ARD-Serie "Charité": Therapie auf preußisch für acht Millionen Zuschauer
„Charité“: Die ARD und Sönke Wortmann erzählen vor großem Publikum die Geschichte der Medizin in einer Zeit des Umbruchs.
Starker Auftakt für die sechsteilige ARD-Serie „Charité“: Im Schnitt 8,32 Millionen Zuschauer verfolgten am Dienstagabend von 20 Uhr 15 bis 21 Uhr 50 Uhr die ersten beiden Folgen der historischen Geschichte über die Berliner Traditionsklinik. Der Marktanteil betrug 25,9 Prozent. Die Serie ist im Drei-Kaiser-Jahr 1888 angesiedelt, als berühmte Forscher wie Robert Koch, Rudolf Virchow oder Paul Ehrlich an der Charité tätig sind. Die anschließende Dokumentation „Die Charité“ brachte es ab 21.50 Uhr auch noch auf 6,55 Millionen Zuschauer (23,8 Prozent).
Die Serie will unterhalten - und aufklären
An den Seriendienstagen der nächsten Zeit kommt es zu Orgien in Weiß. Traumblinde Mullwürfe könnten sich freuen. Denn wie schön wäre das denn: ein „Sachsenklinik“-Format auf Retrotour im Ersten. Oberschwester Azu unter einer Diakonissenhaube, Chefarzt Dr. Heilmann mit Rauschebart – und wie heute also auch schon damals: die unermüdbare Hilfsbereitschaft pflegender Edelmenschen. Denkste. „Charité“, die sechsteilige Serie, ist Traumzerstörung. Die MDR-Fernsehfilmchefin Jana Brandt, die hinter der „Sachsenklinik“ ebenso steckt wie hinter dem „Charité“-Projekt, betreibt ein ziemlich geniales Doppelspiel: modern weiterträumen, historisch aufklären.
„Charité“, beim ersten Mal als Doppelfolge, beginnt mit dem Einzug einer Hoffnungslosen in die Klinik. Ida Lenze (Alicia von Rittberg), eine verarmte Arzttochter, quält sich 1888 ins Krankenhaus, dem Tod geweiht, weil ihre Blinddarmentzündung als kaum heilbar gilt. Das Wunder geschieht, Ida wird gesund, der Ex-Stabsarzt und spätere Nobelpreisträger Emil Behring (Matthias Koeberlin) kann sie retten, der Medizinstudent Georg Tischendorf (Maximilian Meyer-Bretschneider) kümmert sich um die schöne Frau. Angehender Arzt, armes Mädchen, das wie Aschenputtel als Hilfspflegerin unter Diakonissenknute dienen muss, bis die Krankenhausrechnung abgearbeitet ist. Na, vielleicht doch: Ruckedigu, Soap ist im Schuh?
Aber Märchenstunde ist nicht, sondern Epochenunterricht vom Fernsehfeinsten. Alles ist drin. Drei spätere Nobelpreisträger, Robert Koch (Justus von Dohnanyi), Emil Behring (Koeberlin), Paul Ehrlich (Christoph Bach), und der Patriarch Rudolf Virchow (Ernst Stötzner). Dazu Forschen und Scheitern, kollegiale Intrigen, Rauschgiftsucht, Krankenschwesternhingabe und Frauenunterdrückung, der erste Schub medizinischer Professionalisierung.
Zusätzlich bekommt es „Charité“ mit Zeitgeist zu tun: mit dem dröhnenden Wilhelminismus und mit Antisemitismus. Das Jahrhundert Nietzsches wird eingeliefert – und siehe da, es ist in mancher Hinsicht so malad wie die Patienten in den armseligen Krankenzimmern. Solche Ansprüche in einem „Medical“ zu erfüllen, setzt Spitzenanstrengungen voraus. Mit Sönke Wortmann als Regisseur, den Drehbuchautorinnen Dorothee Schön und der Medizinjournalistin Sabine Thor-Wiedemann, der Produktionsfirma Ufa Fiction (Nico Hofmann), der Kamera von Holly Fink, dazu Dreharbeiten in Prager Studios gelingt eine überzeugende historische Rekonstruktion. Stoßrichtung: Nichts war früher besser.
