Anne Will zur deutschen Russlandpolitik: „Trump und seine Leute würden in Triumphgeheul ausbrechen“
Deutschland muss seine Russlandpolitik ändern, da war man sich bei Anne Will – fast – einig. Was einen Abbruch von Nord Stream 2 betrifft, dagegen weniger.
Das Thema für den Start von Anne Will nach der Sommerpause war gesetzt wie selten zuvor: Zwingt der (russische?) Giftanschlag auf den Regimekritiker Nawalny Deutschland, Europa zu einer Änderung seiner Russlandpolitik?
Um es vorweg zu nehmen: Die Antwort war ein klares Ja mit einem kleinen und einem großen „Aber“.
Der kleine, und geradezu rührend vorhersehbare Zweifel kam von der Linken-Abgeordneten Sevim Dagdalen, die mit einer steilen These die weitgehende Empörung über den doch recht zweifelsfrei von hohen russischen Stellen initiierten Mordanschlag auf Nawalny auszuhebeln suchte: Schließlich seien (was stimmt) auch deutsche, auch andere westliche Geheimdienste im Besitz jenes chemischen Kampfstoffes, der für die mörderische Attacke auf Nawalny verwendet wurde.
Da argumentierte sie immerhin auf der Fährte, die schon ihr prominenter Parteifreund Gregor Gysi gelegt hatte – der hatte davon gesprochen, es könnten ja auch Nord-Stream-2-Gegner gewesen sein, die hinter dem Mordkomplott steckten….
Das große „Aber“ verband sowohl den Christdemokraten Norbert Röttgen, den Vorsitzenden des Auswärtigen Bundestagsausschusses, als auch den Grünen Jürgen Trittin, ebenfalls Mitglied dieses Gremiums, mit Wolfgang Ischinger, dem Vorsitzenden der Münchner Sicherheitskonferenz und deutschen Top-Diplomaten: Diese drei treten dafür ein, die Erdgasleitung Nord Stream 2 zwar zu Ende zu bauen, ihre Inbetriebnahme aber von aktiver russischer Mithilfe bei der Aufklärung des Giftanschlags abhängig zu machen.
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Am deutlichsten sprach Ischinger aus, was ihn, neben der Gefahr für die deutsche Glaubwürdigkeit als zuverlässiger Partner in internationalen Wirtschaftsvereinbarungen, zögern ließ: Bei Trump „und seinen Leuten“ würde ein „Triumphgeheul“ ausbrechen, wenn Nord Stream 2 nicht in Betrieb ginge.
Klarer Gedankenschluss, wenn auch unausgesprochen: Der Deutschland und vor allem seine Kanzlerin geradezu hassende US-Präsident würde den Stopp für die Gasleitung als seinen persönlichen Erfolg in die entscheidende Phase des US-Wahlkampfes einspeisen.
Hinter dem Mordanschlag auf Nawalny kann nur der russische Staat stecken
Was Ischinger, vor allem aber Röttgen, weit mehr antrieb, ist die Erwartung, dass ein solches Stopp-Signal aus dem bislang nur deutschen Leitungsprojekt endlich ein europäisches machen würde. Am Ende solle das eben eine europäische Entscheidung und auch eine europäische Antwort auf eine russische Bedrohung sein.
Denn da waren sich, bis auf Sevim Dagdalen, alle einig: Der Mordanschlag auf Nawalny war nur der jüngste in einer ganzen Kette von Verbrechen gegen russische Oppositionelle, hinter denen auf Grund der eingesetzten kriminellen Methoden nur der russische Staat selbst und seine Geheimdienste stecken konnten.
Der Westen muss die Konfrontation mit Russland annehmen
Dass immer wieder Nervengifte aus solchen Laboren zum Einsatz kämen, die nur von hochspezialisierten Fachleuten im Auftrag eben dieses Staates zusammengebraut werden können, sei der Beleg für eine besonders zynische Überlegung: Jeder solle wissen, dass der Befehl zur Liquidierung von Gegnern immer nur von ganz oben gekommen sein konnte.
Keiner in der Runde macht sich Illusionen über den Erfolg möglicher Pressionen auf Russland. Auch die Russland-Expertin der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Sarah Pagung, hielt eine unabhängige Ermittlung wegen der Kooperationsblockade der russischen Seite für ziemlich aussichtslos.
Aber am Ende zählt wohl, was Wolfgang Ischinger als Richtschnur skizzierte: Hier geht es um eine Konfrontation Russland gegen den Westen. Und die muss der Westen annehmen, da funktioniert die alte Hoffnung auf Annäherung durch Wandel nicht mehr. Oder, wie Röttgen es an anderer Stelle auf eine Kurzformel brachte: Putin versteht hier nur eine Sprache – Geld und Gas.