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Nur für starke Nerven. Kommissar Thorsten Lannert (Richy Müller) ermittelt zwischen genervten Autofahrern und genervten Polizisten.
© SWR/Andreas Schäfauer

Stau-Krimi im Ersten: Täter hinterm Lenkrad

Endlich ist er gedreht, der erste „Tatort“, der im Stau spielt. Und er bietet Kammerspiel wie Dampfkochtopf

Da läuft der „Tatort“ bald 50 Jahre im Ersten, und jetzt – erst jetzt!– spielt er im Stau. Für die Stuttgarter Kommissare Thorsten Lannert (Richy Müller) und Sebastian Bootz (Felix Klare) die größtmögliche Herausforderung: In einem bestimmten Stauabschnitt sitzt diejenige Autofahrerin oder derjenige Autofahrer, der auf einer Nebenstraße ein 14-jähriges Mädchen totgefahren oder tot aus dem Wagen geworfen hat. Jetzt muss rasch gefahndet werden, sonst ist der Täter entwischt, denn jeder Stau ist temporär.

Die Kommissare trennen sich: Bootz bleibt beim dreijährigen Jungen, der aus dem Zimmer seines Wohnhauses das Täterauto gesehen haben will. Dreijährige sind unzuverlässige Zeugen, schon bei der Automarke gibt es erste Fragezeichen. Lannerts Befragung ist mindestens ebenso mühsam. Er muss gemeinsam mit unwilligen Streifenpolizisten bei volkszornigen Autofahrern ermitteln. Immerhin gelingt es, eine Gruppe identifizieren, die durch die Wohnstraße mit dem toten Mädchen zum Stau unterwegs war.

Da ist Anwalt Moritz Plettner (Roland Bonjour), der sein Kind aus dem Kindergarten abgeholt hat, dauernd Handy-Nachrichten von seinem Professor bekommt und, wie sich herausstellt, bei der Fahrroute gelogen hatte. Da ist das Ehepaar Breidenbach, dessen Beziehung so gut wie am Ende ist, Gerold (Eckhard Greiner) setzt auf Paartherapie, Marie-Luise (Julia Heinemann) setzt auf Trennung. Bernd Hermann (Jacob Matschenz) hat die arrogante Managerin Ceyda Altunordu (Sanam Afrasteh) im Fond sitzen, er will im doppelten Sinne aussteigen. Die Chefin nimmt seine Kündigung nicht zur Kenntnis, also geht er eine rauchen, trifft Sanitäter Kerem (Deniz Ekinci), bald kiffen die beiden, auch der Sanitäter kam am Tatort (nur?) vorbei, seine Dashcam hatte die Fahrt aufgezeichnet. Fährt da nicht ein schwarzer Wagen vor dem Sani? Die Zahl der Verdächtigen wächst.

Kammerspiel und Dampfkochtopf

Fix wird der Krimi zum Kammerspiel, parallel zum Dampfkochtopf. Bei den Stauinsassen steigt die Temperatur, weil die Polizei der Ermittlung wegen den Verkehr über die eigentliche Stauursache hinaus anhält. Der Krimi ist jetzt auf seinem höchsten Erregungsgrad. Fahnder ratlos, Fahrer rastlos.

Dietrich Brüggemann hat zusammen mit Daniel Bickermann seinen ersten „Tatort“ geschrieben. Ein respektabler Wurf. Mit welcher Souveränität er die Personen findet, erfindet, die als Täter infrage kommen könnten. Warum ist jemand an einer Stelle vorbeigefahren, hat Fahrerflucht begangen? Und Autor Brüggemann hat die feine Idee, jede Figur beim jeweils ersten Bild über einen Popsong näher zu fassen. Autofahren heißt Musikhören, Musikauswahl ist eine Persönlichkeitsfrage.

Kommissar Thorsten Lannert geht von Auto zu Auto, er lernt Biografien kennen, vom Lebensglück und vom Lebensunglück. Beileibe nicht alle sind gescheitert, wirklich nicht, nur steht bei mancher Verlust-und-Gewinn-Rechnung ein Minus. Lannert fahndet, er setzt sich auf Beifahrersitze, die Beichtstühle werden, groß ist sein gefühlslistiges Frageregister. Bootz kommt hinzu, Bootz, der bei Kind und Mutter wie bei den Eltern des toten Mädchens sensibel und einfallsreich vorgegangen ist. Brüggemann/Brickmann lassen die Kommissare in großer menschlicher Tiefe agieren, es ist von hoher Anziehungskraft, ein Ensemble zu erleben, das durchschnittliche Menschen in mehr und mehr überdurchschnittlichen Situationen zeigt. Im Stau liegt ganz viel Wahrheit, in den Aktionen und Reaktionen schießt der Charakter quer, so ein bisschen wird die Botschaft rübergeschoben, dass Menschen, eingeklemmt hinterm Steuer, ihren Wesens- und Überzeugungskern offenlegen. Da müssen keine inszenatorischen Mätzchen her, der Stau in Herz und Hirn ist Triebfeder genug.

Drehort Messehalle

Brüggemann ist auch Regisseur. „Kreuzweg“, „Heil“ und „3 Zimmer, Küche, Bad“, nun also sein „Tatort“-Debüt. Er lässt auf dem Straßenabschnitt – gedreht in einer Messehalle in Freiburg mit 100 Metern gebauter Mauer auf der Bergseite und 80 Metern Bluescreen auf der Talseite – ein spitzmäuliges, humoriges und eindringliches Stück Fernsehen Wirklichkeit werden.

Es sind die Allianzen, die Stellungswechsel, die Täuschungen und Selbsttäuschungen, die den Film tragen. Und das Vermögen von Drehbuch und Regie, die Figuren von innen heraus erzählen zu lassen. Da mögen platte Sätze und Binsen dabei sein, aber im deutschen Stau werden nun mal keine Philosophen geboren. Die Lösung kommt ganz ohne Worte aus. Da dreht sich der zwischen Ernst und Unernst changierende Film ins Drama. Wer jetzt nicht bewegt wird, der sitzt mitten im Gefühlsstau.

„Tatort: Stau“, ARD, am Sonntag um 20 Uhr 15

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