Krankenhaus um 1888 ist die Hölle
Krankenhaus, wie es hier um das Jahr 1888 gezeigt wird, ist die Hölle, für viele letzte Station vor dem Ende. Für 20 Patienten gibt es ein Plumpsklo in einem Wandschrank. Die Reichen bleiben im Krankheitsfall lieber zu Hause. Infektionen sind die Feinde der Menschen. Krebs und Kreislauferkrankungen eher selten. Man stirbt jung. 90 Prozent der Charité-Patienten sind keine dreißig. Das Zille-Miljöh wogt durch die Krankenstuben. Einfühlung von Ärzten für Patienten ist Ausnahme. Für sie sind Kranke Objekte. Die mit Haube und Schürze dienenden Pflegerinnen machen die Arbeit. Zu sagen haben sie nichts.
Da stehen sie beim Morgenappell in Zweierreihe: die rangniedrigen Wärterinnen und die nonnenhaften Diakonissen, deren Oberschwester Martha (Ramona Kunze-Libnow) dem Medizinbetrieb theologischen Sinn abzugewinnen versucht. Der Film schüttet keinen Spott über die Frauen aus, sondern macht klar, dass alles Höhere in diesem eigentlich für das Soldatenwohl vom ersten Preußenkönig Friedrich I. gestifteten Haus Männersache ist. Heilen auf preußisch. Frauen müssen putzen, um die neuerdings medizinisch (von Männern) geforderte Hygiene herzustellen.
„Hier hilft der Tod dem Leben“, steht über dem Eingang zu einem der Anatomiegebäude der Charité, berichtet die vorzügliche Dokumentation „Geschichten von Leben und Tod“ von Dagmar Wittmers im Anschluss an die Serien-Doppelfolge. Die Kamera gleitet an endlosen Regalen mit Gläsern voller Leichenteile vorbei. Anders als heute: Tod und Heilen hausen früher enger und unbefangener nebeneinander.
Buch und Regie der Serie berauschen sich nicht an der Erzeugung morbider Schauer. Sie zeigen den medizinischen Fortschritt als beinharten Wettkampf bürgerlicher Aufsteiger. Unterm Mikroskop entdecken Robert Koch (1843–1910), Emil Behring (1854–1917) sowie Paul Ehrlich (1854–1915) die Hauptfeinde der Gesundheit: die Keime von Seuchen wie Tuberkulose, Diphtherie, Wundstarrkrampf, Syphilis. Im Zeitalter von Genie und Wahnsinn hat jeder dieser Pioniere seelische Probleme. Im Mittelpunkt stehen der dem Erfolgsdruck erliegende Robert Koch, den Dohnanyi wunderbar selbstherrlich spielt, und Behring, ein depressionsgeplagter Ex-Militärarzt – ein neurotisches Feuerwerk, das sein Darsteller Koeberlin da abbrennen darf.
Ärzte stehen vor Kaiser Wilhelm II. stramm
Dem aufkommenden Antisemitismus begegnet der Zuschauer in den Szenen bei der Totgeburt des ersten Sohns von Paul Ehrlich, dem jüdischen Entdecker des Blutserums. Die unfähige Hebamme spricht verächtlich von „Judenbalg“, das Kind kommt tot auf die Welt. Die bigotten Christenschwestern arrangieren eine christliche Nottaufe. Die über den Kindstod verzweifelten jüdischen Eltern werden so durch Achtlosigkeit ausgegrenzt.
Das Drei-Kaiser-Jahr, 1888, in dem Friedrich III., die liberale Hoffnung vieler Deutscher, dem Kehlkopfkrebs erliegt und Wilhelm II. seine Herrschaft antritt, trifft „Charité“ mit eindrücklichen Szenen. Ergreifend und voller Würde, wie der liberale Virchow kniend vom offensichtlich moribunden Friedrich III. einen Orden entgegennimmt. Angepasst, wie die Charité Schwerkranke aus dem Blickfeld des zwangsoptimistischen Wilhelm II. bei dessen Besuch des Krankenhauses beiseiteräumen lässt. Die berühmten Ärzte der Zeit stehen stramm und lassen sich wie Rekruten vom jungen, wissenschaftlich ahnungslosen Monarchen in Schlachten um medizinischen Weltruhm für das Deutsche Reich kommandieren.
"Charité", Dienstag, ARD, 20 Uhr 15; "Charité - Geschichten von Leben und Tod", Doku, Dienstag, ARD 21 Uhr 50
Nikolaus von Festenberg