noch nicht bereit ist.

Können Sie das erklären?

Soziale Medien ermöglichen uns eine Reichweite, die es so bisher nicht gegeben hat. Sie können Ihre Meinung mittlerweile per Knopfdruck, unreflektiert, von jedem Ort dieser Welt und aus jeder Lebenssituation heraus kommunizieren. In dem Moment, wo diese Meinung zufällig in eine Stimmung trifft, wo sie der Funke ist, ist es so, dass der 08/15-Nutzer mit einer wie auch immer gedeuteten, unglücklich formulierten Nachricht der Patient null einer großen, großen Fehlinformations- und Irritationskette sein kann.

Haben die Informationen, die in den sozialen Medien geteilt wurden, der Polizei gar nichts genutzt?

Natürlich nutzen uns diese Informationen etwas. Aber: Sie tragen auch einen ganz großen Teil dazu bei, dass zunehmend Verunsicherung um sich greift. Nichts ist stärker in seiner Aussagekraft als ein Foto. Und nichts wird übertroffen von der Bildgewalt eines Videos.

Wer teilt solche Informationen via Twitter, Facebook?

Es gibt zwei Nutzergruppen, die so was machen. Die erste Gruppe macht es, weil es offenbar ein Verarbeitungsmechanismus ist. Weil etwas passiert, das keine Alltagssituation ist und wofür wir keine Bewältigungsstrategien haben. Da ist es sehr befreiend, sein Leid, seine Verzweiflung, das Gefühl der Ungewissheit mit anderen teilen zu können – indem man das teilt, was einen in diesen Zustand versetzt hat. Die zweite Gruppe ist die, die Informationen zur Selbstdarstellung und zur Befriedigung persönlicher Motive teilt. Das finden die tatsächlich „cool“. Die erste Gruppe hat mein größtes Verständnis. Aber bei der zweiten Gruppe muss man überlegen, wie man mit ihr umgeht. Denn ihr Verhalten ist moralisch verwerflich. Es ist schamlos.

Die einen sind schamlos, die anderen nicht?

In dem Moment, wo ich auf Teilen oder Weiterleiten drücke, mache ich mich zum Dealer der Angst. Diese Aussage löst bei den beiden Gruppen unterschiedliche Reaktionen aus. Die einen halten kurz inne und sagen „Ja, stimmt“. Die anderen lachen dreckig – denn genau das finden sie gut. Es gibt einfach viele Menschen, die mit sich und ihrem Leben scheinbar nicht so wahnsinnig viel anfangen können – und genau die empfinden Freude, wenn sie Angst verbreiten.

Kann man dagegen etwas unternehmen?

Einfangen können werden wir die nie. Das ist für mich eine traurige Erkenntnis. Aber ich hoffe, dass wir irgendwann eine moralische Sanktionskultur entwickeln, die ein solches Verhalten nicht mehr durch Retweet und Teilen goutiert, sondern dazu führt, dass das Netz sich gegen solche Leute richtet.

Ist Twitter verzichtbar? Könnte man nicht stattdessen alle Menschen einer Stadt mit einer Nachricht auf dem Handy warnen, wie in den USA?

Im angelsächsischen Raum, gerade im amerikanischen Netz, ist diese Warnfunktion im Standard integriert. In Europa nicht. Wir müssen uns mit Warn-Apps von Drittanbietern über Wasser halten, wie Nina oder Katwarn. Die setzen aber voraus, dass Sie ein Smartphone haben. Ein weiterer Nachteil ist, dass Kommunikation, wie sie momentan auf Twitter möglich ist, mit diesen Apps nicht funktioniert. Sie sind eine wertvolle Ergänzung, aber Krisenkommunikation in zwei Richtungen – also Behörde an Nutzer und Nutzer an Behörde – können Sie damit nicht ersetzen. Zudem ist es eine sehr bewusste Entscheidung des Nutzers, so eine Warn-App überhaupt herunterzuladen. Das hat nur ein kleiner Teil unserer Bevölkerung bisher für sich vollzogen. In dem Moment, wo ich das tue, habe ich mich ja gedanklich damit auseinandergesetzt, dass ich in einer Region wohne, wo etwas passieren kann.

Sollten wir uns damit denn mehr auseinandersetzen?

Was ich momentan wahrnehme ist, dass alle scheinbar den Vorhang des Vergessens vor diese Ereignisse ziehen. Auch vor den Umgang mit der Frage, wie man sich in einer Krise verhält. Vor zwei Generationen hatten wir eine Stadtbevölkerung, die das kriegsbedingt genau wusste. Okay, es war Krieg – das ist eine ganz andere Größenordnung. Aber nichtsdestotrotz: Diese Menschen hatten Krisenkompetenzen.

Was kann man sich unter „Krisenkompetenzen“ vorstellen?

Das sind lauter kleine Schlagworte, die zeigen, dass die Menschen sich Gedanken darüber gemacht haben, wie sie in einer Krise über den Tag kommen: Unter welchen Umständen gehe ich nicht vor die Haustür? Habe ich einen Lebensmittelvorrat? Heute haben sich die Vorzeichen geändert: Mit Lebensmittelbevorratung erreichen Sie nichts mehr. Aber Sie sollten sich sehr wohl Gedanken darüber machen, was passiert – mit Ihnen, Ihren Freunden, Ihrer Familie, Ihrem Alltag – wenn die U-Bahn nicht fährt und Sie in einer Stadt stehen, wo plötzlich nur noch Streifenwagen und Krankenfahrzeuge hin und her fahren.

Und das wäre im Detail?

Wo informieren Sie sich? Wohin gehen Sie? Wie erreichen Sie die Menschen, die Ihnen wichtig sind, wenn das Mobilfunknetz spinnt? Das sind Fragen, die sich bisher nur sehr wenige Menschen gestellt haben. Aber da müssen wir hin, diese Fragen müssen wir uns stellen. Nicht, um dauerhaft Angst zu haben. Sondern damit ich ein gewisses Grundgerüst habe, wenn so etwas noch mal passiert. Um eine Schrecksekunde wirklich nur als Schrecksekunde zu empfinden und nicht als komplette Lähmung.

Das Interview führte Anett Selle.

Zur Startseite